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Freitag, 10. Mai 2013

Wir gehören doch zu den Guten, wir haben die Wahrheit! - Exaudi, 12.05.13, Reihe V

Text: Johannes 14,15-19
Liebe Gemeinde!
„Die Welt wird es nicht verstehen und nicht sehen können, aber ihr werdet die Wahrheit erkennen!“ Es ist alles andere als ungefährlich, was Jesus hier sagt. Mit dem Muster, dass die Welt schlecht ist, man selbst aber zu den Guten gehört und vor allem die Wahrheit im Gegensatz zu den anderen kennt, versuchen immer wieder und seit allen Zeiten Terroristen, Selbstmordattentäter, radikale Fundamentalisten, Amokläufer ihre Taten zu begründen. Das funktioniert eben nicht nur in manchen missverstandenen islamischen  Zusammenhängen so, das gibt es auch in Zusammenhängen, die sich christlich verstehen. Wir hier drinnen sind die Guten, die da draußen haben keine Ahnung und können, dürfen, müssen bekämpft werden. Mir  fällt das auch manchmal in Gesprächen über Moscheeneubauten oder die Umwidmung leerstehender Kirchengebäude auf. Selbst Menschen, die jahrelang außerhalb des Urlaubs, in dem sie vielleicht eine historisch wertvolle Kirche besichtigt haben, keine Kirche mehr von innen gesehen haben, rufen plötzlich dazu auf, sich gegen gefühlte Multikulti- und Islamisierungstendenzen zu wehren. Wir gehören doch zu den Guten, wir haben die Wahrheit!
Wir leben in der Welt! In einer Welt, die in manchem sicher ganz anders ist, als zu der Zeit, in der Jesus seinen Jüngern das mit auf den Weg gegeben hat oder der Evangelist, den wir als Johannes kennen, das aufgeschrieben hat. Wir leben in der Welt – und die Jünger Jesu, die Gemeinden der ersten Zeit lebten auch in der Welt. Wo denn auch sonst? Ich glaube auch nicht, dass Jesus hier oder anderer Stelle zur Flucht in eine Parallelwelt aufrufen will. Im Gegenteil. „Der Vater sendet euch einen – und jetzt wird es schwer, das Wort, das im Johannesevangelium hier überliefert ist, zu übersetzen – der Vater sendet euch einen Tröster, Beistand, Fürsprecher, der euch hilft, mitten in der Welt, in der ihr lebt, die Wahrheit zu sehen und in der Wahrheit zu bleiben und zu leben, die Wahrheit nicht zu verraten.“ Welche Wahrheit eigentlich und vor allem: was ist die Welt, in der wir doch Christen, und von der wir doch auch ein Teil sind?
Was ist die Welt? Jesus meint hier in erster Linie keinen Ort, der in seiner Position im Weltall definiert werden kann, sondern eine bestimmte Lebenseinstellung. Welt ist hier auch die Lebenshaltung, die sich selbst genügt, die sich ständig auf sich selbst bezieht. Und dazu gehört auch die Unfähigkeit, Schuld wirklich zu sehen und auch anzunehmen und so auch die Unfähigkeit, Vergebung anzunehmen und anderen zu vergeben. Bis heute leben wir oft in einer Kultur der permanenten Selbstentschuldigung, der ständigen Suche nach Ausflüchten, des Zeigens auf den oder die Anderen. Beispiel Steuern zahlen. Wer macht das schon gern? Wer nutzt da nicht gern legale Schlupflöcher, auch wenn sie vielleicht nicht richtig sind, oder vergisst einfach mal, was anzugeben, in der Hoffnung, dass es nicht auffällt. Sind ja nur kleine Beträge. Und außerdem: Unsere Steuergelder werden verschwendet. Da geht zu wenig in die Förderung von Familien mit Kindern, stattdessen wird zum Beispiel Amazon, der amerikanische Internetkonzern, für die Ansiedlung in Bad Hersfeld und bei Leipzig mit Millionen gefördert. Dafür zahl ich doch nicht!
Und die Großen, der Uli Hoeneß und so, die sind ja noch viel schlimmer! Anderes Beispiel, mir näher: Im 9. Schuljahr, da funktioniert Reli einfach nicht! Die Lina und die Natascha drehen gerade total durch, als Klassenlehrer hätte man da noch andere Möglichkeiten, aber als Relilehrer doch nicht! Die Schüler und die Eltern nehmen das Fach nicht ernst, außerdem nur einmal pro Woche und dann ist die Gruppe viel zu groß! Alles richtig! Aber wenn ich ehrlich bin, ist der Unterricht oft deshalb schlecht, weil ich schlecht vorbereitet bin. Gut, dann ist davor ein dringendes Gespräch und danach eine Beerdigung – und schon wieder eine Ausrede gefunden. Wie für die mangelnde Steuerehrlichkeit und viele, viele andere Dinge auch. Ich glaube wirklich, dass das, was schon bei Jesus die Welt in dem Sinn, wie hier in der Bibel davon geredet wird, diese Kultur der dauernden Selbstentschuldigung beinhaltet. Schuld sind die anderen, die Gesellschaft, das System. Welt. Wie auch das Denken in Schubladen und die Orientierung an Vorurteilen über Menschen. Neben vielen anderen Faktoren war das doch ein wichtiger Grund dafür, dass die Mordserie, die die rechtsextremen Terroristen des NSU verübt haben, zu spät aufgeklärt wurde. Die Opfer: Türken, Kurden, Ausländer aus dem Süden – da müssen doch Verstrickungen in den Drogenhandel oder in illegale Wettgeschäfte sein. Klar, nicht jeder Türke, nicht jeder Kurde ist ein Drogenhändler, aber der Prozentsatz ist doch viel höher als bei den Deutschen! Schublade auf, Mensch rein. Funktioniert aber auch politisch weniger brisant in Marburg. Was würden Südvierteleltern wohl sagen, wenn ihre Tochter einen Freund hätte, der nicht nur auf die Richtsberggesamtschule geht, sondern auch noch auf dem Richtsberg wohnt, und zwar noch dazu weder im Pommernweg noch in der Erfurter Straße, sondern in den geraden Hausnummern der Friedrich-Ebert-Straße oder in der Sudetenstraße? Und wie denkt man am Richtsberg über die Südviertelbewohner? Grün wählende Studienräte, die vom wahren Leben keine Ahnung haben oder Rechtsanwaltsgatinnen, die morgens schon beim Klingelhöfer Prosecco trinken und die Erzieherinnen im Kindergarten durch ihre Besserwisserei und ihr Anspruchsdenken in den Wahnsinn treiben? Schublade auf, Mensch rein, Schublade zu. Welt. Wir leben in der Welt. Wo auch sonst? Und wir leben in Zusammenhängen, die Jesus als „Welt“ bezeichnet, von denen er sagt, dass sie dem Leben nicht dienen – dem Leben, dass in dem umfassenden Frieden, in der umfassenden Gerechtigkeit und Liebe Gottes gewollt und aufgehoben ist. Um aus diesem negativen Sog von abgeschobener und verdrängter Schuld, von nicht wahrgenommener Verantwortung, von Verächtlichmachung oder Nichtwahrnehmung von anderen Menschen herauszukommen, brauchen wir den, den Jesus hier als Gabe, als Geschenk des Vaters verspricht: den Tröster, den Beistand, den Fürsprecher. Ich finde es wichtig und angemessen, dass sich das Wort, das Jesus hier für dieses Geschenk benutzt, gar nicht eindeutig übersetzen lässt. So wird sehr deutlich, auf welchen unterschiedlichen Ebenen wir dieses Geschenk brauchen. Als Tröster, der uns hilft, unser Versagen nicht nur zu sehen, sondern es auch auszuhalten und in neue, produktive Energie, hin zu einem bessern Umgang mit eigener und fremder Schuld zu verwandeln. Wir brauchen nicht nur den Richter, der unsere Schuld aufdeckt, sondern auch den Tröster, der uns hilft, damit gut umzugehen. Wir brauchen den Fürsprecher, der für uns eintritt, der Gott an seine Liebe gewissermaßen erinnert, dann, wenn wir Zorn verdient haben. Gott selbst ist es, der für uns eintritt. Der gewissermaßen sich selbst immer wieder an seine Liebe erinnert – um unseretwillen. Und wir brauchen den Beistand, der uns hilft, der Liebe auf der Spur zu bleiben, der uns Kraft und Orientierung in dieser Welt, in unserem Alltag gibt.
Jesus verspricht kurz vor seinem Tod dieses Geschenk. Er ist nicht mehr lange die körperlich sichtbare, stimmlich hörbare Orientierung. Er ist nicht mehr lange der, der auch in einem physischen Sinn Unterstützung, Liebe und Nähe gewähren kann. Von allein kann kein Mensch, und sei er auch noch so bereit, Jesus nachzufolgen, die Verbindung zum Grund des Lebens, zu Gottes Liebe, von sich aus wirklich aufrechterhalten. Jesus macht das unmissverständlich klar – aber eben auch, dass diese Verbindung zu einem Leben, das sich nicht in der Vorläufigkeit von Mogeleien, Schummeleien, Besserwissereien, Aufspielen und Vorurteilen gefällt, nicht plötzlich einfach so weg wäre. Gott selbstwird  Hilfe dabei geben, diese Beziehung zum Leben selbst nicht zu verlieren. „Ich lebe – und ihr werdet auch leben“. Das ist die Zusage, das Versprechen, das auf eine Zumutung folgt: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten!“ Keiner kann das aus eigener Kraft. Und die Jünger haben ja selbst erlebt, dass sie daran immer wieder gescheitert sind. Bei der Frage, wer denn nun der größte im Himmelreich sei genauso wie bei der Zurückweisung der Kinder, die gesegnet werden sollten oder dem Schlaf im Garten Gethsemane, als sie mit Jesus nicht wachbleiben konnten. Was deutlich wird, ist zweierlei: Wir brauchen von uns aus erst einmal den Willen zu einer Orientierung an der Liebe. Den Willen dazu, die Liebe anzunehmen und weiterzugeben. Aber Willen und Entscheidung allein genügen nicht. Wir müssen uns ehrlich sehen und annehmen können. Als Bedürftige. Als Bedürftige, die in der Welt leben, die sich aber nicht mit dem zufriedengeben, was in der Welt normal ist, mit der Suche nach ausreden und dem eigenen Vorteil, mit dem einordnen von Menschen in Hierarchien und dem Beurteilen von Menschen nach Vorurteilen. Die Erkenntnis der Wahrheit, die Jesus durch den Tröster, den Beistand, den Fürsprecher verspricht, der Wahrheit, die die Welt nicht wahrhaben will, ist nicht die Berechtigung, andere ihr Recht auf Leben abzusprechen, anderen ihr Recht auf Leben streitig zu machen, im Namen Gottes gar Leben zu vernichten, sondern die Wahrheit ist die, dass wir selbst Bedürftige sind, als Bedürftige leben können und aus dieser Erkenntnis heraus lieben können. Weil wir mit dem Leben selbst verbunden sind. Dem Leben, das nicht anderen oder der Welt den Tod bringt, sondern dem Leben, das den Tod überwunden hat.
Amen.

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