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Donnerstag, 2. August 2012

Vorbilder statt Abziehbilder - 9. Sonntag n. Trinitatis, Reihe IV

Text: Jeremia 1,4-10 (wird im Verlauf der Predigt gelesen)


Brauchen Menschen, brauchen wir Vorbilder? Ich finde, dass sich die Frage nicht so leicht beantworten lässt. In meinem Urlaub vor ein paar Wochen habe ich, passend zu den jetzt stattfindenden olympischen Spielen, zwei interessante Filme gesehen. Der eine berichtete von einem Jungen aus Somalia, dessen Vater vor seinen Augen getötet wurde, als er noch klein war. Als kleines Kind wurde er entführt, als Kindersoldat erlebte er im Grundschulalter unvorstellbare Grausamkeiten. In einem Flüchtlingslager lebte er dann mehrere Jahre als Jugendlicher und wurde schließlich von einer amerikanischen Familie adoptiert. In den USA war er zunächst Außenseiter, aber er lief gern und gut. So gut, dass er vor vier Jahren bei der Eröffnung der olympischen Spiele in Peking die amerikanische Fahne bei der Eröffnungsfeier tragen durfte. Der andere Film berichtete von einer jungen Frau, für deren Figur „dick“ noch eine freundliche Umschreibung war. Aber sie ist unglaublich sportlich, sehr gelenkig, spielt als erste Frau in einer College- Männermannschaft Football, was bei uns in etwa der 2. Fußballbundesliga entspricht, und nimmt für die USA in diesem Jahr als Gewichtheberin an den olympischen Spielen teil. Auf ihre Figur angesprochen, antwortete sie in etwa: „Wenn andere denken, ich wäre deshalb behindert oder blöd, sollen sie erst mal das leisten, was ich kann.“ Ich denke schon, dass die beiden auf ihre unterschiedliche Art Vorbilder sein können. Nicht, weil jeder sportlich sein und an olympischen Spielen teilnehmen muss, sondern weil sie etwas anderes zeigen. Der junge Mann könnte andere inspirieren, die als Kinder ebenfalls sehr Schlimmes erlebt haben, die Hoffnung zu behalten, dass nicht das ganze Leben zerstört sein muss und dass man einen Weg finden kann. Die junge Frau könnte Menschen inspirieren, deren Aussehen ebenfalls nicht den Maßstäben der Werbung, von Filmen und Modeindustrie genügt, jenseits aller Vorurteile und Verurteilungen einen eigenen Weg zu finden.
Wenn Vorbilder dazu inspirieren, eigene Wege zu gehen, dann ist das was Gutes. Wenn Vorbilder aber dazu führen, das Eigene zu vergessen und man nur noch so werden will wie sie, dann werden sie zu Idolen, Götzen, nehmen gefangen, lenken von den eigenen Möglichkeiten ab – und das ist nicht gut.
Wenn jemand aber sagt:“ Ich bin ich, ich brauche keine Vorbilder“ – dann ist das auch nicht unbedingt gut. Denn „Ich bin ich“ ist zwar an sich richtig, kann aber zwei Gefahren haben: einmal die bequeme Variante: „Ich bin halt so, ich kann und will mich nicht ändern und will auch aus meinen Fehlern nicht lernen“. Zum anderen aber auch die Variante: „Ich bin ich, ich interessiere mich nicht für die anderen, ich schau nicht nach rechts und links, zieh mein Ding durch, notfalls mit dem Kopf durch die Wand!“ Rücksichtsloser Egoismus – genauso gefährlich wie totale Bequemlichkeit oder blindes Folgen und Aufgeben der eigenen Persönlichkeit. Inspiration für den eigenen Weg, das ist etwas richtig Gutes. Ziemlich langer Vorspann, ich weiß. Aber ich  möchte heute mit Euch und Ihnen über den Predigttext mal unter der Überschrift „Vorbilder“ nachdenken. Der Predigttext steht im Buch Jeremia im 1. Kapitel und erzählt, wie Jeremia überhaupt Prophet wurde.
Lesen: Jer 1,4-10
Ist Jeremia ein Vorbild für Menschen, die den Glauben an Gott leben? Warum sollten wir uns im Jahr 2012 sonst mit einem Mann beschäftigen, der ungefähr 600 Jahre vor Christus gelebt hat? Jeremia ist einer, der Gottes Wahrheit den Menschen in seinem Land sagt. Und, so erzählt es ja hier der Anfang, er kann sich auch ziemlich sicher sein, dass das, was er sagt, nichts ist, was er sich ausgedacht hat, sondern wirklich von Gott kommt. Gott sucht sich einen Menschen dafür aus, der von sich sagt „Ich bin zu jung!“ Das muss sich nicht unbedingt nur auf das Lebensalter beziehen. Mitgemeint war auch: ich bin nicht besonders gebildet. Ich komme nicht aus einer Familie, die besonders angesehen ist. Ich bin nicht besonders reich und habe wenig Einfluss auf andere. So einen sucht Gott sich aus. Er soll die Wahrheit sagen, die meistens ziemlich unbequem ist.  Ihm wird versprochen, dass Gott wirklich bei ihm ist und dass diese Wahrheit -  und deshalb auch Jeremia - letztlich mächtiger ist als alle Königreiche und Staaten. Jeremia hat die Wahrheit Gottes gesagt, auch die unbequeme. Und er hat erlebt, dass diese Wahrheit ziemlich einsam machen kann, dass ihm nur wenige glaubten und zuhören wollten, dass bis auf wenige Ausnahmen Freunde sich abwandten. Er hat an seinem Auftrag, an der Wahrheit gelitten, aber er hat Gott und die Wahrheit nicht verraten. Was am Ende aus ihm geworden ist, wissen wir nicht. Seine Geschichte endet im Dunkel der Zeit.
Jeremia, ein Vorbild? Ein Vorbild für Christen in Marburg 2012?
Vielleicht sehen manche in ihm ein Vorbild in der Art, dass sie sagen: So will ich auch sein. So wie Jeremia immer das sagen, was Gott sagt, immer die Wahrheit Gottes sagen, auch wenn ich Nachteile in Kauf nehmen muss. Als Pfarrer, als Prediger, als Jugendarbeiter, als Erzieherin, als Mutter oder Großvater.  So wie Jeremia auch unbequeme Wahrheiten sagen, auf der richtigen Seite stehen, auch wenn das manchmal heißt: für die Wahrheit Gottes leiden zu müssen.
Aber ich glaube nicht, dass Jeremia in dieser Hinsicht als Vorbild taugt. Nicht, weil es heutzutage falsch wäre, die Wahrheit Gottes zu sagen, sondern weil der Weg falsch ist, zu sagen: Ich will ein Jeremia für unsere Zeit werden. Jeremia hat sich das nicht ausgesucht. Wenn ich etwas an dieser Geschichte wirklich vorbildlich finde, ist es vor allem, dass Jeremia bereit ist, seiner Berufung zu folgen, sich auf den Weg zu machen, der Mensch zu werden, als den Gott ihn geschaffen hat. Jeremia geht mit Gottes Hilfe den Weg zu Gott und dadurch auch den Weg zu sich selbst. Aber, und das finde ich an diesem Buch insgesamt so gut, nicht so, dass da gesagt wird: das ist ein einfacher und gerader Weg, sondern immer wieder ein Weg mit Reibungen und Auseinandersetzungen, auch Reibungen und Auseinandersetzungen mit Gott. Und Jeremia sitzt am Ende nicht satt und zufrieden und perfekt mit großer Enkelschar im Haus am See, sondern der Weg bricht ab. Trotz aller Brüche das Leben, den Weg, auf den Gott uns weist, zu gehen und auch dann anzunehmen, wenn es nicht perfekt ist und wird, sondern auch auszuhalten, dass Leben ein Fragment bleibt, unvollendet, das ist für mich die vorbildliche Inspiration von Jeremia. Der Weg, den Gott Jeremia gegeben hat, ist nicht mein Weg. Auch als Prediger gehe ich einen anderen Weg. Und der Weg, den Daniel geht, ist ein eigner, er kann und muss nicht Jeremia und auch nicht wie Jeremia werden. Und Frau Schmidts Weg ist anders als der von Milli und beide sind anders als die von Jeremia. Sich berufen zu lassen, Berufung zu leben – das ist für mich ein vorbildlicher Gesichtspunkt an der Geschichte von Jeremia. Berufung heißt nicht, irgendeine merkwürdige Stimme zu hören, sondern damit zu rechnen, dass Gott für mich längst Wege kennt, die ich vielleicht noch nicht entdeckt habe oder die ich mir gar nicht zutraue. Berufung heißt, sich zu trauen, der Mensch zu werden, der ich bin und nicht, der Mensch zu bleiben, von dem ich glaube, dass ich er sein sollte. Wenn ich sage: Ich bin ich, ich brauch mich nicht zu ändern, dann bleibe ich stehen. Gott inspiriert Menschen nicht immer so, wie er das bei Jeremia getan hat. Das war Gottes Weg mit Jeremia. Er kann auch durch die Begegnung mit anderen inspirieren, die mir Anregungen geben, neue Wege auszuprobieren, die mir etwas zutrauen. Er kann vor allem auch im Gebet inspirieren und Wege zeigen. Dazu muss ich mich auch mal trauen, ruhig zu werden, hinzuhören und nicht meine vorgefasste Meinung, meine Vorurteile, auch die positiven, über mich, mein Leben und das, was für mich und andere gut sein sollte, nach hinten zu stellen. Als letztes heißt das für mich, auch bestätigt durch das Vorbild von Jeremia, nicht darauf zu warten, dass das Leben auf dieser Welt perfekt wird. Leben mit Gott heißt oft genug auch: die Brüche und Abbrüche auszuhalten und in dem, was manchmal nur als unfertige Bauruine Leben erscheint, ein Stück von dem Großen zu sehen, das Gott bereit hält. Ich muss mein Leben nicht vollkommen perfekt machen, auch wenn ich noch so sehr mit Gott lebe. Gott wird es zum Guten bringen. Noch so eine Inspiration.
Also noch einmal: Brauchen Menschen Vorbilder? Ja, als Inspiration für ein eigenes Leben, einen eigenen Weg, den Gott angelegt hat. Nein als Abziehbild, das vorgaukelt, ein anderes statt das eigene Leben, eine fremde Berufung statt der eigenen zu leben. Ohne in diesem Sinn inspirierende Vorbilder wäre das Leben doch arm, wenn ich letztlich nur mich selber hätte und nicht nach rechts und links, oben und unten schauen würde.
Amen

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