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Sonntag, 24. April 2011

Von ferne - Karfreitag, 22.04.2011, Reihe III

Wieder mal eine Predigt, bei der die gehaltene Fassung sehr deutlich von der hier veröffentlichten schriftlichen Fassung abwich.

Text: Lukas 23,33-49

Liebe Gemeinde!


Der Tod ist für manche faszinierend. Es gibt Menschen, die können nicht nahe genug dabeistehen. Die wollen alles ganz genau sehen. Es ist noch keine zwei Wochen her, da wurde ich zu dem Unfall gerufen, bei dem in der Nähe von Amöneburg ein Motorradfahrer tödlich verunglückte und ein junger Mann im Auto verbrannte. Ein Feuerwehrmann und ein Polizist, mit denen ich gesprochen habe, erzählten mir von Menschen, die nicht nahe genug an die Unfallstelle herankommen konnten. Ein Gaffer bat sogar den Feuerwehrmann, etwas zur Seite zu treten, damit er einen besseren Blick auf den Unfallwagen habe. Gaffer. Ganz anders die junge Frau, die zum Zuschauen verurteilt war. Sie fuhr unmittelbar hinter dem Unfallwagen, wollte helfen, konnte aber nichts mehr tun, außer Polizei und Rettungskräfte zu alarmieren. Menschen starben und sie war zum Zuschauen verurteilt. Ich habe mich mit ihr unterhalten. Es war unaussprechlich schlimm für sie.
Der Tod ist schrecklich faszinierend. An Unfallstellen immer wieder zu erleben. Auch auf Autobahnen. Unfall auf der Gegenfahrbahn, Särge stehen bereit. Gaffer auch. Dann wird weitergefahren. Langsam erst einmal, so ein wenig Schock und Gruseln sind noch da. Aber spätestens übermorgen ist alles wieder wie früher.
Hinschauen oder weitergehen, gaffen oder mitleiden, sich gruseln, weil jeder Tod an die eigene Sterblichkeit erinnert oder sich groß fühlen, weil ja nicht ich, nicht mein Verwandter, nicht mein Freund gestorben ist. Weil ich etwas gesehen habe, das nicht jeder sieht. Es hat einen ganz merkwürdigen Beigeschmack, beim Sterben zuzuschauen.
Aber genau davon erzählt eigentlich Lukas in seinem Evangelium. Alle, die Jesus folgten, alle, die ihm zeit seines Lebens nahe gewesen sind, haben nur von weitem zugeschaut. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne,
auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles. Mit dieser nüchternen Beschreibung endet Lukas‘ Bericht über das Sterben Jesu. Die, die die letzte Lebenszeit mit Jesus geteilt haben, laufen nicht ängstlich davon, sie stehen aber auch nicht direkt betroffen unter dem Kreuz und weinen. Sie stehen fern. Sie schauen zu. Merkwürdig. Aber vielleicht will Lukas, der die Geschichte vom Sterben genau so erzählt, auch den Menschen, für die er sie erzählt, deutlich ma-chen, wo sie, wo wir stehen. Wir können nicht so tun, als wären wir unmittelbar Betroffene. Aber wir müssen auch nicht weglaufen, aus Scham oder Angst. Die Distanz hilft, das Fremde auch fremd sein zulassen und aus dem Fremden für das Eigene zu lernen. Es ist Jesu Sterben, nicht unser eigenes Sterben. Aber dieses Sterben verrät uns etwas über uns und die Welt. Wir dürfen hinschauen, wir müssen es vielleicht auch. Aber eben nicht als sensationslüsterne Gaffer, die sich an Grausamkeiten ergötzen, sondern als Lernende. Jesu Sterben lehrt uns etwas über das Leben. Unser Leben. Zuallererst, dass Sterben zum Leben gehört. Jesus blendet den Tod nicht aus. Gott ist wirklich Mensch geworden. Kein Scheinmensch, der im letzten Moment einen Rückzieher macht und als Gott davon schwebt, sondern radikal mit allem, was zum Menschsein dazugehört. Sterben macht Angst. Die Angst vor einem langen, qualvollen Sterben ist da. Und die Unsicherheit über das, was sein wird. Unser Verstand findet seine Grenze am Tod. Gott ist auch da, wo unser Verstand seine Grenze findet, wo unsere Angst unaussprechlich da ist. Für mich ist das eine Botschaft des Kreuzes Jesu. Eine Botschaft, die wir, solange wir nicht selbst vom Sterben Betroffene sind, tatsächlich nur aus der Distanz sehen können. Aber so, wie sie den ersten Christen, den Jüngern und Freunden Jesu, Kraft gegeben hat, kann sie vielleicht auch heute noch, in unserem Leben, Kraft gewinnen. Nicht im Voraus, sondern dann, wenn es wirklich drauf ankommt, wenn wir die Distanz verlieren, weil es uns real betrifft. Der Test, wer wirklich Macht über unser Leben hat, was wirklich stark in unserem Leben und Sterben ist, findet nicht in der Theorie statt, sondern dann, wenn es soweit ist. Solange bleiben wir in der Distanz. Wir dürfen schauen und lernen. Aber wie viel Kraft das Geschaute und das Gelernte hat, das wird erst der Ernstfall des Todes zeigen.

Und da zeigt Lukas uns in seiner Erzählung drei wichtige Dinge, die er alle mit einem Wort Jesu verbindet. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, so bittet Jesus für die, die sich an ihm vergangen haben und die für seinen Tod sorgen. Vergebung ist der Wille Gottes. Gott will nicht auf Schuld festnageln. Bis zuletzt nicht. Aber die meisten Menschen überspielen die eigene Schuld, die eigene Hilflosigkeit, indem sie dieses großartige Angebot, diese Versöhnung ins Lächerliche ziehen. Die Oberen und das Volk spotten, sie machen sich über die scheinbare Ohn-macht lustig. Und selbst der eine wahre Verbrecher ver-höhnt Jesus noch. Der scheinbar noch schwächere wird getreten, um die eigene Schwäche und Hilflosigkeit zu kaschieren. Versöhnung, Vergebung wird zurückge-wiesen, weil eigene Schuld nicht in den Blick kommt. Vielleicht ist gerade hier die Distanz heilsam, in die Lu-kas die Anhänger, die Jünger, die Freunde, die Frauen um Jesus, und damit auch uns heute, stellt. Hätten wir tatsächlich die Kraft, das Angebot der Versöhnung an-zunehmen, Schuld einzugestehen? Aus der Distanz lässt sich das leicht behaupten. Aber wenn wir schuldig sind, neigen wir dann nicht auch dazu, Schuld zu überspielen und sei es dadurch, dass wir scheinbar Schwächere noch schwächer oder noch kleiner dastehen lassen wollen? Die Distanz hilft vielleicht dabei, zu lernen und dann im richtigen Augenblick doch das Richtige zu tun. So, wie Lukas es von dem zweiten Verbrecher erzählt. Der steht zu seiner Schuld und spürt instinktiv, dass er sich Jesus anvertrauen kann. Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und wieder ein Wort Jesu: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein! Paradies, das ist ein Leben, das eindeutig gut ist. In dem die Mehrdeutigkeiten und die Schuld, die hier, in der Welt, die wir kennen, übermächtig sind, keine Macht mehr haben. Paradies, in der Bibel ist das der Zustand, in dem Gott und Mensch miteinander leben, ohne dass die Schuld sie trennt. Nicht der Tod an sich bringt ins Paradies, erst recht nicht irgendein Märtyrertod. Es ist das Vertrauen in Jesus, in die Vergebung, die er noch – oder eigentlich ja gerade – in seinem Tod schenkt, die Einsicht in die eigene Schuld, die untrennbar dazu gehört, die diese unzerstörbare Einheit mit Gott wieder herstellt. Das, was dieser mit Jesus gekreuzigte Verbrecher anders macht als die anderen ist, dass er seine eigene Situation realistisch beurteilt, die eigene Bedürftigkeit erkennt und sein Heil weder in Ausflüchten noch in scheinbarer Stärke, sondern in bittendem Vertrauen zu Jesus sucht. Aus der Distanz schauen wir zu. Wie die Jünger, die Freunde und Freun-dinnen Jesu. Aus der Distanz lehrt uns Jesus die Einsicht in die Schuld, die Kraft der Vergebung und den Zugang zur Einheit mit Gott. Wir schauen zu – gebe Gott, dass dies ein vertrauendes, lernendes Schauen ist.

Lukas setzt auch weiter eigene Akzente in seiner Erzäh-lung vom Sterben Jesu. Schon vor dem Tod Jesu und nicht erst mit dem Tod zerreißt der Vorhang im Tempel. Der Vorhang regelte den Zugang zum Tempel, nur die Hohepriester durften hinter den Vorhang blicken und Gott nahe kommen. Mit dem, was am Kreuz geschieht, öffnet sich dagegen für alle, für jeden Menschen, der Zugang zum Allerheiligsten, der Zugang zu Gott. Nicht erst der Tod, sondern die Zuwendung zu den Menschen auch im eigenen Leid, die Macht, die Jesus in aller äußerlichen Ohnmacht ausstrahlt, zeigen Gottes Willen und Gottes Wesen.

Und am Ende dann das große Vertrauen: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Wir können wahrnehmen, zuschauen, hinschauen, dass Menschen so sterben. Jesus selbst und in seiner Nachfolge immer wieder auch andere, die voller Vertrauen die Wege konsequent zu Ende gehen, auf denen sie geführt werden. Die nicht nur ihr Leben, sondern ihr Sterben Gott wirklich anvertrauen.

Die Menschen, die dabeistanden, die sogenannten Hei-den genauso wie die Juden, verweigern am Ende Jesus nicht die Anerkennung. In einer Trauergeste schlagen sie sich an die Brust, als Zeichen eigener Schuld, sie kehren um. Und wir? Sind wir unbeteiligte, vielleicht nachdenk-liche Zuschauer in der Distanz? So, wie bei Unfällen oder Fernsehnachrichten, vielleicht geschockt für einen Moment? Ist dieses Sterben eines wie so viele, zu viele andere? Erfreut es uns vielleicht, befriedigt es unsre Lust auf Horror? Oder lehrt es uns, die Schrecken des Todes auszuhalten und mit dem Vertrauen anzufangen? Lehrt es uns, den Weg des Lebens nicht unter Verleugnung von Schuld und eigenem Sterben, sondern durch beides hindurch zu suchen? Werden wir unseren Weg zum Le-ben finden? Die Frage lässt sich von keinem von uns theoretisch oder im Voraus beantworten. Erst wenn wir vom Beobachter zum Betroffenen werden, werden wir erfahren, wo wir sind. Wie wir unseren Weg gehen. In Jesus hat Gott uns den Weg gezeigt, durch ihn hält er ihn uns offen. Bis zuletzt. Damit aus teilnehmenden Be-obachtern lebendige Zeugen werden können.



Amen.

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