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Mittwoch, 31. Dezember 2008

Der Ausputzer? - Neujahr 2009, ökumenischer Gottesdienst

Gesamttext: Lukas 18,18-27, Jahreslosung: Lk 18,27: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.

Liebe Schwestern und Brüder!

Einer der schönsten evangelischen Bräuche ist es, meiner Meinung nach, jeden neuen Lebensabschnitt unter ein Wort aus der Bibel zu stellen. Taufe, Konfirmation, Trauung - und schließlich auch der Abschied aus diesem Leben bei der Beerdigung. Nichts geschieht ohne einen Begleitung durch Gottes Wort. Und in manchen Gesprächen habe ich es schon erlebt, dass Menschen diese Worte, die Ihnen auf Ihren Lebensweg mitgegeben wurden, wichtig geworden sind. Die drei Bibelworte, die dadurch Teil meines Lebens geworden sind, sind mir auch bis heute liebe Begleiter. Und so finde ich es auch eigentlich schön, jedes neue Jahr unter ein Bibelwort zu stellen. Am Anfang eines Jahres sich zu vergewissern, dass Gott auch im neuen Jahr dabei sein wird, dass in allem, was an Wechselfällen und Unvorhersehbaren kommen mag, ein guter Begleiter da ist: Gottes lebendiges Wort der Liebe. Man kann schlechter ins neue Jahr starten. Aber als ich hörte, was als Wegbegleiter für das Jahr 2009 vorgesehen ist, war ich doch erstmal unzufrieden: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich, ein Wort Jesu aus dem Lukasevangelium. So ein einlullender Ausputzerspruch, habe ich mir erstmal gedacht. Was du, Mensch nicht schaffst, schafft Gott für dich. Klar sind das schöne Aussichten für ein neues Jahr. Was bei den Menschen unmöglich ist… - da fällt mir, leider, zuallererst ein: Frieden zu halten. Die Gewalttätigkeit im Heiligen Land, Gott sei es geklagt, wieder und wieder. Die nicht enden wollenden Konflikte in Afghanistan und im Irak, im Kongo, in Dafur, in manchen Teilen der ehemaligen Sowjetunion, latent auch immer noch im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Tibet. Der Zorn auf die Nachbarin, die nie die Hausordnung erledigt. die jungen Russlanddeutschen, die saufen und krakeelen, die Männer, die Frauen und Kinder schlagen. Die Angst vieler älterer Menschen, bei Dunkelheit vor die Tür zu gehen. Frieden sieht anders aus. Wir haben unsere Feindbilder. Nur ein kleiner Teil junger Russlanddeutscher säuft und krakeelt, die überwältigende Mehrheit der Muslime hat, wie die Mehrheit der Juden, der Christen und auch der Atheisten, ein großes Interesse an einem friedlichen Miteinander und ist weit von Terror entfernt. Aber wir verallgemeinern, grenzen ab, manchmal habe ich den Eindruck, wir können Frieden nicht ertragen. Was wir Menschen nicht können, das soll dann der Liebe Gott richten. Oder Gerechtigkeit: Weder der Kapitalismus noch der Sozialismus haben den Menschen annähernd gerechte wirtschaftliche Verhältnisse gebracht. Und weit weniger als Eignung und Begabung entscheiden auch in Deutschland die richtige Herkunft und die richtigen Beziehungen über Bildungsmöglichkeiten und die Möglichkeit, ein gutes Einkommen zu erwirtschaften. Im weltweiten Maßstab gar ist Gerechtigkeit in den Handelsbeziehungen zwischen den Staaten weiter weg denn je. Exporte von Milchpulver aus Europa nach Afrika helfen zwar unseren Landwirten, ein halbwegs stabiles Einkommen zu erzielen, sorgen aber gleichzeitig dafür, dass Landwirte in Kenia um ihre Existenz gebracht werden, weil sie zu diesem Preis keine Milch liefern können. Was bei den Menschen unmöglich ist, - in Frieden miteinander zu leben, Gerechtigkeit walten zu lassen - das ist bei Gott möglich. Der liebe Gott wird’s irgendwann schon richten - ein beruhigender Jahresanfang wäre das. Wir können so weitermachen wie immer, wir können ja doch nichts ändern. Natürlich steckt auch Trost in einem „Es wird schon werden“, wenn wir es gerade am Jahresanfang hören. Und natürlich will ich das auch nicht klein reden, wenn es wirklich um ganz persönliche Fragen geht. Um die Angst vor einer schweren Krankheit, die da ist, um die Sorge um eine Beziehung, die zu scheitern droht, um die Angst davor, dass die Kinder gerade dabei sind, einen Weg zu nehmen, der augenscheinlich nicht zum Guten führt. Natürlich tut es da hoffentlich gut zu hören: Da, wo du, Mensch, am Ende bist, wo du wirklich überfordert bist, da bin ich, Gott, noch längst nicht fertig mit dir, da helfe ich dir, Wege zu finden. Diesen Trost dürfen wir natürlich mithören. Aber nicht als Beruhigungspille, die Gott zum Ausputzer degradiert und uns Menschen in mehr oder weniger frommen Gedanken ein ansonsten mehr oder weniger gedankenloses Leben leben lässt. Dazu ist es tatsächlich hilfreich, finde ich, das ganze Evangelium zu hören. Denn da macht Jesus ganz unmissverständlich deutlich, auf welcher Seite Gott zu finden ist. Auf Seiten der Armen. Jetzt wäre es natürlich leicht, sich gerade in Zeiten einer großen Unsicherheit an den Finanzmärkten sich zu empören über Fehlverhalten von Bänkern, überzogene Managergehälter, den beliebten Satz: „Die da oben kriegen im Zweifel den goldenen Handschlag und wir armen kleinen Leuten müssen es ausbaden“ zu wiederholen und sich gut zu fühlen und zu wissen: Gott ist auf meiner Seite. Aber im weltweiten Vergleich sind wir alle, auch und gerade die Christen des Mittelstands, unglaublich reich. Und das auf den ersten Blick Gemeine an dem Evangelium ist ja, dass der reiche Mann sehr wohl ein guter Mensch war, der sich an Gottes Gebote hielt und vermutlich auch denen, die ärmer waren, abgegeben hat. Und trotzdem bekommt er kein Lob von Jesus, sondern den Satz „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt“. Unbequeme Aussichten. Denn Jesus stellt uns mit dem reichen jungen Mann ganz radikal die Frage: „Bist du bereit, das, worauf du deine Sicherheit gründest, loszulassen?“ Bist du bereit, dich ganz auf Gott zu verlassen - und nicht trotz allem, was du an Gutem tust, am Ende doch auf die Sicherheiten, dein Geld, deinen Reichtum, das was du dir selbst schaffen kannst und geschaffen hast? Ich hätte mir gern die Frage zum Jahresanfang erspart. Weil ich genau weiß, dass ich wie der reiche Jüngling traurig davon gehe. Ich kenne mich gut genug. So weit alles loslassen? Beunruhigend. Auch für unsere Kirche - und ich rede hier bewusst in der Einzahl, denn Jesus wollte keine Konfessionen, sondern es ging ihm um die EINE Gemeinschaft der Menschen, die darauf vertrauen, dass Gott in ihm lebendig geworden ist, um die, mit unseren Worten, EINE, weltweite Kirche, die sich, Gott sei es geklagt, immer noch in Spaltungen wieder findet. Auch für unsere Kirche ist es notwendig, immer wieder zu fragen: gründen wir uns nur unseren Worten nach im Vertrauen auf Gott allein oder lieben wir nicht unsere selbstgemachten Sicherheiten viel mehr? Wer loslässt, wer Sicherheit aufgibt, gewinnt - alles andere als ein modischer Slogan, alles andere als ein bequemer Weg. Gott lässt sich nicht kaufen - nicht mit guten Taten, nicht mit Geld. Gott ist da, wo der Mensch ganz schutzlos ist. Aber er weiß, dass wir nicht fähig sind, das wirklich auszuhalten. Deshalb die Zusage unserer Jahreslosung: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Da, wo wir zweifeln und verzweifeln, da, wo wir feststellen müssen: so gut, wie wir dachten, sind wir, ist unser Leben nicht, da kann er allein neues entstehen lassen. Neue Wege zum Leben. Wenn wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. Ich finde nach wie vor, dass es ein guter Brauch ist, jeden Abschnitt des eigenen Lebens, jedes neue Jahr unter Gottes Wort zu stellen. Und mittlerweile finde ich auch, dass gerade die Jahreslosung 2009 eine gute Überschrift über ein neues Jahr ist. Weil sie nicht vertrösten und einlullen will und bequem ist, sondern weil sie aufrüttelt, Mut zum Loslassen geben will und Mut, sich auch unbequemen Anfragen Gottes zu stellen. Gebe Gott, dass unser Vertrauen und unser mut 2009 wachsen. Gebe Gott, dass wir dann, wenn es nötig ist, den Trost seiner Worte hören können, dass wir aber auch unsere Ohren nicht verschließen, wenn er uns anfragt.

Amen.

Morgen früh... - Silvester 2008

Text: Hebräer 13,8+9 (Reihe VI)

Liebe Gemeinde!

Was ändert sich eigentlich morgen früh? „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt!“ Das wünsche ich uns allen. Für den 1. und 2. und 3. Januar 2009. Für den 30., 31. Dezember 2009. Für den 1. Januar 2010. Die Schwester meines Großvaters hat mir dieses Lied beigebracht, ich muss so etwa 4 oder 5 Jahre alt gewesen sein. Von Anfang an hat mich dieses Lied sehr berührt. Es ist nicht die Entscheidung meiner Mama oder meines Papas oder meiner Oma, ob ich morgen wieder wach werde. Es kann sein, dass Gott genau das nicht will. Es mag sich merkwürdig anhören, manche denken vielleicht auch, dass ich das jetzt erfunden habe, aber mir hat das keine Angst gemacht. Als Kind hab ich mir gedacht: Wenn Gott mich nicht wach werden lassen will, dann wird er was anderes Schönes mit mir machen. Gott hat mich seitdem viele tausend Mal wach werden lassen. Dafür bin ich dankbar. Und ich hoffe, dass er mich und vor allem die Menschen, die ich liebe, auch noch sehr, sehr oft wach werden lässt. Aber das Gefühl, das nichts selbstverständlich und nichts wirklich vorhersehbar und planbar ist, hat mich nicht losgelassen. Auch als meine Oma mir als ich etwas älter war, vielleicht so 10, den guten Rat mitgab, nie zornig über jemanden ins Bett zu gehen. Zu traurige, zu düstere Gedanken an der Schwelle zu einem neuen Jahr, beim Abschied von einem alten Jahr? Ich weiß nicht, dass mag jede und jeder selbst beurteilen. Mir geben sie allerdings Gelassenheit. Vor uns liegt ein neues Jahr. Noch ist kein Blatt des Kalenders herumgedreht oder abgerissen. Aber leer und unbeschrieben ist das Jahr schon jetzt, wenige Stunden, bevor es überhaupt beginnt, nicht. Wir denken an Geburtstage oder andere Feste, die anstehen. An Urlaube und Reisen oder auch an anstehende Operationen oder ärztliche Behandlungen. Wir denken an Prüfungen oder wichtige Termine, an so vieles, was uns ungeheuer wichtig ist. An schöne Dinge und an Dinge, vor denen wir uns fürchten. Aber letztlich haben wir davon nichts wirklich in der Hand. Es ist schön und gut, Pläne zu machen. Ich selber bin eigentlich auch so ein Pläne machen und Vorfreude Typ. Aber: „Morgen früh, wenn GOTT will, wirst du wieder geweckt“. Uns bleibt eigentlich nichts anderes, als unsere Zukunft, unsere Pläne, unsere Wünsche und unsere Befürchtungen in Gottes Hand zu legen. Klar, wir können und dürfen eine Menge tun und vorbereiten. Wir brauchen und dürfen nicht aufgeben. Sicher ist unsere Zukunft aber nicht. Dafür ist sie gewiss. Davon erzählen auch die beiden Verse des heutigen Predigttextes. „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehre umtreiben, denn es ist ein köstlich ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“ (Hebr 13,8+9) Wir können uns darauf verlassen, dass Gottes Liebe uns hält. Dass Gott seinen guten Willen, den er in Jesus Christus Gestalt hat werden lassen, nicht ändert, sondern dass dieser Wille bleibt. Der Wille, uns Menschen Frieden und Gerechtigkeit zu bringen. Der Wille, uns Menschen zur Umkehr zu bewegen. Der Wille, Versöhnung in Liebe zu stiften. Ein festes Herz ist dabei etwas ganz anderes als ein hartes Herz. Ein hartes Herz ist ein Herz aus Stein, das zur Liebe nicht fähig ist. Das nur sich selbst wahrnimmt. Hart geworden vielleicht auch durch die Erfahrung, von anderen enttäuscht und hintergangen zu werden, durch die Erfahrung, dass nur dann etwas zu erwarten ist, wenn andere Menschen ausgestochen werden. Im Rückblick auf das zu Ende gehende Jahr ist es, Gott sei es geklagt, sehr leicht, viele Beispiele für Hartherzigkeit zu finden. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ist auch deshalb entstanden, weil Menschen nur ihren eigenen Profit im Blick hatten und arme Menschen gnadenlos über den Tisch zogen. Das Politchaos in Hessen hat auch damit zu tun, dass Politiker und Parteien aus wahltaktischen Gründen nicht in der Lage waren, über ihren eigenen Schatten zu springen. Und ich gebe auch nur ungern zu, dass ich manchmal sehr genervt auf Menschen reagiert habe, die mich während irgendwelcher Vorbereitungen störten und Geld von mir an der Haustür wollten. Hartherzigkeit ist kein Phänomen, das nur Bänker und Politiker befallen konnte. Hartherzig ist auch so manches Urteil von mir oder vielen anderen, wenn mal wieder „die Banken“, „die Wirtschaft“, „die Politik“ verantwortlich gemacht wird und der eigene Egoismus, das eigene Versagen, die eigene Ratlosigkeit einfach weggeblendet wird. Hart wird ein Herz leicht dann, wenn es nicht fest sein kann. Hört sich merkwürdig an. Aber wenn ich glaube, mich nur auf mich selbst verlassen zu können, wenn mein Herz unruhig ist, weil ich alles planen, machen, im Griff haben will, dann verkrampfe ich. Es ist wie beim Sport. Bei einem Krampf macht der Muskel zu, nichts geht mehr. Ein fester Muskel ist dagegen ein gut trainierter Muskel, der auch bei Belastungen nicht zu macht, sondern beweglich bleibt. Das gilt im übertragenen Sinn auch für das feste Herz. Ein festes Herz ist beweglich, kann sich der Welt und anderen öffnen, weil es vertrauen und sich anvertrauen kann, weil es sich gehalten und geliebt wissen kann. Es ist, wie der Hebräerbrief schreibt, ein Gnade, dieses Herz zu haben. Eine Gnade, zuallererst Gott und seiner Liebe vertrauen zu können, weil Jesus Christus unabhängig vom Kalenderjahr und vor unserer Zeit und nach unserer Zeit für die unverbrüchliche Liebe und Zuwendung Gottes steht. Es gibt, und das wird auch beim Rückblick auf ein zu Ende gehendes Jahr wieder deutlich, manches, was es schwer macht, Vertrauen, Hoffnung und Liebe zu spüren, Gottes Gegenwart zu erfahren. Geplatzte Träume, Sorgen wegen Krankheit, und leider oft auch der Tod lieber Menschen, der nicht immer als Erlösung kam, sondern manchmal auch vor der Zeit. Und der, selbst wenn er als Erlösung erfahren werden konnte, doch einen leeren Platz im Leben hinterlässt. Es bleiben aber auch die anderen Erfahrungen. Die guten und gelungenen Begegnungen. Wunschkinder, die gesund geboren wurden. Liebe, die erfahren und geteilt wurde. Neue, wahrgenommene Chancen. Und, wenn wir ehrlich sind, werden wir in einem Jahr etwas ähnliches sagen können. Wir dürfen und müssen altes und Vergangenes loslassen. Wir dürfen neues erwarten. Wir müssen vielleicht auch neues befürchten. Aber wird dürfen gewiss sein: in all dem wird sich eins nicht ändern. Dass unsere Zeit Gottes Zeit ist. Von ihm begleitet und gehalten. Dass er seine Liebe zu uns nicht ändert. Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Das bleibt. Und deshalb können wir hoffentlich getrost in das, wie ich finde, gar nicht so kindliche, Lied zumindest gedanklich einstimmen: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Und dann wird Er dir auch die Kraft geben, diesen Tag zu leben. Gebe Gott uns die Kraft, Vergangenes loszulassen, neues zu erwarten, Vertrauen zu haben in das Gute, dass er für uns will.

Amen

Dienstag, 23. Dezember 2008

Nicht nur für Praktiker - 2. Weihnachtstag 2008

Text: Joh 1,1-5.9-14
Liebe Gemeinde!

Theorie und Praxis sind oft genug zwei verschiedene Paar Schuhe. In der Theorie weiß ich, wie und warum ein Auto funktioniert, aber praktisch eins reparieren oder bauen - das kann ich nicht! In der Theorie sind viele Dinge, die sich Ingenieure oder Architekten ausdenken wunderbar, wenn’s aber an die Umsetzung in die Praxis geht - fragen sie mal gestandene Maurer oder Schlosser, was sie von den theoretisch tollen Gedanken im praktischen Normalfall halten. In der Theorie ist das mit der Nächstenliebe ja eine gute Idee - aber in der Praxis hat Jürgen das nicht verdient, weil er sein ganzes Geld versäuft, Thomas auch nicht, weil er immer anfängt, die anderen zu ärgern, Frau Müller nicht, weil sie nie die Hausordnung macht und überhaupt - man muss ja schließlich sehen, wo man bleibt. Theoretisch ist es ja ganz nett, an Gott zu glauben - aber praktisch ist die Welt doch viel zu schlecht, um den Glauben an Gott zu rechtfertigen!

Theorie und Praxis - zwei Dinge, die irgendwie nicht recht zusammenpassen? Es wäre schade, wenn es so sein und bleiben müsste. Wörtlich übersetzt heißt Theorie nichts anderes als „Schau“ - anschauen, überlegen, untersuchen, betrachten. Zeit nehmen, Verbindungen erkennen, einen Überblick gewinnen, Zusammenhänge sehen - an Theorie ist nichts Schlechtes. Und vielleicht haben sie ja gerade in diesen Weihnachtstagen Theorie betrieben - einfach mal geschaut. Gestaunt, wie Gottes Liebe Wirklichkeit wird. Verbindungen gefunden, wo überall Gottes Liebe ist, obwohl es oft ganz anders aussieht. Zeit gehabt zum Nachdenken - ohne Hetze und ohne das Gefühl, immer nur für andere irgendwas machen zu müssen. Theorie kann gut tun. Und dann, wenn sie gut tut, ruft sie auch nach Praxis. Weihnachten will gefeiert werden. Liebe gibt sich nicht mit Gedanken zufrieden, sondern sucht den Menschen, dem sie geschenkt werden kann. Theorie und Praxis, Schauen, erkennen, betrachten und handeln gehören zusammen. Gerade wenn es darum geht, wie Gott in diese Welt kommt, wie er hier in dieser Welt erlebt werden kann.

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. So haben wir es eben gehört. Gottes Wort - sein Schöpfungswille, seine Liebe, das drängt nach, Fleisch zu werden - sichtbar, erfahrbar, spürbar mitten im Leben. Weihnachten ist das Fest, das Theorie und Praxis miteinander verbindet. Gottes Wort wird fassbar, im wahrsten Sinn des Wortes greifbar. Im Leben des Menschen Jesus, in dem, was er tat in ganz praktischen, tatsächlichen Handlungen zeigt sich Gott. Aber warum sind dann nicht alle Menschen, die Jesus begegnet sind, ihm nachgefolgt? Warum haben dann so viele in dem, was er getan und gelassen hat, nicht Gott an Werk gesehen sondern, im Gegenteil, in ihm einen Gotteslästerer gesehen? Warum sind heute noch Menschen so ablehnend oder desinteressiert, wenn es um den christlichen Glauben geht, obwohl Weihnachten weltweit doch zu den beliebtesten Festen gehört? Es ist schon irgendwie merkwürdig, dass Menschen das Fest der Geburt Jesu feiern, von diesem Jesus aber nichts wissen wollen.

Ich glaube, dass auf uns Menschen, Christen wie Nichtchristen, Gläubige anderer Religion und solche, die den Gedanken an einen Gott total ablehnen, oft genug das zutrifft, was im Johannesevangelium so ausgedrückt wird: und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. Wir wollen nicht wirklich schauen und sehen, dass Theorie und Praxis seit Jesus und durch ihn sich gegenseitig brauchen und zusammengehören. Die einen bleiben gern nur in der Praxis. Wozu Theorie? Ich glaube nur, was ich sehe, was ich kenne. Nur das, was sichtbar und greifbar ist, ist wichtig. Und da sehe ich, schon wenn ich bei Jesus selbst anfange, oft wenig Greifbares. Ich muss sehen, dass die einzelnen Bücher der Bibel seine Worte unterschiedlich wiedergeben. Ich muss sehen, dass keiner weiß, wann er nun wirklich geboren wurde. Es gibt keine Geburtsurkunde des Standesamts Bethlehem, in der die Nacht vom 24. auf den 25.12. im Jahre 0 vermerkt wäre. Im Gegenteil. Das Geburtsjahr Jesu muss vermutlich so zwischen 7 und 4 v. Chr. liegen, Tag und Monat lassen sich überhaupt nicht bestimmen. Ich muss sehen, dass es alles andere als eine große Mehrheit war, die sich von ihm hat begeistern lassen. Und vor allem muss ich sehen, dass schon sehr bald Streit darüber einsetzte, wie das, was Jesus gesagt und getan hat, richtig auszulegen sei. Dass im Namen Jesu, der Mensch gewordenen Liebe Gottes, Kriege geführt wurden, grausame Verfolgungen stattfanden und bis heute die Christen untereinander uneins sind. Diese Praxis ist Finster und macht es schwer, in der Finsternis das Licht zu sehen. Es gibt auch die andere, die fromme Praxis, die nichts hinterfragt, die nichts betrachten will, sondern die einfach sagt: nachdenken lohnt sich nicht, brauche ich nicht, Hauptsache ich bete und lobpreise, dann ist schon alles gut. Oder die, die in Jesus einen fortschrittlichen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sehen, ohne dass mehr dahinter stecken könnte.

Das Licht in der Finsternis sehen und ergreifen, das können wir nur, wenn wir das, was wir vor uns sehen, immer wieder mit dem in Verbindung bringen, was uns als Wort der Liebe längst gegeben ist. Wenn wir uns Zeit nehmen, die Praxis, die Handlungen nicht nur für sich zu sehen, sondern sie im Licht der Liebe, des guten Willens Gottes zu betrachten und kritisch zu hinterfragen. Wer in Gottes Namen Krieg führt, wer in Gottes Namen meint, sich über andere erheben zu können, der bleibt in der Finsternis, weil er das Licht der Liebe nicht in sein Leben hineinlässt. Gott ist Mensch geworden - auch und gerade für die Zweifler, auch und gerade für die, die Schuld auf sich geladen haben, auch und gerade für die, die ihre Schwierigkeiten mit dem haben, was von Menschen als Gottes Wille ausgegeben wurde. Und immer noch wird. Gott will, dass Menschen die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit ist, dass wir auf Gnade und Liebe angewiesen sind und dass niemand diese Gnade und Liebe exklusiv für sich pachten kann, sondern dass Gottes Wort der Liebe für alle Menschen Fleisch geworden ist, dass Gottes guter Wille allen Menschen gilt. Dass wir Geschwister sind. Wie das bei Geschwistern auch manchmal so ist, sicher nicht immer frei von Neid und Streit, aber doch gleich wichtig, gleichwertig, zusammengehörig. Dass wir gemeinsam Erben dessen sind, was Gott durch das Weihnachtsgeschehen, die Menschwerdung seiner Liebe, bezeugt hat: Versöhnung, Vergebung, Gnade, die uns geschenkte Gerechtigkeit, trotz aller Fehler und aller Schuld geliebte Kinder zu sein.

Theorie und Praxis, Wort und Fleisch nicht voneinander zu trennen heißt auch, dass ich den Mut habe, mich nicht mit dem zufrieden zu geben, was ich sehe, sondern dass ich das Vertrauen finde, in dem, was ist, mehr zu sehen. Auch in dem Guten. Dass ich in Jesus nicht nur einen vorbildlichen Freiheitskämpfer oder guten Seelsorger sehen kann, sondern Gottes Liebe. Dass ich dort, wo Menschen heute einander Gutes tun, das Vertrauen habe, Gottes Liebe am Werk zu sehen. Das Wort ward Fleisch - Gottes Liebe drängt danach, ins Leben zu kommen und erfahrbar zu werden. Weihnachten drängt danach, Alltag zu werden. Natürlich wird es da, wo wir Menschen am Werk sind, wo wir Liebe schenken und weitergeben, nie vollkommen zugehen. Wir werden immer einander Liebe und Gutes schuldig bleiben. Aber in allem, wo wir lieben, ist ein Funke des Lichtes da, dass die Finsternis hell macht. des Lichtes, von dem das Evangelium erzählt.

Glauben braucht beides - Theorie und Praxis. Die Fähigkeit, hinter die Dinge zu sehen, Zusammenhänge zu erkennen und den mut, Richtiges zu tun. Die Zeit, einfach nur staunend betrachten zu dürfen - und den Alltag. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. Noch ist nicht zu Ende gekommen, was Gott mit diesem Einbruch ins Leben, mit diesem Aufbruch zum Leben in Gang gesetzt hat. Noch ist der Alltag alles andere als herrlich, noch ist die Praxis unseres Handelns oft genug mehrdeutig. Aber ein Anfang ist von Gott gemacht. Ein Anfang, der Vertrauen wecken will und Mut zum Schauen macht. Zum Schauen auf die Hoffnung, dass das, was durch das Wort der Liebe im Menschen Jesus begonnen wurde, von Gott zu einem guten Ende gebracht wird und dass wir uns in unserem Schauen und Handeln, in unserer Liebe, trotz aller Vorläufigkeit und aller Begrenztheit davon anstecken lassen dürfen.

Amen.

Endlich mal Hirte sein - 1. Weihnachtstag 2008


Text: Lukas 2,15-20

Liebe Gemeinde!

Ich wäre so gern mal ein Hirte gewesen! Nicht in Wirklichkeit, aber beim Krippenspiel in meinem Heimatdorf als ich noch ein Kind war. Ich war Kaiser Augustus und hab die Welt in Bewegung gesetzt. Ich war der fiese Herodes, ich war mal einer der drei Könige. Und als Josef musste ich meine schwangere Maria trösten und motivieren und mir Absagen bei den bösen Wirten, von denen ich vorher auch mal einer war, abholen. Als Hirte hätte ich dastehen können, hätte nichts oder nicht viel sagen müssen, wäre einfach mit den anderen zur Krippe gegangen, hätte mich hingekniet und das wäre es gewesen! In den Krippenspielen sind die Hirten bis heute oft die, die gebraucht werden, damit das Bild irgendwie stimmt. Vielleicht dürfen ein paar Hirten ihre Furcht vor den Engeln äußern oder der alte Oberhirte die anderen zum Mitgehen in den Stall auffordern. Aber die Helden sind die anderen. Eigentlich ungerecht. Denn die Hirten sind so etwas wie die wahren Helden der Weihnacht. Sie sind die Ersten, die die Weihnachtsbotschaft ernst nehmen: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Euch. Sie hatten das Vertrauen, wirklich gemeint zu sein. Sie haben die spektakuläre Himmelsshow der Engel, von der das Lukasevangelium erzählt, als das genommen, als dass sie gemeint war: als Einladung. Sie haben sie nicht kaputtgeredet und kaputtdiskutiert, sich nicht in Gesprächen darüber verloren, wie wahrscheinlich das alles ist und ob es nicht doch eine Sinnestäuschung sein könnte und so weiter. Sie haben sie nicht als das Wesentliche genommen, sich nicht vom Spektakulären einfangen lassen, sondern sind einfach losgegangen. Und haben in etwas ganz und gar Irdischem, in einem neugeborenen Kind, die Verbindung von Himmel und Erde sehen können, von Gottes großer Welt und dem manchmal ziemlich kleinen eigenen Leben. Gott meint mich - und das zeigt er mir hier! Hinter den großen, spektakulären Kulissen, im scheinbar einfachen Alltag. Und weil sie genau da innehalten können, weil sie hinschauen, vertrauen, entdecken sie viel mehr als eigentlich vor Augen ist. Der Alltag wird verwandelt, wird zum Fest. Durch das Hingehen und Hinschauen, durch das Annehmen und Weitersagen. Euch! Uns! Mir! Als Kind wollte ich Hirte sein, weil ich einfach nicht im Vordergrund stehen wollte, mitlaufen wollte, zu faul, längere Texte zu lernen. Heute hoffe ich, Hirte zu werden, vielleicht Hirte zu sein. Denn das Verhalten der Hirten zeigt, was Glauben, was Weihnachten eigentlich ausmacht.

Da ist einmal das Vertrauen. Das Vertrauen, dass der Weg, auf den ich geschickt werde, ein Ziel hat. Das Vertrauen, dass es sich lohnt, nicht bei dem zu bleiben, was ich kenne. Das Vertrauen, dass ich mich aus meinem Alltag, aus meiner Arbeit herausreißen lassen kann, ohne dass die ganze Welt gleich einstürzt. Vertrauen fällt oft schwer. Weil es immer ein Vorschuss ist - ohne Rückzahlungsgarantie. Im Vertrauen steckt immer auch das Moment der Unsicherheit. Es gibt keine Garantie - gerade im Glauben an Gott nicht. Es gibt keine Garantie, dass ich glücklicher werde, erfolgreicher, dass ich am Ende das sehe und erlebe, was ich mir erhoffe und vorstelle. Gerade das Letzte nicht. Ich glaube, alle, die an Gott glauben, werden sich wundern, wie Gott unsere menschlichen Vorstellungen über den Haufen wirft. So, wie er es durch Jesus ja auch getan hat. Aber ich glaube, dass es sich lohnt, dermaßen ent-täuscht zu werden, dass wir wirklich unsere Täuschungen und Selbsttäuschungen loswerden und das wahre Leben sehen. So wie die Hirten.

Euch! Uns! Mir! Ist heute der Heiland geboren! Können und wollen wir das heute, 2000 Jahre später noch hören? Brauchen wir jemanden, der unser Leben heil macht? Jemanden, der uns aus unguten Beziehungen, aus Verstrickungen erlöst? Ist „ja“ die Antwort auf diese Fragen oder schwanken wir zwischen „Ist doch alles in Ordnung, danke, brauche ich nicht!“ und „Mir kann ja doch keiner helfen!“? Und auch wenn ich diese Frage mit „Ja“ beantworte - vom wem erwarte ich Erlösung? Erwarte ich alles von mir selbst? Von meiner Vernunft? Von der Vernunft von Wissenschaftlern, die schon herausfinden werden, was gut und richtig ist? Von meinem Mann oder meiner Frau, meinen Freunden? Oder kann ich Gott vertrauen, dass er mir den geschickt hat, der mein Leben heil macht? Menschen können einander viel tun. Auch viel Gutes. Und ich kann mir auch viel Gutes tun. Ohne Frage. Aber wir Menschen können einander nicht zu 100% gerecht werden. Beim besten Willen nicht und auch zu Weihnachten nicht. Wir bleiben einander immer ein Stück fremd - und auch uns selbst. „Gott wird Mensch, dir, Mensch, zu Gute“. So haben wir es eben gesungen. Weihnachten geht es um uns. Um uns Menschen mit unseren Nöten und Freuden. Und darum, dass Gott in unser Leben kommt. Mitten hinein.

Und um das zu sehen, lohnt es sich auch wirklich, wie die Hirten zu werden. Da ist der Glanz, die manchmal Furcht einflössende Festlichkeit und das, was sich dem Verstand entzieht. Bei den Hirten die Engel, die die Botschaft vom Kind in der Krippe im wahrsten Sinn des Wortes zum Leuchten bringen. Und vielleicht sind ja heute für manchen die Lichter, die angezündet werden, die Beleuchtungen in den Straßen und Häusern ein wenn auch schwacher Abglanz der Engel. Die festlichen Bräuche, die sich auf unterschiedliche Art rund um dieses Fest gesponnen haben. Ich will das gar nicht schlecht machen. Wenn etwas ein solcher Aufwand, ein solcher Glanz verliehen wird, dann wird auch ausgedrückt, dass etwas ganz Besonderes dahinter steckt. Und manchmal braucht es, in all der Hektik und manchmal auch Armseligkeit oder Traurigkeit des Alltags ein wenig Glanz, um einem das Herz aufzuschließen. Aber die entscheidenden Schritte kommen dann. Die Hirten machen sich auf und suchen das Wesentliche, das, was hinter dem Glanz ist, worauf die Show hinweist. In dem kleinen Kind, am Rand der Welt geboren, entdecken sie den, der ihr Leben verändert und hell macht. Sie nehmen sich Zeit, schauen hin, staunen. Auf besonders eindrückliche Art hat das vor über 360 Jahren Rembrandt gemalt. Selbst der, der nicht direkt an der Krippe steht, bekommt noch etwas von dem Licht ab, das von diesem Kind ausgeht. Aber das wichtige ist an diesem Bild ist auch, dass man den Eindruck hat, bei aller Ruhe, das es nur eine Momentaufnahme ist. Der Anfang einer Geschichte ist gemacht. Die Hirten nehmen sich Zeit, sehen, staunen, lassen sich im wahrsten Sinn erleuchten - aber sie werden nicht bleiben, sie werden weitergehen. Und das Kind wird nicht Kind bleiben. Weihnachten geht es nicht darum, sich an dem Kind festzuhalten und es auf das Kindsein festzulegen, sondern darum, ins Leben aufzubrechen. Ruhe und Kraft zu finden, um gestärkt ins Leben zu gehen. Aus dem Kind in der Krippe wird der Mann Jesus, der sich bewusst den Menschen am Rand, den Bedürftigen, denen, die unter der Last ihres Lebens, unter ihrer Schuld, unter Krankheit und Armut leiden, zuwendet. Der Mann Jesus, der zur Umkehr von falschen Wegen ruft. Und aus dem Mann Jesus wird der Christus am Kreuz. Gott, der so weit Mensch wird, dass er auch den Tod auf sich nimmt. Und der dabei nicht stehen bleibt. Unseretwegen. Weihnachten, das Fest der Geburt, ist der Anfang. Die Hirten bleiben nicht, sie gehen in ihr Leben, in die Welt zurück und erzählen von dem, was ihr Leben hell gemacht hat. Ob sie Glauben gefunden haben? Zumindest bei einer haben die Worte der Hirten etwas angerichtet. „Maria behielt diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“, so heißt es in der Übersetzung. In der griechischen Sprache, in der diese Geschichte ursprünglich aufgeschrieben wurde, heißt es wörtlich: „sie warf die Worte zusammen“. Das ist das Gegenteil von dem, was das Gegengöttliche, Gottes Widersacher, tut. „Durcheinanderwerfer“ heißt er im Griechischen. Der, der verwirrt und so den Blick auf den Sinn verstellt. Hier, bei Maria und den Hirten, ergibt sich Sinn, wird Wahrheit erkennbar., Dadurch, dass Menschen von ihrem Glauben erzählen, von dem, was sie bewegt, was ihnen aufgeschlossen wurde, schließt sich Sinn auch für andere auf. Und so wünsche ich uns allen, dass Weihnachten uns zu Hirten werden lässt. Dass wir Zeit finden, hinzuschauen. Dass wir uns nicht vom Festglanz blenden lassen, sondern hinter den Glanz schauen. Dass wir dort, im Kleinen und Unscheinbaren, die Nähe Gottes finden, die Leben verändert und hell macht. Dass wir nicht den schönen Augenblick festhalten wollen, sondern das Vertrauen haben, dass die Begegnung mit der guten Botschaft Gottes, mit seiner Liebe auch im Alltag trägt. Und dass wir davon nicht schweigen, sondern wie die Hirten in unserem Alltag erzählen.

Amen.

Montag, 22. Dezember 2008

Männer am Rand und Kinder der Liebe - Christmette 2008


Mt 1,18-25

Liebe Gemeinde!

Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein, Gott, der wird dein Lohner sein im Himmelreich der Jungfrau Sohn Maria. / Gerne, liebe Maria mein, helf ich dir wiegen dein Kindelein, Gott, der wird mein Lohner sein im Himmelreich der Jungfrau Sohn Maria.“

„Das ist doch mal wieder typisch“ würde er vielleicht denken, unser Josef, wenn er dieses Lied hätte hören müssen. „IHR Kind. Und was ist mit mir? Als ob ich nicht dazugehöre, ein Babysitter, mehr nicht! Als er erwachsen war, da hatten mich die Menschen noch nicht vergessen. Sohn des Zimmermanns, so haben sie ihn genannt. Ich war für ihn da. Habe ihn in dem, was ich konnte, ausgebildet. Ich wusste, dass er eines Tages seinen, Gottes Weg geht und nicht in meine Fußstapfen tritt. Und trotzdem war und blieb er immer mein Sohn. Der Sohn des Zimmermanns. Natürlich war er auch ihr Kind. Marien Sohn. Er war unser Kind. Doch dann haben mich die Menschen nach und nach vergessen. Sie schmückten seine Geburt immer mehr aus. Sie sangen von ihr, sie malten sie. Und wenn ich überhaupt noch vorkam, dann stand ich immer ein bisschen am Rand. Sie ließen mich alt aussehen. Da die junge wunderschöne Mutter. Und hier der Greis, der nicht der Vater, sondern der Opa sein könnte. Damit ja niemand auf die Idee käme, dass wir uns geliebt hätten. Maria und ich. Ich als Opa für’s Praktische! Dabei haben wir uns geliebt, Maria und ich. Er war, ist und bleibt unser Kind! Ein Kind der Liebe!“

Könnten das die Gedanken von Josef sein? Fragen können wir ihn nicht. Aber ich finde, dass es sich lohnt, Weihnachten nicht nur von Maria, den Hirten, dem Stall, den Engeln und dem Jesuskind her zu sehen. Matthäus blendet in seinem Evangelium das ganze Drumherum der Geburt zunächst aus. Mich hat das als 5-jährigen Knirps so irritiert, dass ich am Heiligabend in unserer vollbesetzten Dorfkirche aufstand und unserem damaligen Pfarrer ein protestierendes „Das stimmt so nicht“ entgegen rief, weil er mal nicht die Weihnachtsgeschichte nach Lukas vorgelesen hatte, sondern die nüchterne Schilderung von Matthäus und mich so meiner geliebten Engel und Hirten beraubte. Josef steht im Mittelpunkt - eine ganz normale Geburt. Das irritiert. Und lenkt vielleicht den Blick doch ein bisschen mehr als sonst darauf, dass es von Anfang an um Beziehungen geht, wenn Gott in diese Welt kommt, wenn er sich im Menschen Jesus erfahrbar macht. „Er war, ist und bleibt unser Kind! Ein Kind der Liebe!“ Ich glaube tatsächlich, dass Josef diese Sätze sagen könnte und dass Maria ihm wohl zugestimmt hätte.

Die Beziehung zu einem Kind hängt nicht in erster Linie von den Umständen der Zeugung oder der Geburt ab, egal wie natürlich oder übernatürlich-wunderbar sie gewesen sein mögen. Denn jedes Kind will und muss adoptiert werden. „Vater werden ist nicht schwer - Vater sein dagegen sehr“. Eines der wahrsten Sprichwörter. Im Blick auf jedes Kind, auch auf Josefs und Marias Kind Jesus. Zeugung ist die eine Sache. Viel wichtiger und schwerer ist es allerdings, das Kind als Teil des eigenen Lebens anzunehmen, hinzu zu erwählen, das Kind Teil des eigenen Lebens sein zu lassen. Nichts anderes bedeutet Adoption ja. Sich kümmern, sich sorgen, helfen - und dann, wenn es soweit ist, auch den eigenen Weg gehen lassen, so schwer das auch oft genug fällt. Auch Müttern ist das nicht automatisch mitgegeben. Eines der großen Tabuthemen sind Kindbettdepressionen. Viel verbreiteter als man denkt, die Schwierigkeit von Müttern, ihre Kinder anzunehmen. Und doch wird es vorausgesetzt. Dabei hatte selbst Maria ihre Zweifel und brauchte etwas, bis sie dem Kind, das sie erwartete, zustimmen konnte. Davon erzählt Lukas in der Geschichte, in der der Engel Maria die Geburt Jesu verkündigt.

Aber zurück zu unserem Josef. Gott hilft ihm, die Bibel erzählt: durch einen Traum, seine Vaterschaft anzunehmen. „Du wirst es schaffen. Du wirst dieses Kind als dein eigenes annehmen können und du wirst diesem Kind helfen können, der zu werden, der er ist: Retter, Erlöser der Menschen.“ So sagt es ihm im Traum der Engel. Und Josef vertraut und nimmt die Herausforderung an. Er ist es, der dem Kind, wie damals als Vater üblich, den Namen gibt: Jesus - Gott hilft! „Jesus ist unser Kind“ - Josef kann das mit jedem Recht sagen. Und auch: „Er ist ein Kind der Liebe!“ Als Josef wegen Marias Schwangerschaft verwirrt ist, geht es ihm nicht um seinen eigenen Ruf oder seine Zweifel. Maria soll nicht in Schanden gebracht werden. Er liebt sie, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob das wirklich auf Gegenseitigkeit beruht. Das Vertrauen in die Botschaft, die Gott ihm zukommen lässt, lässt ihn auch zu seiner Liebe stehen, lässt die Liebe stark werden. Stärker als alle Zweifel und Ängste, die manchmal auch zur Liebe dazugehören. Gerade zu Weihnachten finde ich diesen Gesichtspunkt wichtig. Jesus als Mensch gewordene Liebe Gottes ist von Anfang an eng mit der Liebe zwischen Menschen verschränkt. Gottes Liebe zu den Menschen ist keine Liebe, die einfach so über Zweifel und Fragen hinweggehen würde. Sie überwindet diese nicht durch Verschweigen oder Plattmachen, sondern durch Vertrauen, Zuwendung, durch Zeit, die Liebe zum Wachsen braucht. Gott wird Mensch und gibt den Menschen Zeit und Gelegenheit, menschlich sein zu dürfen.

Josef zeigt von Anfang an, dass Gott Menschen nicht zwingen will oder an den Menschen vorbei irgendwie als Alien auf die Erde plumpst, sondern dass die Botschaft „Gott wird Mensch“ von Anfang an für den Menschen gedacht ist und den Menschen menschlich werden und sein lässt. „Er ist unser Kind“ - weil Josef dies sagen konnte, weil Josef und Maria der Mensch werdenden Liebe Gottes Raum gegeben haben, weil sie „unser Kind“ nicht als Besitz verstanden, sondern dieses Kind zum Menschen Jesus, zum Christus am Kreuz haben werden lassen, weil sie auch ihre eigenen Vorstellungen und Ängste von dem, was dieses Kind werden und machen und sein sollte, sein lassen konnten und ihm den Raum gegeben haben, dass zu werden was es ist, können auch wir mit Recht sagen: „Es ist unser Kind“. Gott ist auch für uns Mensch geworden, damit wir Liebe und Versöhnung erfahren, damit wir Vertrauen in die Liebe finden können, damit wir wachsen können - auf die Liebe hin. Gott setzt auf Beziehungen. Von Anfang an. Nicht auf blinden Gehorsam. So, wie wir es bei Josef erfahren dürfen. Gott lässt uns Menschen, Gott lässt Josef nicht alt aussehen - auch wenn er oft so dargestellt wird. Und Josef vielleicht zu Recht damit unzufrieden wäre. Ob er das auch mit dem Bild wäre, dass ich ihnen in dieser Nacht mitgeben möchte? Auch da hat er graue Haare und einen grauen Bart, aber sein Gesicht wirkt lebendig, lustig, liebenswert. Es ist ein Ausschnitt aus einem über 600 Jahre alten Altarbild in der Wildunger Stadtkirche, gemalt von Conrad von Soest. Eines der wenigen Bilder mit Josef im Vordergrund. Die Umstände der Geburt, klassisch dargestellt, treten ganz nach hinten. Wichtig sind die drei vorne. Maria, das Kind und Josef. Josef, der das Feuer anbläst. Josef, der den Schritt von Weihnachten in den Alltag geht. Josef, der erkennt, dass zum Alltag der Mensch gewordenen Liebe Gottes eben auch das Essen und Wachsen gehört. Josef, der Verantwortung übernimmt, damit das geschieht.

Gott wird Mensch. Ganz und gar. Mit Haut und Haaren. Und er sucht und findet Menschen, die diese Botschaft, die diese Liebe ins Leben lassen. In ihr eigenes und dadurch auch ins Leben von anderen. Gott ist mitten im Leben. Gott findet die Menschen. Mitten im Leben. Manchen noch, bevor sie ihn richtig gesucht haben. So wie Josef. Gott findet Menschen. In Liebe und durch die Liebe.
Und so drückt sich der Sinn von Weihnachten für mich nicht nur in dem Bild von Conrad von Soest aus, sondern auch in der folgenden Betrachtung zu diesem Fest und zur Menschwerdung Gottes:

Gott fährt in die Knochen
geht unter die Haut
wird Mensch

unter unauffälligen und schrillen
musterfamilien und beziehungschaoten
heiligen und teufeln
asketen und huren
bankiers und müllmännern

herzlich fröhlichen und abgrundtief traurigen
glaubenden und zweiflern
leg dein licht an wie ein kleid
such dich durch die nacht
du wirst gefunden

Du wirst gefunden! Ja, das ist Weihnachten. Du wirst gefunden. Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft…

Wurzeln im Leben - Christvesper 18 Uhr

Lk 2,1-14 i.V. mit „Wurzel Jesse“ von Marc Chagall,

Liebe Gemeinde!

Was wäre Weihnachten ohne die Familie? Kinder, die eigentlich längst ihre eigenen Wege gehen, kommen zurück zu den Eltern, Bräuche, die auf die Groß- oder Urgroßeltern zurückgehen, werden wiederbelebt. Andere Traditionen bilden sich neu, aber auch sie werden dann von den Kindern und Enkeln sicher weitergegeben. Weihnachten ist DAS Fest der Familie. Das hat sehr viele gute Seiten. Es ist schön, wenn Menschen, die füreinander wichtig sind und sonst verstreut leben, sich sammeln, miteinander feiern, Zeit haben und so ihre gemeinsamen Wurzeln pflegen. Weihnachten ist DAS Fest der Familie. Das kann sehr schön sein. Und manchmal auch sehr schwer. Wenn die Familie nicht mehr da ist. Weil man als einziger nach vielen Lebensjahrzehnten übrig geblieben ist. Oder wenn die Familie auseinander gebrochen ist und eben nicht heile Welt gefeiert werden kann. Oder wenn jemand fehlt, weil er krank, weit weg oder berufstätig ist. Oder wenn die Ahnung da ist, dass es schief gehen wird, dass wieder Streit und Unzufriedenheit da sein werden. Ob wir es genießen oder einfach nur hinnehmen oder drunter leiden oder versuchen, es zu ignorieren: Weihnachten führt uns an unsere Wurzeln zurück. Zumindest in Gedanken. Und das ist kein Zufall. Schon Josef wird, wie wir es im Evangelium eben gehört haben, an seine Wurzeln zurückgeführt. Nicht ganz freiwillig, sondern auf Befehl des römischen Kaisers macht er sich aus seiner Heimatstadt Nazareth auf nach Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, wie es die Bibel erzählt. Und dann, als Josef mit Maria bei seinen Wurzeln angekommen ist, am Heimatort seines großen Vorfahren, beginnt etwas zu wachsen, das die Welt von Grund auf verändert. Ohne Wurzeln kann nichts wachsen. Auch das, was von Gott an Weihnachten in Gang gesetzt wird, hat und braucht Wurzeln. Deshalb habe ich ihnen und euch heute Abend als kleines Geschenk ein Weihnachtsbild mitgebracht, das die Wurzel schon im Titel führt. Ein Bild, „Wurzel Jesse“ heißt es. Es ist von Marc Chagall und der untere Teil des Christusfensters der Züricher Fraumünsterkirche. Ein ungewöhnliches Weihnachtsbild. Keine Hirten, kein Stall, keine Krippe, weder Kaspar noch Melchior noch Balthasar sind zu sehen. Und das soll Weihnachten sein? Ja. Es führt an die Wurzel. Zu dem, was unbedingt wichtig ist. Zu dem Punkt, aus dem heraus dann Neues, Anderes, Mehr wachsen kann. „Wurzel Jesse“ heißt dieses Bild, weil es die prophetischen Worte Jesajas, die wir auch eben gehört haben, aufnimmt. Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Isai ist der Vater von König David. Aus dieser Familie wird der kommen, der den Menschen Gerechtigkeit bringt. Der gerechte Herrscher, der Gott und Menschen versöhnt. So war es der Glaube im Volk Israel - so ist der Glaube unserer jüdischen Schwestern und Brüder, zu denen auch der Künstler Marc Chagall gehörte, bis heute. Jesus hat Wurzeln. Das macht die Weihnachtsgeschichte, das macht dieses Bild deutlich. Gott lässt ihn nicht wie einen Außerirdischen einfach so in die Welt plumpsen. Gott hat eine Geschichte mit den Menschen. Mit seinem Volk Israel, mit unseren Brüdern und Schwestern jüdischen Glaubens. Gott hat sein Volk immer wieder begleitet. Trotz aller menschlichen Schwäche, trotz aller menschlichen Schuld und allem Versagen hat Gott seinen Bund, seine Beziehung zu den Menschen nicht abbrechen lassen. In dem Bild erinnern die Farben des Regenbogens an diese Geschichte Gottes mit den Menschen. Nicht die Vernichtung wie in der Sintflut, sondern Bewahrung, Begleitung und auf den richtigen Weg bringen sind seine Zusagen. Gott hat sich im Leben eingewurzelt. Und aus dieser Wurzel wächst ein neuer, ein kraftvoller Zweig, der weiter geht und stärker ist als alles bisher da gewesene. Ich finde es schön, dass uns dieses Weihnachtsbild an die Wurzel der Liebe Gottes, die in Jesus Gestalt gewonnen hat, erinnert. Ich finde es schön, dass dieses Bild das, was an Weihnachten geschieht, nicht ausmalt, sondern auf das Wesentliche reduziert. Hier treffen sich wieder die biblische Botschaft und unsere Weihnachtsfeier im Jahr 2008. Im Nachdenken über die Frage: „Was ist eigentlich das Wesentliche, die Wurzel, die Halt und Leben gibt?“ Im Blick auf das, was Weihnachten geschieht, ist es die Einsicht, dass Gott die Welt nicht sich selbst überlässt, sondern den Menschen in Beziehung zu sich gesetzt hat. Und dass diese Beziehung auf Liebe beruht. Auf Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung, Vergebung. Wesentlich an Weihnachten ist, dass diese Kernbotschaft ins Leben kommt. In einem Menschen, in Jesus, kommt Gott in dieses Leben. Josef, der Vater, steht dabei für die Wurzeln in der Geschichte Gottes mit seinen Menschen. Maria, die Mutter, für das Neue, Überraschende, Unfassbare. Und der Stall am Rand von Bethlehem dafür, dass Gott eben nicht hoch und fern bleibt, nicht der normalen Lebenswelt entzogen ist, sondern dass er im einfachen, normalen Leben erfahrbar sein will. Das Entscheidende ist aber, dass diese Botschaft nicht einfach so stehen bleibt, sondern dass dieser neue Zweig aus der Wurzel der Liebe Gottes zu den Menschen wächst. Und da kommen in der Weihnachtsgeschichte die Hirten und die Engel, die auf dem Weihnachtsbild hier nicht zu sehen sind, ins Spiel. Sie machen die Botschaft, die von diesem Geschehen ausgeht, bekannt. Und die Hirten nehmen diese Botschaft an und tragen sie weiter. Diese Liebe bleibt nicht beschränkt auf ein auserwähltes Volk, sondern sie wurzelt sich tief in der Welt ein, wächst in Jesus über die Grenzen von Familien, Völkern, Ländern hinaus. Weihnachten von der Wurzel her zu sehen und zu verstehen - ich finde das sehr wichtig und sehr tröstlich.

Wenn ein Baum, ein Zweig aus einer Wurzel heraus wächst, neu austreibt, dann wachsen auch manche Äste, die dürr werden. Mir geht es dann manchmal so, dass ich dann, wenn ich den Baum ansehe, zuallererst die dürren Zweige sehe - und dabei gar nicht richtig wahrnehme, wie viel Kraft und Leben noch aus der Wurzel kommt. Vielleicht ist es ja auch im Leben, gerade zu Weihnachten und mit der Weihnachtsbotschaft, manchmal ähnlich. Da sehe ich, gerade zu Weihnachten, vielleicht zuerst das, was dürr ist, was wenig Glauben an die Liebe, was wenig Gefühl von Geborgenheit aufkommen lässt. Vielleicht die gescheiterte Beziehung. Oder den Verlust eines lieben Menschen. Vielleicht das Getrenntsein von Menschen, die mir viel bedeuten. Krankheit, die Sorge bereitet. Angst davor, arbeitslos zu werden oder die Erfahrung, dass das Geld zum Leben kaum reicht. Oder die Erfahrung, dass manches, das früher als Festtradition gestimmt hat, plötzlich irgendwie fremd und unpassend wirkt. Weihnachten kann und will das alles nicht ungeschehen machen. Auch für den, der im Glauben verwurzelt ist, auch für den, der Heilig Abend in die Kirche geht, wird nicht alles schön perfekt. Weihnachten erinnert uns daran, dass Gott gerade in diese unvollkommene Welt kommt, nicht in eine unmenschliche Perfektion. Gerade da, wo es auf den ersten Blick eher provisorisch und hart zugeht, lässt Gott sich finden. Die Wurzel hat genug Kraft, den Zweig wachsen zu lassen - und er wächst trotz aller dürren Ästchen. Tröstlich kann das vielleicht sein, weil es die Hoffnung wach hält, dass Gottes Mensch gewordene Liebe auch da ist, wo ich im Moment nur Dürre sehe.

Weihnachten von der Wurzel her zu sehen - dazu gehört manchmal auch der Mut, Überflüssiges zu kappen. Äste, Blattwerk, die der Wurzel Kraft zu rauben drohen. Weihnachten lebt auch davon, dass das, was Gott in die Welt gesetzt hat, wachsen kann. Es muss nicht immer alles immer gleich sein und gleich bleiben. Gott wird Mensch - aus dem Kind in der Krippe wird der Mensch Jesus, der sich an die Seite derer gestellt hat, die Hilfe brauchten, die wenig angesehen waren. Dieser Mann endete am Kreuz - und aus dem Zeichen der Niederlage wurde ein Zeichen des Lebens. Nicht Gewalt, nicht Unrecht, nicht das Beharren auf alter Stärke bringen neues Leben. Sondern dort, wo Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Versöhnung spürbar werden, wächst Gottes Liebe weiter. Manches sieht schön aus, hört sich gut an, wirkt auf den ersten Blick anziehend - und führt doch nur weg vom Leben und macht Leben schwer.

Was ist das Wesentliche an Weihnachten? Für mich die Einladung, die Verwurzelung dieser Liebe Gottes, die allem Volk Freiheit, Gerechtigkeit und Versöhnung schenken will, im eigenen Leben zu finden. Und diese Wurzeln von Gestrüpp zu befreien, so dass ich auch in meinem Leben und durch mein Leben wie die Hirten in der Weihnachtsgeschichte beides erleben kann: Stärkung zu erfahren, Ruhe zu finden, wo es nötig ist auch Trost - und dann hinaus in die Welt zu gehen um Bote der Menschenfreundlichkeit Gottes zu sein.

Amen

Schon im Bild? Christvesper mit Krippenspiel 2008

Vorher jede Menge Fotos machen

Liebe Gemeinde!

Vielleicht haben eben manche gedacht: Warum läuft denn der Pfarrer so aufgeregt rum und macht dauernd Fotos? Ich habe einen guten Grund! Damit ich in Zukunft in der Schule oder in Konfer nicht mehr drüber reden muss, was Weihnachten eigentlich ist, damit ich auch nächstes Jahr keine Predigten mehr zu Weihnachten machen muss, will ich ein Bild haben, das das perfekte Weihnachtsbild ist. Das häng ich dann einfach in, alle sehen es und verstehen gleich: Ja, das ist Weihnachten. Prima! Aber ich hab eine Schwierigkeit: Was soll drauf auf das perfekte Weihnachtsbild? Das Krippenspiel eben? Keine schlechte Idee! Da sind irgendwie alle dabei gewesen, die dazugehören: die Engel und die Hirten, die heiligen drei Könige, die Wirte und natürlich Maria und Josef, auch wenn’s aus Mangel an Jungs, die mitspielen wollten, eigentlich eine Josefine war. Aber so ohne Text, einfach auf dem Bild - vielleicht versteht man das ja gar nicht! Vielleicht sollte ich lieber ein Bild vom Weihnachtsbaum machen! Der gehört doch dazu. Aber so richtig das perfekte Bild ist das auch nicht. Was ist mit den Leuten, die keinen haben oder in Ländern wohnen, in denen es keine gibt? Die verstehen das ja dann nicht. Dann vielleicht doch lieber Bilder von Geschenken! Aber die gibt’s ja auch zum Geburtstag, zur Hochzeit, zu vielen anderen Gelegenheiten. Vielleicht könnte man am Papier erkennen, dass es Weihnachten ist, aber perfekt wäre das nicht, man müsste doch viel zu genau hinschauen! Vielleicht sollte ich ja ein Bild von der Kirche machen! Weihnachten ist ja schließlich ein kirchliches Fest! Aber für viele Menschen ist es ganz unnormal, sogar störend, Weihnachten in die Kirche zu gehen. Die Bescherung, das Kochen, das Essen - da stört so ein Gottesdienst nur. Mit hin- und Rückweg ist das über eine Stunde Zeit, die fehlt! Man kann es nicht jedem Recht machen! Sollte ich doch vielleicht aufhören, das perfekte Weihnachtsbild zu suchen? Mmh! Vielleicht gibt es das ja doch irgendwie. die Engel im Himmel wollten Jesus einmal eine Freude zum Geburtstag machen. Sie wollten ihm das perfekte Bild schenken, das genau zu seiner Geburt passt. Sie haben die berühmtesten Bilder, die je gemalt wurden, von alten und neuen Meistern, von Rembrandt und Picasso zusammengeholt. Viele Millionen Euro waren die wert. Weil sie sich nicht einigen konnten, welches das Schönste ist, sollte Jesus sich einfach eins aussuchen. Sie bauten eine Ausstellung auf, Jesus kam und die Engel überlegten schon, ob er lieber einen Rembrandt oder doch etwas Modernes nehmen würde. Jesus ging an allen Bildern vorbei, nichts schien ihm so richtig zu gefallen. Auf einmal strahlten seine Augen. Der Oberengel war entsetzt! Zwischen all die schönen Bilder hatte ein vorwitziger Nachwuchsengel das Bild eines behinderten Jungen gehängt. Der Oberengel wollte es schnell noch abhängen. Aber Jesus nahm es und sagte: Das ist es! Ein Mensch, der nicht perfekt ist! Deshalb bin ich geboren. Deshalb ist Weihnachten!

Das perfekte Weihnachtsbild - ich glaube, ich lasse es. Das gibt’s nicht. Weil’s keine perfekten Menschen gibt. Gott ist in die Welt gekommen, Jesus wurde geboren, weil wir Menschen nicht perfekt sind. Weil wir ihn brauchen. Damit wir merken: Wir müssen nicht perfekt sein, damit Gott uns liebt. Gott will uns und er leibt uns. Und mit uns auch die, mit denen wir uns schwer tun und mit denen wir es schwer haben. Gott leibt diese Welt. DIESE Welt, nicht eine perfekte Traumwelt. Deshalb gibt es kein perfektes Weihnachtsbild? Oder doch? Was ist denn, wenn ich ein Bild von Julia mache? Und eins von Felix? Und eins von Herrn A.? Und eins von Frau K.? Und eins von Gina? Und eins von? Ach, das wird ja nie fertig! So, wie Gott nie mit uns fertig wird und seine Liebe zu uns nie fertig wird. Deshalb: Hören wir einfach auf, Bilder zu machen und fangen wir an, zu feiern! Dass Gott uns lieb hat, dass wir liebenswert sind, dass Weihnachten ist.

Amen.

Samstag, 6. Dezember 2008

Kopf hoch! - 2. Advent 2008, Reihe I

Text: Lk 21,25-33

Liebe Gemeinde!
Alles, von dem man gedacht hat, dass es für immer fest steht, geht kaputt - und das soll gut sein? Angst wird sich unter den Menschen breit machen, weil sie nicht mehr wissen, worauf sie sich wirklich verlassen können. Mir kommt es so vor, als wäre der Anfang des Predigttextes, den ich eben vorgelesen habe, wie gemacht für den 2. Advent 2008. Nicht, dass wir heute Angst davor hätten, dass der Himmel über uns einstürzt. Da sind wir Menschen heute viel weiter als die Menschen vor 2000 Jahren. Unsere Furcht vor einem Weltuntergang sieht heute ganz anders aus. Was uns verbindet mit den Menschen vor vielen tausend Jahren ist die Angst davor, dass das, von dem wir glaubten, es wäre für immer und man könnte sich ganz fest darauf verlassen, plötzlich brüchig wird. Und da bietet der Winter 2008 eine ganze Menge Stoff. Jahrelang dachte man, es geht immer nur aufwärts mit der Wirtschaft. Wenn man den Reichen nur genug Spielraum lässt, dann werden auch die Armen profitieren - und jetzt bricht gerade alles so richtig zusammen. Wer im Moment noch Arbeit hat, muss sich fragen, wie lange das noch so sein wird. Letzte Woche war es zwar richtig kalt und winterlich und von Klimaerwärmung wenig zu spüren, trotzdem: die Nachrichten über extreme Wetterbedingungen, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind, Erdrutsche in Brasilien, riesige Feuer wegen Trockenheit in den USA und vieles mehr, häufen sich. Und auch im Kleinen gibt es manchmal solche Gefühle, dass plötzlich alles irgendwie unsicher wird. Manchmal merke ich das, wenn ich mich mit Schülern unterhalte, die kurz vor ihrem Abschluss stehen oder die gerade ihren Abschluss gemacht haben. Natürlich freuen sie sich, dass die Schule bald vorbei ist - aber wie geht es danach weiter? Man sieht eben nicht mehr jeden Morgen die gewohnten Leute, man weiß nicht mehr, wie man zurechtkommen wird, kann sich nicht ausrechnen, was kommt. Die Welt, die einem so vertraut und so sicher war, stürzt ein. Und das soll was Gutes sein? Die Bibel erzählt hier, dass dann, wenn Jesus wiederkommt, um die Welt radikal umzugestalten, um aus der Welt den Ort zu machen, der eindeutig gut ist, den Ort zu machen, an dem nichts als Gottes Liebe, als Gerechtigkeit und Frieden sichtbar wird, dass dann alles, was sicher schien, die ganze bekannte Welt eben, ins Wanken gerät und einstürzt. Ist also der Advent 2008 tatsächlich der letzte Advent bevor Gott durch Jesus die Welt radikal gut macht? Unsicher genug sind die Zeiten ja, viele Menschen leben ja ängstlich genug.

Der Haken bei allen solchen zeitlichen Berechnungen und Deutungen ist, dass keiner von uns Gott ist. Schon oft hatten Menschen Angst, schon oft hat sich die bekannte Welt tatsächlich total geändert, schon oft hatten Menschen das Gefühl, die Welt müsste doch jetzt untergehen und Gott kommen - und bis heute ist die Welt immer noch so, wie sie ist. Es geht in diesen Geschichten aus der Bibel, die vom Ende der Welt erzählen, nicht darum, dass wir Menschen Berechnungen anstellen sollen, wann das nun so weit sein könnte. Das Entscheidende sind keine Spekulationen über den Zeitpunkt des Weltendes. Das Entscheidende sagt der Vers, der auch Wochenspruch für die Woche, die mit dem heutigen 2. Advent beginnt, ist: „Wenn das geschieht, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“

Wie gehe ich damit um, wenn scheinbar auf katastrophale Art und Weise alles, was mir so sicher schien, alles, worauf ich dachte, mich stützen zu können, wenn die ganze Welt auf einmal in sich zusammenstürzt und unsicher wird? Zieh ich den Kopf ein und versuche, alles nicht wahrhaben zu wollen? Versuche ich, mit gesenktem Kopf nur noch den Blick auf das zu richten, was unmittelbar vor mir ist? Trau ich mich nicht, nach links und rechts und so richtig nach vorne zu schauen? Menschlich wäre und ist das - ich kenne es von mir selber mehr als genug. Wenn ich unsicher werde, dann traue ich mich gar nicht, weit nach vorne zu sehen, dann beschränke ich mich auf meine allernächste Umgebung, in der ich mich sicher fühle. Traut euch, stellt euch, seht euch um - denn nur mit offenen Augen und erhobenen Hauptes könnt ihr sehen, dass da mehr ist als nur Chaos, Schrecken und Unsicherheit. So kann man den Sinn des Verses mit dem erhobenen Haupt umschreiben.

Für mich ist an diesem Vers gerade die Rede, dass wir erhobenen Hauptes in der Welt stehen und durch die Welt gehen sollen, wichtig. Für Menschen, die jünger als ich sind, schon ganz und gar für Schülerinnen und Schüler, hört sich die Formulierung „erhobenen Hauptes“ wahrscheinlich ziemlich altertümlich an. Sie kommt ja auch aus einer Zeit, in der man sich Regierenden und Mächtigen nur gebückt nähern und ihnen schon gar nicht in die Augen sehen durfte. Die Zeiten sind vorbei. Aber auch heute gibt es Menschen und Mächte, die davon ausgehen, dass andere vor ihnen in Ehrfurcht erstarren und sie ehren und sich für weniger wert halten. Für mich gehört ganz aktuell ein süddeutscher Milliardär dazu, der einen Teil des Vermögens seiner Firmen an der Börse verzockt hat und nun möchte, dass die Steuerzahler für die Verluste aufkommen. Für mich gehören Menschen dazu, die Wissen nicht teilen wollen, die andere für dumm verkaufen und dumm halten wollen. Politiker, Wissenschaftler, so genannte Experten, die so kompliziert reden, dass nur Eingeweihte sie verstehen und die Rückfragen für dumm halten. Erhobenen Hauptes sehen zu können, das heißt: du kannst selbstbewusst sein. Du musst dich nicht von anderen klein machen und klein halten lassen. Erhobenen Hauptes zu sehen - ohne hochnäsig zu sein oder zu werden. Denn das wird schnell zur Gefahr. Dass ich denke, mir kann keiner was und mir auch von Menschen, die tatsächlich manches besser wissen oder besser sehen als ich nichts mehr sagen lasse. Erhobenen Hauptes, selbstbewusst die Welt zu sehen - auch das Ende von vielem zu sehen, auch das Wegbrechen von Sicherheiten zu sehen, das ist für mich tatsächlich ein wichtiger Teil der Advents- und Weihnachtsbotschaft. Advent heißt warten zu können. Nicht alles von sich erwarten zu müssen, sondern das Wichtigste von Gott erwarten zu dürfen. Advent heißt, nicht menschlichen Heilsversprechen hinterherlaufen zu müssen, sondern dem göttlichen Heilsversprechen trauen zu dürfen. Wo Menschen eine heile Welt mit ihren eigenen Mitteln herstellen wollten, war das Grauen nicht mehr weit. Der Kommunismus war angetreten, den Landlosen, Kleinbauern und Arbeitern Fortschritt zu bringen und endete mit Unterdrückung, Folter und einem vollständigen Zusammenbruch. Der Kapitalismus, das pure Vertrauen auf den Reiz des Geldes verschärfte die ungerechte Verteilung von Macht, Bildung und den Möglichkeiten, Zugang zu guter medizinischer Versorgung zu haben, immens. In den USA gibt es sicher mit die besten Ärzte und Kliniken der Welt - aber der größte Teil der Bevölkerung hat gar nichts davon, weil sie zu arm sind, sich eine medizinische Versorgung zu leisten und weil es Krankenversicherungen, wenn überhaupt, nur für Menschen gibt, die arbeiten.

Dort, wo Menschen letztes Heil und letzten Sinn versprechen, kehrt Unheil ein - auch wenn auf den Dollarnoten bis heute steht „In God We Trust“ - „Wir vertrauen auf Gott“. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich finde trotz allem, dass die USA kein schlechtes Land sind, war oft dort und werde gern wieder hinfahren.

„Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht“ - Das ist ein weiterer wichtiger Satz aus dem Predigttext. Wir müssen damit leben lernen, dass alles in dieser Welt vorläufig ist. Wir müssen damit leben lernen, dass das Leben, das wir kennen, keine letzte Sicherheit bieten kann, auch wenn wir Menschen uns noch so sehr anstrengen auch wenn wir noch so viel Wissenschaft betreiben oder Geld anhäufen. Leben in dieser Welt, die Welt, die wir kennen, ist vorläufig, ist Fragment. Man kann in ihr, auch und gerade in allem Chaos, viel Gutes sehen und entdecken. Neues Leben, neue Kraft, die dort sprießt, wo Altes abgeworfen wird. So wie in dem Bild vom Baum, der nach dem Winter wieder anfängt zu grünen. Aber letzten Grund, letzten Halt kann nur das geben, was Gott auch durch das Weihnachtsgeschehen deutlich gemacht hat: Dass er mit seiner Liebe diese Welt verwandeln wird. Dass seine Liebe dieser Welt gilt. Dass er uns Menschen mit unseren Fehlern und Schwächen, auch mit unserer Schuld nicht aufgibt, sondern dass er uns liebt und uns zutraut, dass wir selbst lieben und Verantwortung übernehmen können. Durch Jesus ist Gott selbst mitten im Leben. Er bleibt nicht hoch und fern, sondern er kommt in die Welt - alles wird anders. Advent heißt: warten können, sich vorbereiten, sich einstimmen. Nicht alles vorwegzunehmen, sondern in allem, was ablenkt, den Blick für das Wesentliche zu schärfen. Um dann entspannt feiern zu können. Wir leben im Advent - nicht nur in den Wochen vor Weihnachten. Das, was mit der Menschwerdung der Liebe Gottes begonnen hat, ist noch nicht am Ziel. Uns bleibt nichts, als zu warten, bis die Liebe sich durchsetzt und alles verwandelt. Aber uns bleibt auch mehr, als dabei nur die Hände in den Schoß zu legen. Uns bleibt, uns vorzubereiten, uns einzustimmen, auch durch die Liebe, die wir schenken, andere Mitzunehmen auf dem Weg, uns bleibt, den Kopf zu heben und zu schauen was kommt. Ohne Angst - und hoffentlich voller Hoffnung. Amen.

Donnerstag, 27. November 2008

Jesus am Glühweinstand? - 1. Advent, 30.11. 2008, Reihe I

Text: Mt 21,1-9
Liebe Gemeinde!
Noch nicht mal eine Woche später war er tot! Vom umjubelten Popstar bis zum perfekten Sündenbock in 5 Tagen. Dieselben Menschen, die ihm eben noch einen triumphalen Empfang bereitet haben, die in ihm die Erfüllung ihrer Sehnsüchte nach Gottes Nähe und Zuwendung gesehen haben, schreien „Kreuziget ihn!“ Moment mal, hab ich da nicht etwas verwechselt? Wir haben jetzt Advent, Geburtsvorbereitung, Vorfreude auf ein schönes Weihnachtsfest. Gute, besinnliche Stimmung. Nicht kurz vor Ostern, Blick auf Karfreitag! Ja, wir haben Advent! Wir haben „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ gesungen, vom Chor haben wir eine festliche Adventskantate gehört, „Stimmt Hosianna an“. Es ist Advent. Klar. Und was ist in vier Wochen? „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt!“ Das wird wohl kaum passieren. Und von denen, die heute Gottesdienst feiern, werden sicher auch manche am Sonntag nach Weihnachten wieder da sein. Aber ändert sich durch Advent und Weihnachten wirklich etwas, bei mir, bei ihnen und euch, in der Welt? Oder machen wir, auch die, die gern Gottesdienst feiern, nicht weiter wie immer? Lass wir uns stören von dem, von dem wir singen, dass wir ihn als König in unser Herz rein lassen wollen? Oder glauben wir, dass wir ihn schon gut genug kennen? Die Leute, die vor zweitausend Jahren Jesus beim Einzug in Jerusalem bejubelt haben, die waren konsequent. Als sie merkten, dass ihr Superstar gar nicht so war, wie sie ihn haben wollten, haben sie radikal die Meinung geändert. Von „Hosianna“ zu „kreuzigt ihn!“. Nicht, dass ich das vorbildlich finden würde. Aber ich frage mich manchmal schon: Wie wäre das, wenn wir im Advent nicht nur singen würden „Komm, o mein Heiland Jesus Christ“, sondern wenn er tatsächlich kommen würde. Würde wir uns stören lassen, würden wir ihn kennen oder kennen wollen?

Würde Jesus sich in der Adventszeit 2008 auf den Weihnachtsmarkt stellen und einen Glühwein trinken? Würden wir ihn an den Adventssamstagen bei Ahrens oder H&M finden? Ich bin mal so frei und behaupte: Ja, das würden wir. Wir könnten mit Jesus einen Glühwein trinken und ihn auch im Kaufhaus finden. Vielleicht würden wir ihn am Glühweinstand nicht gleich erkennen. Vielleicht wäre er der mit der dicken roten Nase und dem schäbigen Mantel, von dem wir denken: der hat bestimmt schon drei Glühwein zu viel getrunken!

Jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie einige denken: „Wie kann der Pfarrer das nur behaupten! Kennt der Jesus denn? In der Bibel stehen doch ganz andere Sachen, da hat Jesus doch gewaltig dagegen protestiert, dass rund um die Religion Geschäfte gemacht werden!“ Ja, kurz nach dem triumphalen Einzug in Jerusalem hat Jesus die Händler aus dem Tempel geworfen. Und so kann man sich natürlich gut vorstellen, dass Jesus nicht Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken würde, sondern die Buden vor Zorn über den Rummel, der rund um seinen Geburtstag gemacht wird und bei dem es oft gar nicht mehr um diesen Geburtstag und die Vorbereitung darauf zu gehen scheint, kaputt treten würde. Und auch ich kann mir vorstellen, dass Jesus zwar in Kaufhäuser gehen würde, da aber die Lautsprecher mit der Weihnachtsmusik aus den Decken reißen und die Kassen auf die Straße werfen würde um ein für allemal klar zu machen, dass Advent nichts mit Geld und Gewinn zu tun hat.

Was würde Jesus heute tun? Für Martin Niemöller, einen evangelischen Pfarrer im letzten Jahrhundert, war das die wichtigste Frage für einen Christen und für die Kirche. Niemöller war ein sehr wichtiger und interessanter Mensch. Bevor die Nazis 1933 an die Macht kamen, war er selbst von ihren Ideen überzeugt und hat sie bei jeder Wahl gewählt. Sehr schnell ging er dann aber in den Widerstand gegen die Nazis, war ein Mitbegründer der Bekennenden Kirche und saß im KZ ein. Nach dem Krieg hat er viel für die weltweite Ökumene getan und war Präsident der Kirche Hessen-Nassau. Ihm war aus eigener Erfahrung wichtig, dass Christen nicht zuerst fragen: „Was ist weltpolitisch oder für die Wirtschaft wichtig?“ Sondern: „Was würde Jesus tun?“ Und dass sie dann in der Nachfolge Jesu auch versuchen, entsprechend zu handeln.

Ich finde diesen Ansatz gut und richtig, gerade im Advent 2008. Und Martin Niemöller hat ihn glaubwürdig vorgelebt. Und trotzdem hat er einen Haken. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich doch gar nicht, was Jesus wirklich heute tun würde. Wenn ich es genau wüsste, dann wäre ich ja auf einer Stufe mit Jesus. Ich kann mich fragen, klar. Ich kann aus dem, was ich aus der Bibel kenne, nach Antworten suchen. Aber ich muss aufpassen, dass ich meinen Willen, meine Vorstellungen nicht mit dem verwechsele, was Jesu, was Gottes Willen ist. Wenn ich die Bibel lese und gerade auch die Geschichte vom Einzug in Jerusalem, die für den 1. Advent 2008 als Predigttext vorgesehen ist, dann sehe ich: das, was Jesus tut, ist meistens nicht das, was die Leute denken oder von ihm erwarten. Er, von dem alle Heldentaten erwarten, kommt nicht heldisch und kriegerisch auf einem Pferd oder wenigstens einem ausgewachsenen Esel daher. Auf einem Eselsfüllen, das auch noch von seiner Mutter begleitet werden muss, eher armselig, zeigt er sich den Menschen. Man stelle sich mal vor, ein Regierungschef oder ein Superstar, der nicht im großen Benz oder BMW oder so daherkommt, sondern mit einem 10 Jahre alten Golf vorfährt. Und Jesus hat sich nicht auf dem Beifall ausgeruht. Er erfüllt nicht die Erwartungen der Frommen, dass er die, die bisher von Gott nichts wissen wollten, links liegen lässt. Er erfüllt nicht die Erwartungen von denen, die meinen, mit Gewalt für ihren Glauben kämpfen. Wohin ihn das alles führt, habe ich ja am Anfang schon gesagt: Vom Superstar zum Todeskandidaten in 5 Tagen.

Wie gesagt, ich weiß nicht wirklich, was Jesus heute tun würde. Aber gerade weil er einer ist, der die überrascht, die von sich denken, sie wüssten, was im Glauben an Gott richtig und was falsch ist, kann ich mir vorstellen, dass er heute sich durchaus auf den Weihnachtsmarkt stellen würde und wir ihn an der Glühweinbude treffen könnten. Oder in der Schlange vor der Umkleidekabine bei H&M oder an der Kassenschlange im Ahrens. Ich glaube aber nicht, weil er resigniert hätte und sagen würde: So muss man halt heute Advent feiern, ist schon in Ordnung, dass der Inhalt nicht mehr so eine Rolle spielt. Und ich glaube auch nicht deshalb, weil er sagen würde: Ist doch toll, endlich mal was los, so viele bunte Lichter gab’s früher nicht. Nein, ich glaube, er wäre aus einem einzigen Grund da: Weil da die Menschen sind. Wenn’s gut läuft sind heute vielleicht 600, 700 Menschen in den evangelischen Gottesdiensten in Marburg - Auf dem Weihnachtsmarkt werden heute mehr sein. Und im Ahrens oder im H&M sind an den Adventssamstagen auch deutlich mehr. Jesus drückt sich nicht vor den Menschen, er läuft nicht vor denen weg, die nichts von ihm wissen wollen, er lässt sich auch nicht vom Jubel blenden. Jesus sieht die Menschen, sieht uns, wie wir sind. Und so will er in unser Leben kommen. Ich glaube wirklich, er wäre heute auch auf dem Weihnachtsmarkt, auch am Glühweinstand, auch im Kaufhaus. Aber er würde, denke ich, dort nicht bleiben. Er würde die Menschen, die er dort trifft, vielleicht an die Hand nehmen und ihnen die Augen öffnen für das, was auch zum Leben gehört. Für die Opfer einer Welt, in der oft genug jeder nur sich selbst der Nächste zu sein scheint. Für die Leere, für die Traurigkeit, für die Trauer, die so oft Teil des Lebens ist. Für alles das, was nicht festlich beleuchtet, sondern versteckt und unter den Teppich gekehrt wird. Auch für die eigene Schuld und eigenes Versagen. Und er würde die Menschen damit nicht allein lassen. Sondern er würde den Menschen die Augen auch öffnen für das Schöne, für die Liebe, für Vergebung, Mitmenschlichkeit und Hilfe, die ja auch da sind. Was würde Jesus heute tun? Menschen stark machen, damit sie sich freuen können. Uns alle zur Vernunft bringen. Und ich glaube, dass er auch in die Thomaskirche kommen würde. Und vielleicht würde ER UNS sagen: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit: Igelt euch nicht ein, geht raus, lasst die von draußen zu euch kommen. Aber ich glaube auch, dass er dabei helfen würde, vor lauter Offenheit nicht die Besinnung zu verlieren. Ja, Jesus bringt Menschen zur Besinnung. Hoffentlich auch uns. Damit wir alle nicht nur besinnlich, sondern besonnen feiern. leben, da sein können. Wenn Jesus kommt, dann ist nichts und niemand vor Überraschungen sicher. Dann werden auch Pläne und falsche Wege durchkreuzt. Aus dem Nazi Niemöller wurde der Widerstandskämpfer und KZ-Insasse. Aus dem umjubelten Superstar der Sündenbock. Aus dem Kind in der Krippe der Mann am Kreuz. Aus dem Mann am Kreuz das Heil der Welt, die Liebe, die größer ist als alle Vernunft. Und was wird aus uns? Aus dem Kirchenbesucher? Aus der Zweiflerin? Aus dem gelangweilten Konfi? Aus dem Glühweintrinker? Aus dem Kaufhausbesucher? Wenn Jesus in die Welt kommt, ändert sich was. Sind wir dazu bereit? Aber Gott sei Dank gibt es ja den Advent, die Zeit sich vorzubereiten. Und was ist in vier Wochen?
Amen.

Freitag, 21. November 2008

Wird alles anders? - Ewigkeitssonntag 2008, Reihe VI

Predigttext: 2. Petrus 3,3-13

Liebe Gemeinde!

Ein Tag, der einem vorkommt, als wären es 1000 Jahre und 1000 Jahre, die einem vorkommen, als hätten sie gestern erst angefangen - wir müssen gar nicht bis zum Ende aller Zeiten warten um festzustellen, dass in diesem Vers aus dem 2. Petrusbrief ganz viel Wahres steckt. Es gibt Tage und Nächte, die scheinen endlos zu sein. Die Gedanken an den Ehemann, der jetzt fehlt, an das Kind, das gestorben ist, an einen lieben Menschen, der weit weg ist, an eine Beziehung, die kaputt gegangen ist, lassen jeden Gedanken, jede Sekunde zur Qual werden und die Zeit scheint nicht vorbeizugehen. Dagegen geht der schöne Urlaub immer viel zu schnell vorbei, die Stunden, Tage, Jahre, die man mit einem geliebten Menschen verbringt, scheinen wie im Flug zu vergehen. Wenn Zeit nur zäh vergeht, dann ist der Wunsch, manchmal sogar die Hoffnung da und vielleicht auch groß, dass ganz schnell hoffentlich alles ganz anders wird. Aber wenn man vor Glück oder Liebe oder beidem das Gefühl hat, dass alles viel zu schnell geht, dann möchte man am liebsten jede Sekunde für die Ewigkeit festhalten, nie mehr loslassen und die Hoffnung oder zumindest der Wunsch ist da, dass sich nie etwas ändert.

Alles wird anders! Für die, bei denen im Moment alles gut und glücklich läuft, eine schreckliche Vorstellung. Für die, deren Leben aus den Fugen geraten ist und bei denen gerade nichts zusammenzupassen scheint, oft eine gute Hoffnung. Alles wird anders - alles wird gut! Ja, nicht weniger verspricht die Bibel, nicht weniger verspricht das Stück aus dem 2. Petrusbrief. „Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt!“ Alles wird anders - alles wird gut?! Im Alltag ist das nicht unbedingt die Erfahrung, die so leicht gemacht wird. Es wird nicht wieder gut, wenn nach vielen Jahren einer glücklichen Ehe oder einer guten Beziehung der Mann oder die Frau nicht mehr ist. Das Gefühl, jetzt allein zu sein, das Gefühl, eine Lücke im Leben zu haben, das wird vielleicht im Lauf der Zeit weniger schmerzhaft - aber gut? Und schon ganz und gar das Gefühl, wenn das eigene Kind stirbt oder der Tod als Unfalltod oder aus anderen Gründen ganz plötzlich und unnötig kam oder erst nach einem langen, grausamen Kampf - alles wird gut? Vielleicht im Laufe der Zeit erträglich. Aber gut?

Vielleicht kennen diejenigen, die mühsam das letzte bisschen Hoffnung zusammenkratzen und vielleicht auch Gott bei dem anfragen wollen, was er von sich sagt, nämlich dass er die Liebe ist, trotz allem, was in ihrem Leben traurig und hart und ungerecht gelaufen ist, auch die Spötter, von denen der Brief aus der Bibel erzählt. Menschen, die sagen: „Was willst du denn mit deiner Hoffnung? Lass es sein! Wo bleibt denn dein Gott? Der kommt nicht mehr, der macht nichts neu! Du musst mit dem Elend leben und am besten lebst du so egoistisch wie es nur geht, alles andere hat sowieso keinen Sinn!“ Und manchmal sind das auch gar keine Menschen von außen, die Hoffnung oder Liebe in Frage stellen. Manchmal sitzt das, was der erste Petrusbrief verächtlich „Spötter“ nennt, ganz tief auch in dem Menschen, der eigentlich glaubt, Hoffnung zu haben. In mir. Wenn ich mir die Welt ansehe, wäre es doch der einfachere Weg, die Hoffnung aufzugeben. Unrecht, Ungerechtigkeit, Dummheit, Leid, Tod, Gewalt, Hass, Neid, die Unfähigkeit, friedlich miteinander zu leben, Kriege und immer wieder die Erfahrung von traurigem, sinnlosen Tod, von Kindern, die von Erwachsenen misshandelt, missbraucht, umgebracht werden: es gibt viel zu viel, das mich manchmal schon daran zweifeln lässt, dass Menschen wirklich gut sein können. Und wo ist Gott? Und warum tut er nichts dagegen? Man muss kein bösartiger Mensch, kein Ignorant sein, um diese Fragen zu stellen.

Es ist leichter, aufzugeben, einfach so vor sich hin zu leben, als zu hoffen und zu glauben. Hoffnung und Glauben braucht Kraft. Es ist wie beim Schwimmen. Es kostet keine Kraft, sich von der Strömung mitreißen zu lassen, nichts zu tun. Das ist bequem. Die andere Richtung einzuschlagen, Widerstände zu spüren, auszuhalten, gegen Widerstände anzugehen: das ist es, was jede Menge Kraft kostet. Aber woher soll man die Kraft nehmen, wenn man gerade ganz unten ist? Es gibt nur eine Antwort. Aus der Liebe. Natürlich kann man als Zweifler, als Spötter, als Enttäuschter sagen: das ist ja mal wieder typisch Kirche. So ein allgemeines Gerede! Von der Liebe sehe ich nichts, spüre ich nichts, schon gar nicht von einem lieben Gott, wenn er mir den Mann, die Frau, das Kind, die Eltern weggenommen hat! Von der Liebe spüre ich nichts, wenn ich in die Welt schaue. Aber vielleicht kann es ja auch hier helfen, sich einfach mal umzudrehen und den Blickwinkel zu ändern. Kann, nicht muss. Gott ist kein lieber Gott in dem Sinn, dass er immer brav macht, was Menschen sich von ihm wünschen, dass er allen wohl und keinem weh tun würde. Aber Gott ist ein liebender Gott. Einer, der nicht wegläuft, wenn es hart wird. Einer, der es aushält, wenn man ihn zornig anschreit, wenn man vor lauter Angst oder Trauer oder Resignation nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Einer, der in seiner Liebe immer wieder den Weg zu den Menschen sucht. Liebe heißt ja nicht, dass man immer nur schöne und gute Erfahrungen miteinander macht. Liebe heißt, dass auch Schweres ausgehalten und geteilt werden kann. Für das alles steht Jesus Christus. Er ist nicht in eine perfekte Welt gekommen und hat keine perfekte Welt hinterlassen. Tod und Leid, Schuld und Trauer, das alles gibt es immer noch, das kann man nicht wegglauben und nicht wegdiskutieren. Aber Jesus steht dafür, dass Liebe und Veränderung zum Guten nicht erst dann möglich ist, wenn alles perfekt wird und der neue Himmel und die neue Erde da sind, sondern dafür, dass schon jetzt, unter diesem Himmel, auf dieser Erde, Liebe, Güte, Vergebung möglich und da sind. Ansatzweise, natürlich. Aber da.

Jetzt können welche hier im Gottesdienst sagen: Jetzt sag mal klipp und klar, was du meinst, wo es das gibt. Aber Liebe ist nun mal ein Beziehungsgeschehen. Das kann man nur schlecht allgemein sagen. Ich, mit meiner Person, spiele da immer mit. Deshalb kann ich schlecht erzählen, wo andere Liebe sehen sollen, die der Hoffnung neue Kraft gibt. Ich kann nur von mir erzählen. Zwei Beispiele, die auf den ersten Blick wenig mit dem, was man sich so allgemein unter Liebe vorstellt, zu tun haben. Eine junge Frau, Mitte 20, die ich vor gut 10 Jahren konfirmiert habe. Sie rief mich vor ein paar Wochen an, nachdem sie, die mit ihrem Mann lang auf ein Kind gewartet hat, eine Fehlgeburt hatte. Wir haben lang telefoniert, am Ende sagte sie so etwas wie „Jetzt geht’s mir wieder besser“. Eine andere junge Frau, die ich vor vielen Jahren in der Hauptschule in Reli hatte. Sie saß da, sagte nie was. Die ganze Klasse hat eigentlich nie was gesagt, ich hatte den Eindruck, bei denen ist alles sinnlos. Jahre später, ich hatte sie seit dem Abschluss nicht mehr gesehen, kam sie, wollte bei mir heiraten und erzählte mir, dass sie nach der Hauptschule immer weiter Schule gemacht hat, bis zum Abi, und jetzt selber Relilehrerin für Haupt- und Realschule werden will, auch, weil ihr der Reliunterricht in der Hauptschule so wichtig war und gut gefallen hat. Was das mit Liebe zu tun hat? Es zeigt erstens, dass Liebe mehr ist als irgendwelche romantischen Gefühle füreinander zu hegen. Das kann dazu gehören, aber muss nicht. Es zeigt zweitens, dass Liebe sehr viel damit zu tun hat, Lebensmut und Lebensperspektiven zu öffnen. Und drittens, und das ist der Grund, warum ich das eigentlich erzähle, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Es ist ja nicht so, dass ich der große, allwissende Könner bin, der anderen zu einem guten Leben verhilft. Die beiden haben mir ganz viel geholfen, gerade wenn ich denke: „Ist das nicht sinnlos, was ich hier mache?“ Es gibt ja genug Schüler, für die Reli, auch Reli bei mir, schrecklich ist und Konfis, die sagen: das ist blöd und langweilig“ Und ja auch Erwachsene, die mir sehr deutlich machen, dass sie von Kirche und von mir als Pfarrer wenig halten. Aber selbst wenn es nur für zwei Leute gut war, ist es nicht sinnlos gewesen und die Hoffnung ist da, dass es auch in Zukunft nicht sinnlos ist. Liebe ist nichts, was ich herstellen kann, sondern ein Geschenk, ein Geschenk Gottes, das auch offene Augen und Herzen braucht. Wie gesagt, ich hab nur meine Augen. Jeder von uns muss in seinem Leben die eigenen Augen aufmachen und vielleicht auch mal die Perspektive und den Blickwinkel ändern.

Alles wird anders, alles wird gut. Aber nicht jetzt sofort, wir haben nur einen Zipfel davon in der Hand, ein kleines bisschen Liebe hoffentlich, das die Hoffnung wach hält. Gott steht zu seinen Verheißungen. Und wenn die Bibel hier so viel von Einsturz und von Feuer erzählt, dann heißt das nicht, dass irgendwann mal der große Katastrophefilm abläuft, der alles, was Hollywood sich je ausgedacht hat, in den Schatten stellt. Gemeint ist, dass sich wirklich alles ändert - und nur das übrig bleibt, was überlebenswert ist. Gerechtigkeit. Liebe. Und alles andere wird endgültig vernichtet. Das ist die Hoffnung, die wir haben können. Schon jetzt, und auch angesichts der Erfahrung, dass Menschen, die für das eigenen Leben wichtig waren, nicht mehr sind. Was bleibt ist die Liebe. Die Kraft gibt, Hoffnung wachsen zu lassen. Amen

Dienstag, 18. November 2008

Schlagende Argumente - Predigt Buß- und Bettag 08, 19.11.08, Reihe VI

Text: Jes 1,10-17

Liebe Gemeinde!

Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind von meinen Eltern zur Strafe wirklich geschlagen worden zu sein. Gott sei Dank! Bis auf eine einzige Ausnahme, an die ich mich noch gut erinnere. Was der Anlass war, weiß ich gar nicht mehr so genau, aber meine Mutter schimpfte mich nach allen Regeln der Kunst aus. Es war ein Vormittag, kurz vor dem Mittagessen, wohl in den Schulferien. Sie schimpfte und steigerte sich immer mehr hinein und ich fing an zu lachen. Je mehr sie schimpfte, desto mehr musste ich lachen. Sie konnte sich dann nicht mehr anders helfen, als den Kochlöffel zu nehmen. Mein Hinterteil war stabiler als der Löffel.

Dieses Erlebnis, das schon mehr als dreißig Jahre zurückliegt, hat in mir Skepsis geweckt. Die Skepsis, dass Wut und Zorn, und wenn sie auch noch so berechtigt sind, wirklich etwas ändern. Es ist manchmal gut, als Ventil für sich selbst, um keine Magengeschwüre zu kriegen, die eigene Wut und den eigenen Zorn nicht herunterzuschlucken, sondern raus zu lassen. Aber ob Schimpftiraden bei dem, der Auslöser meines Zorns ist, wirklich was ändern oder ob der Angeschrieene nicht vielmehr die Ohren auf Durchzug stellt, je mehr ich mich in diese Wut hineinbegebe? Ich weiß es nicht. Aber, wie gesagt, mein eigenes Beispiel macht mich skeptisch, ob Zorn wirklich viel ändert. Deshalb finde ich es auch schade, dass der Predigttext für den Buß- und Bettag heute so aufhört. Er besteht nur aus Anklagen. Klar, wenn das Motto für den Buß- und Bettag 2008 „Ehrlich“ ist, dann gehört auch das mit dazu. Es gehört mit dazu, dass wir als einzelne Christen, als Kirchengemeinde und als Kirche überhaupt nicht die Augen davor zu machen, dass sicher ganz vieles bei uns nicht in Ordnung ist. Der Prophet Jesaja beklagte sich vor langer Zeit darüber, dass viele ihren Glauben nur noch sozusagen äußerlich leben, dass er sich in schönen, aufwendigen Gottesdiensten und Feiern erschöpft, dass aber niemand danach schaut, wie es den Armen im Lande geht. Gottes Willen, so sagt es Jesaja hier, ist soziale Gerechtigkeit, ein Glauben, der auf der Seite der Armen ist und nicht eine Schauveranstaltung. Jetzt ist es heutzutage sicher leicht, viele Beispiele dafür zu finden, wo es armen Menschen nicht gut geht. Ich habe fast jeden Tag mit Menschen zu tun, deren Geld hinten und vorne nicht reicht. Durch die weltweite Berichterstattung im Fernsehen und in anderen Medien sind wir mit Armen und Rechtlosen weltweit verknüpft. Es gibt mehr Armut und Elend auf der Welt, als wir hier mit unseren Kräften lösen könnten. Und wenn wir mal ehrlich sind: so schlecht, dass wir als Kirche uns den Schuh anziehen müssten, bei uns hätten die Armen keinen Platz und wir würden nur eine christliche Festfassade aufrecht erhalten, sind wir als Kirche nicht. Kirchliche Werke, Diakonie oder Caritas, Brot für die Welt oder Misereor und ganz viele Einzelinitiativen helfen ganz entscheidend mit dabei, die Rechte der Armen und Unterdrückten nicht aus dem Blick zu verlieren. Gerade wir als Kirche, und damit meine ich wirklich wir, denn Kirche besteht ja aus ganz vielen einzelnen Christen in Marburg, in Omsk, weltweit, haben viel Grund, nicht in die billige Anklage einzustimmen: „Wir sind ja alle so schlecht und tun nichts!“ Natürlich kann man immer noch mehr tun und wird nie fertig werden. Wenn „ehrlich“ das Motto des Buß- und Bettags ist, dann heißt das auch, Mut zur Ehrlichkeit im positiven Sinn zu haben und sich nicht jeden Schuh anzuziehen, der einem hingehalten wird.

Der Sinn des Buß- und Bettags und auch der Sinn des Predigttextes für heute ist nicht, sich ständig klein und schlecht und vom Untergang bedroht zu fühlen. Im Gegenteil. Der Sinn ist es für mich, die Kraft zu haben oder zu bekommen, Stachel im Fleisch einer Gesellschaft, einer Weltordnung zu sein, in der Neid und gier als positive Antriebskräfte viel zu oft und viel zu lang hingenommen wurden. Stachel im Fleisch einer Weltordnung zu sein und zu bleiben, die Korruption für ein Kavaliersdelikt hält, die nichts dabei findet, dass nicht die Person und ihre Bedürfnisse entscheidend sind, sondern Beziehungen, Herkunft, äußeres Ansehen oft genug die Hauptrolle zu spielen scheinen.

Glaubwürdig können wir als Kirche im Großen, als Gemeinde vor Ort und als einzelner Christ aber nur dann sein, wenn wir tatsächlich auch ehrlich zu uns selbst sind. Wenn wir bereit sind, die Augen nicht vor dem zuzumachen, was auch bei uns nicht gut läuft. Wenn wir bereit sind, auch unsere Schuld zu sehen und einzugestehen. Es ist billig, die Welt anzuklagen, auf die Politiker, die Banker, die Wirtschaftsbosse oder wen auch immer zu verweisen, wenn ich nicht bereit bin, zuallererst mich selber anzuschauen. Erst dann kann es weitergehen. Aus diesem Grund finde ich den Buß- und Bettag und sein Anliegen wichtig und alles andere als überholt. Ich kann nur dann glaubwürdig für andere eintreten und anderen vors Schienbein treten, wenn ich zu mir selbst ehrlich bin und bereit bin, da, wo es nötig ist, mir auch vors Schienbein treten zu lassen, um von falschen Wegen abzukommen. Was gut an unserer christlichen Botschaft ist, was gut auch an der Botschaft Jesajas ist, ist, dass sie nicht beim Schimpfen und beim Aufzeigen von Versagen stehen bleibt. Bei Jesaja heißt es unmittelbar im Anschluss an unseren Predigttext: Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden. 19 Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen. 20 Weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden. Vergebung und Umkehr ist möglich. Im Prinzip richtet ihr euch selber, so verstehe ich hier Gottes Wort bei Jesaja: Wenn ihr umkehrt, wenn die Sache der Armen und Rechtlosen Platz in eurer Gesellschaft hat, dann werdet ihr die Güter eures Landes genießen können. Wenn ihr aber eine Gesellschaft bleibt, die auf Ausgrenzung, Gier und Neid baut, werdet ihr untergehen. Es ist nicht der Kochlöffel, nicht der Zorn, der das letzte Wort behält, sondern das nüchterne Aufzeigen der Möglichkeiten und Konsequenzen. Und das Vertrauen, dass ein ehrliches Anschauen auch der dunklen Seiten zu Veränderungen zum Guten führt. Für uns auch dadurch, dass wir durch Jesus Christus erfahren haben, dass uns auch Schuld nicht mehr endgültig von Gott trennt. Dass Vergebung und Neuanfang kein leeres Gerde, sondern lebendige Möglichkeit sind. Ich wünsche uns, dass wir auf diese Art einladend für die Welt sind. Indem wir vorleben, dass Ehrlichkeit und Umkehr möglich sind und nicht indem wir drohen und schimpfen und zetern. Amen

Donnerstag, 13. November 2008

Zum Wegwerfen zu schade - Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, Reihe VI

Predigttext: 2. Korinther 5,1-10

Liebe Gemeinde!

„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land?“ „Herr Pfarrer, sie sind der Schönste hier!“ Nein, so geht’s nicht zu, morgens bei mir im Bad, wenn ich zum Rasieren in den Spiegel schaue. Ich bin mal mehr, mal weniger zufrieden mit dem, was mir da entgegenschaut. Der Schönste war ich nie und werde ich nie sein, aber das Gefühl, dass mein Körper eine Hütte sei, die möglichst bald abgebrochen werden müsste, wie Paulus es hier in der Bibel schreibt, habe ich auch sehr selten. Und Sie? Und Ihr? Wahrscheinlich geht es den meisten wie mir. Es gibt Tage, da fühle ich mich in meiner Haut richtig wohl, aber es gibt auch Tage, da kann ich Paulus gut verstehen, wenn er schreibt, dass unser Leib, unser Leben hier auf der Welt bestenfalls eine Hütte ist, die doch bald mal abgebrochen werden müsste um etwas Schönerem, Besseren Platz zu machen. Wie kommt Paulus eigentlich dazu, so negativ über dieses Leben zu schreiben? Wahrscheinlich war er, als er diesen Brief geschrieben hat, ziemlich krank. Er spürte, dass das alles nicht mehr so klappt. Das, was er will und vorhat, macht sein Körper nicht mehr so mit. Er ist sich sicher, dass Gott noch viel mehr und viel Größeres für ihn hat als diesen kranken Körper und deshalb hofft er, dass Gott ihn endlich von diesem abbruchreifen Äußeren befreit und zu sich nach Hause holt. Ich frage mich manchmal, ob das nicht gefährlich ist, wenn ich Paulus hier Recht gebe. Immer wieder in meinem Leben bin ich Menschen begegnet, die ihren Körper nicht leiden konnten und dadurch krank wurden. Menschen, die sich selbst deshalb vernichten wollten. Ich denke an mehrere sehr gute Bekannte, die durch Magersucht oder Ess-Brech-Sucht aus dieser, wie sie dachten, abbruchreifen Hütte raus wollten und auch an welche, die durch Schmerzen, durch Ritzen ihren Körper bestrafen und manchmal auch vernichten wollten. Was kann ich da sagen, was nicht billig oder falsch oder verantwortungslos wäre? Und dann denke ich an Menschen wie meine Patentante, die mehr als 25 Jahre unvorstellbare Schmerzen durch eine Krankheit hatte, die sich immer weniger bewegen konnte, die in ihren letzten Lebensjahren, bei klarem Verstand, praktisch nichts mehr allein machen konnte. Mehr als nur einmal hatte sie den Wunsch geäußert, dass sie diesen kranken Körper und damit ihr Leben endlich loswerden möchte. Was kann ich da sagen, was nicht billig oder falsch oder verantwortungslos wäre? Und ich denke auch an die vielen Gespräche, mit Menschen, die in Krankenhäusern und Altersheimen andere betreuen und pflegen, mit Gesunden und Kranken in jedem Alter, nicht zuletzt auch mit meinen Eltern, wie krank ein Körper sein darf oder sein muss, damit man ihn nicht mehr am Leben erhält und sterben lässt. Unser Körper ist sterblich. Darf man daran Lust haben? Darf man Lust haben, den Körper einfach aufzugeben, zu sterben?

Paulus macht in seinem Brief etwas ganz Wichtiges. Er redet nicht alles schlecht, sagt nicht: „Ich nehme jetzt Gift oder bringe mich auf andere Weise um, hat ja sowieso alles keinen Zweck mehr“. So eine Haltung zieht einen tatsächlich immer weiter runter, so dass am Ende das Wegwerfen von Leben als sogar christlich gebotene Haltung erscheint. Paulus redet nichts schön. Aber er lässt sich auch nicht immer tiefer ziehen. Für ihn spielt die Hoffnung eine wichtige Rolle. Die Hoffnung, dass die Einschränkungen und Krankheiten und Schwierigkeiten nicht alles sind, sondern dass sie zeitlich begrenzt sind. Und dass schon jetzt Grund da ist, sich auf das zu freuen, was Gott an Leben bereithält, wenn unser Leben, und damit auch unser Verstand und unsere Vorstellungskraft, an ein Ende gekommen sind. Was mir dabei wichtig ist, dass Paulus weder dazu aufruft, sein Leben einfach so wegzuwerfen, weil es ja nichts wert sei, noch einfach so vor sich hin zu leben und sich um nichts zu kümmern, weil angesichts der Heimat, die Gott den Menschen bei sich schenkt, alles jetzt in dieser Welt egal wäre.

Paulus sagt, so verstehe ich ihn, dass wir Menschen bei aller berechtigten Vorfreude auf das, was mal sein wird, nun mal hier und jetzt leben und für genau dieses Leben hier und jetzt Verantwortung haben. Egal, ob wir daheim, das heißt bei Gott, oder in der Fremde, das heißt hier in dieser Welt, sind: es geht darum verantwortungsvoll und richtig zu leben. „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.“ Gott entlässt uns Menschen nicht aus der Verantwortung für unser Leben. Lebe jetzt und lebe verantwortlich, es ist nicht egal, was du machst, wie du lebst.

Wie passt das denn zu der Botschaft von Jesus, dass er gerade für die Menschen gekommen ist, die Schuld auf sich geladen haben? Wie passt das denn zu dem, was Paulus selber im Römerbrief schreibt, dass kein Mensch durch seien Taten gut und gerecht wird? Wie passt das denn zu der, wie ich finde, richtigen Einsicht von Martin Luther, dass nicht die Werke, sondern der Glauben und Gottes Gnade allein zählen?

Es passt dadurch dazu, dass Liebe, Vergebung und Gnade keine Einbahnstrasse sind. Es sind Angebote, die Gott für ein gutes Leben macht. Angebote, zu denen ich mich verhalten kann und verhalten muss. Liebe, Vergebung, beides entlässt mich nicht aus meiner Verantwortung für das Leben, auch für mein Leben. Im Gegenteil, es stellt mich auch vor die Zeiten und Gegebenheiten in meinem Leben, wo ich lieblos war und vielleicht auch bin, wo ich Vergebung nötig habe, wo ich anderen nicht vergeben konnte.

Gott hat uns nicht ein billiges Rundum-Sorglos-Paket für unser Leben gepackt, einmal erhalten und ausgepackt, schon ist immer für alle Zeiten alles gut. Nein, Gott traut uns Menschen eine Menge zu. Er traut uns zu, dass wir die Kraft haben, Verantwortung zu übernehmen.

Gerade in diesen Tagen wird das für mich noch einmal deutlich. Vor 90 Jahren ging der erste Weltkrieg zu Ende, vor 70 Jahren haben in Deutschland, auch hier in Marburg, die Synagogen gebrannt. Nur sehr, sehr wenige Christen haben unter Gefahr für ihr eigenes Leben Partei ergriffen und denen, die allein wegen ihres Glaubens verfolgt und vernichtet wurden, geholfen. Und heute, am Volkstrauertag, wird überall an die Opfer des Krieges und des Nationalsozialismus erinnert. Jetzt kann natürlich der Einwand kommen: Was sollen die ganzen alten Geschichten? Viele, die heute hier Gottesdienst mitfeiern, waren in dieser Zeit noch gar nicht auf der Welt als Juden in Deutschland verfolgt wurden oder der 2. Weltkrieg ausbrach, andere waren Kinder oder Jugendliche. Und viele unter uns lebten in dieser Zeit in Russland und haben selbst unter lebensbedrohlicher Verfolgung gelitten. Praktisch niemand, der heute hier Gottesdienst feiert, könnte auch nur theoretisch persönlich verantwortlich sein.

Verantwortung für das Leben zu haben, im Sinne der Liebe Gottes zu uns, das heißt auch, sich der Frage zu stellen, wie ich mit dem umgehe, was ich weiß. Sage ich „Was soll’s, geht mich nichts an! Ich war zu jung, hab nicht hier gelebt, war noch nicht auf der Welt, also muss mich das gar nicht berühren!“? Oder kann ich sagen: „Dafür bin ich zwar nicht verantwortlich. Aber ich kann da, wo ich hier und heute bin, Verantwortung dafür übernehmen, dass Menschen nicht mehr wegen ihrer Religion ihr Menschsein abgesprochen wird. Ich kann mich dafür einsetzen, dass Menschen nicht mehr wegen ihres Glaubens, der anders ist als der der Mehrheit, lächerlich gemacht werden, abgestempelt werden, dass ihnen ihr Menschsein abgesprochen wird.“ Es geht nicht darum, Schuld auf sich zu laden für eine Vergangenheit, für die ich nichts kann. Es geht darum, Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen und nicht so zu tun, als ginge mich alles nichts an. Ich habe Verantwortung - aber ich kann sie tragen, weil Gott mir immer wieder mit Liebe begegnet, auch da, wo ich der Verantwortung nicht gerecht werde. Ich kann und darf umkehren, neu anfangen. Ich kann und darf Fehler und Schuld bereuen und den Versuch starten, Dinge in meinem Leben, mein Leben überhaupt anders und besser zu machen. Für mich gehört dazu auch, dass ich mit dem, was Paulus über sein krankes Leben sagt, nämlich dass er den Wunsch hat, diese armselige Hütte Körper zu verlassen, vorsichtig umgehe. Wenn ich mich dazu verleiten lasse, den Schluss zu ziehen, dass dann das Leben hier in dieser Welt sowieso nichts wert ist, dann muss ich aufpassen, dass ich nicht anfange, Leben in lebenswertes und vor allem lebensunwertes Leben einzuteilen. Es gibt kein Leben, dass es nicht wert wäre, gelebt zu werden. Auch mein eigenes Leben ist es wert, gelebt und nicht weggeworfen zu werden. Mir darf dabei auch manches schwer sein, gerade wenn ich Einschränkungen durch Krankheit erfahre, wenn ich mit anderen Menschen traurige Erfahrungen mache. Ich darf Angst und Zweifel haben, und eben gerade die Hoffnung, dass Gott nicht meine Zweifel auslacht, sondern mir helfen will, sie zu überwinden. Ich darf sterben wollen, wenn’s dran ist - und muss nicht sinnlos aus Forscherdrang weiterleben müssen. Ich muss nicht alles tun, damit mein Körper äußerlich nach den Maßstäben von - ja, von wem denn, von den Machern von Playboy oder Men’s Health?, durch Operationen oder so super wird. Aber ich darf mich drauf freuen und hoffen, dass noch was anderes kommt. „Wir werden auch an dieses Ziel gelangen, denn Gott selbst hat in uns die Voraussetzung dafür geschaffen: Er hat uns ja schon als Anzahlung auf das ewige Leben seinen Geist gegeben. Deshalb bin ich in jeder Lage zuversichtlich. Ich weiß zwar: Solange ich in diesem Körper lebe, bin ich vom Herrn getrennt. Wir leben ja noch in der Zeit des Glaubens, noch nicht in der Zeit des Schauens. So schreibt Paulus. Diese Zeit wird kommen. Freuen wir uns drauf. Amen.