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Sonntag, 14. November 2010

It's the Hope, Stupid... - Hoffnung ist (fast) alles?!, Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 14.11.2010, Reihe II

Text: Römer 8,18-25
Liebe Gemeinde!


Können Sie sich an die Zeit vor 35000 Jahren erinnern? Kleine Gedächtnishilfe: damals entstanden die allerersten Höhlenmalereien. Mitten in der Steinzeit. Lange her. Natürlich jenseits unserer Vorstellungskraft. Aber in 35000 Jahren wird das Plutonium, das heute als Atommüll aus unserem Stromverbrauch eingelagert wird, immer noch lebensgefährlich strahlen. Menschen haben letztes Wochenende gegen diesen Müll demonstriert. Allein der Polizeieinsatz hat so viel Geld gekostet, dass 1600 Familien, die Hartz IV bekommen, ein Jahr lang davon unterstützt werden könnten. Jeden Tag verschwinden Regenwaldflächen von der mehrfachen Größe Marburgs für immer. Jeden Tag sterben in Eritrea, Somalia und Äthiopien unzählige Menschen an Hunger und vermeidbaren Krankheiten, weil dort Krieg geführt wird. Christen im Irak werden immer häufiger bedroht und umgebracht, die Welt schaut staunend zu, auch wir Christen in sicheren Ländern. Auch 65 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs und der Massenvernichtung von Juden und Andersdenkenden gibt es immer noch genügend Menschen, die Menschen mit jüdischer Religion als Unglück für unser Volk ansehen und die sich mehr oder weniger heimlich einen neuen Hitler wünschen, der für Ordnung sorgt. Keine Angst, ich habe die Predigt nicht mit den Fernsehnachrichten, mit hart aber fair, Anne Will oder Menschen bei Maischberger verwechselt. Es geht nicht um politische Propaganda. Es geht nicht darum, dass ich als Pfarrer jetzt erst mal allen sagen will, was richtig und was falsch ist. Es geht um das Erbe, das Paulus uns mit dem hinterlassen hat, was er an die Gemeinde in Rom lange vor unserer Zeit geschrieben hat. Als Christ, noch dazu als Pfarrer, bekomme ich öfter mal zu hören: „Weißt du, die Bibel, das ist doch was für das Privatleben. Eigentlich gar nicht mehr aktuell. Fürs stille Kämmerlein und die seelische Erbauung in schlechten Zeiten vielleicht gut.“ Das, was Paulus im 8. Kapitel des Römerbriefs schreibt, hat aber mit Rückzug ins stille Kämmerlein und mit Beschränkung auf die eigene Seele rein gar nichts zu tun. Er macht den Blick ganz weit. Es geht eben nicht nur um mich und meine Seele, um meine Familie, meine Kirche oder mein Land, mein Volk. Mit Jesus hat Gott ein Zeichen der Hoffnung für die ganze Schöpfung aufgerichtet. Die Hoffnung, die Erlösung, die Liebe, macht vor den Grenzen, die wir immer wieder gern ziehen, nicht halt. Seine Liebe, die Erlösung durch ihn, ist maß- und grenzenlos. Gott nimmt die Welt, die Schöpfung in den Blick. Und als Christ, als Mensch, der sich zu Jesus bekennt, der auf ihn seine Hoffnung setzt, kann ich deshalb die Augen nicht vor der Welt zu machen. Der Theologieprofessor und Pfarrer Karl Barth soll vor ungefähr 90 Jahren mal sinngemäß gesagt haben: als Pfarrer, als Christ, muss ich immer die Bibel in der einen und die Zeitung in der anderen Hand haben. Heute würde man vielleicht sagen, mit einem Auge muss ich in die Bibel und mit dem anderen ins Internet und ins Fernsehen schauen. Es geht darum, dass ich die Welt sehe, wie sie ist, wahrnehme, was in der Welt los ist. Denn diese Welt ist Gottes Welt. Diese Welt ist es, der Gott Erlösung verspricht. Nicht meine kleine, private Welt, in der ich es mir so einrichte, dass es mir passt. Wer mit offenen Augen, Ohren und Herzen in der Welt unterwegs ist, der hört ganz bestimmt eine Menge von dem Seufzen der Schöpfung, der bekommt etwas mit vom ängstlichen Warten darauf, dass sich endlich mal was zum Guten ändert. Und das ist ja nicht nur bei anderen und irgendwo in der Welt so. Auch im eigenen Leben gibt es manches, was Angst macht. Ich erspare mir, euch und ihnen mal, Beispiele aufzuzählen. Gott sei es geklagt, viel zu viel ist da, wo Erlösung dringend nötig ist. Aber ich glaube, über alle ganz persönlichen Probleme und Angstmacher hinaus gibt es zwei, drei Dinge, die grundlegend Angst machen und die Paulus in diesen Versen aus dem Römerbrief auch anspricht.

Da ist einmal die Erfahrung der Vergänglichkeit. Leben in dieser Welt hat ein sichtbares Ende. Und von Menschen, die für mein Leben wichtig sind, muss ich immer wieder Abschied nehmen. Und zuletzt sicher auch von dem Wunsch, ewig jung und kraftvoll bleiben zu können und ohne Leid leben zu können. Nichts von dem, was Menschen sich in ihrem Leben aufbauen, bleibt ewig.

Zum anderen ist da, und das hängt mit der Erfahrung der Vergänglichkeit zusammen, das Erleben des Gefühls von Überforderung und auch Resignation. Von mir selbst kenne ich ganz gut den Gedanken: „Ich muss anpacken, ich muss selbst dafür sorgen, dass das was wird.“ Und dann merke ich doch mehr oder weniger schnell, dass ich eben nicht jedem das geben kann, was er braucht und mich nicht für jedes Problem, das dringend ist, einsetzen kann. Manche wollen vielleicht auch die Hilfe, die ich anbieten kann, gar nicht. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, wer sich nicht von vornherein gegen alles abschirmt und sagt: das geht mich nichts an, der wird heute mit einer solchen Fülle von Nachrichten, Eindrücken und Möglichkeiten bombardiert, dass es er sich schnell ganz klein und ohnmächtig fühlt und sich dann doch aus Frust, nicht alles, was wichtig ist, tun zu können, zurückzieht. Paulus verabreicht uns aber durch das, was er hier im Römerbrief schreibt, eine Art Frustschutzmittel.

Erstens erwartet er nicht von Christen, dass sie Super-männer und Superfrauen sind, die sich für alles einsetzen und perfekt sind. Wir stehen als Christen in einer Reihe mit der ganzen Schöpfung, die auf die Erlösung wartet. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes, schreibt er. Zweitens ist die Offenbarung der Herrlichkeit, das Ende aller Leiden, die Vollendung zum Guten nichts, was Menschen herstellen können. Auch noch so gute Christen nicht. Wir alle unterliegen der Vergänglichkeit. Alles, was wir tun und lassen ist vorläufig, nicht ewig. Wo das verwechselt wird, wo Menschen sich anmaßen, allein die Welt zum Guten bringen zu können, ist Diktatur und Unterdrückung nicht weit. Gottesstaaten, Führerstaaten, der Sozialismus mit menschlichem Gesicht – alle Versuche, als Mensch vollkommenes Glück, und sei es auch nur für das eigene Volk oder die eigene Glaubensgemeinschaft, herstellen zu wollen, scheitern und führen zu Gewalt, Maßlosigkeit und Unterdrückung. In Nord-Korea und im Iran, in China, früher in der Sowjetunion, erst recht in Deutschland zur Zeit der Nazis, aber auch in dem Gottesstaat, der vor fast 500 Jahren in Genf eingerichtet wurde oder bei den Verfolgungen von sogenannten Ketzern oder Hexen. Wo Menschen Erlösung herbeizwingen wollen bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Heute, am Volkstrauertag, wird vielerorts an die Opfer solcher Unmenschlichkeit, von Krieg, Nazidiktatur und Stalinismus erinnert. Zu Recht. Damit wir nicht ver-gessen, wohin es führt, wenn Menschen sich an Gottes Stelle setzen. Und sei es manchmal auch angeblich im Namen Gottes. Nicht ich, nicht wir müssen letzte Erlösung schaffen. Der zweite Teil des Frustschutzmittels Römerbrief.

Der dritte Teil ist die Hoffnung, von der Paulus erzählt. Die Hoffnung, dass die Herrlichkeit Gottes alle Leiden überstrahlt, nicht ungeschehen, aber erträglich macht. Die Hoffnung, dass wir und mit uns die Welt durch Gott von allem Leiden, von aller Vorläufigkeit und Vergänglichkeit erlöst wird. Eine Hoffnung, die manchmal dem widerspricht, was sichtbar ist. Hoffnung als Widerspruch gegen das, was als normal, als unabwendbar hingestellt wird. Ein, wie ich finde, schöner Gedanke. Auch bei dem, was offene Augen einem alles zeigen: die ungelösten Fragen beim Atommüll, Gewalt und Leid in Kriegen, Verfolgungen wegen des Glaubens, Menschen, die glauben, andere zu Menschen zweiter oder dritter Klasse machen zu müssen. Hoffnung als Widerspruch gegen das Sichtbare. Paulus macht uns Mut, so zu hoffen. Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld. So schreibt es Paulus. Hoffnung. Nicht, weil wir Träumer sind, die ihre Augen vor der Wirklichkeit zumachen. Sondern weil wir wissen, dass die Wirklichkeit, die Gott schenken wird, mehr bringt als das, was wir kennen und uns vorstellen können. Hoffen, nicht, in dem wir unsere Hände in den Schoß legen oder mit Gewalt unsere Hoffnung durchsetzen. Sondern in dem wir uns für das Leben, das Gott bereit hält, einsetzen. Ohne dabei unseren Willen mit Gottes Willen zu verwechseln. Was in 35000 Jahren sein wird, wissen wir nicht. Aber wir können heute Hoffnung leben und so Zeichen für das Leben setzen.



Amen

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