Beliebte Posts

Sonntag, 7. November 2010

Ich bin... - Wirklich? Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7.11.2010, Reihe II

Predigttext: Römer 14,7-9
Eingangsdialog

Lisa: Wer bin ich?
Marcel: Na, Lisa natürlich!
Lisa: Das weiß ich selbst! Aber wer bin ich eigentlich?
Marcel: Du bist fast meine Nachbarin und die Tochter von Sabiene Kellermann.
Lisa: Ja, schon klar. Aber das reicht doch nicht! Ich bin doch mehr!
Marcel: Also gut, von mir aus: du bist die Schwester von Maurice und Raphael, du bist Schülerin der Martin-Luther-Schule, du bist Konfirmandin…
Lisa: Das weiß ich doch, aber da muss doch noch mehr sein! Wer bin ich denn wirklich?
Marcel: Also, da kann ich dir jetzt auch nicht weiterhelfen. Wer du bist, wer soll das denn wissen, wenn du das nicht weißt?

Liebe Gemeinde!

Spinnereien von Jugendlichen, Haarspaltereien, Kleinkram – so kann man das Gespräch von Lisa und Marcel abtun. Typisch Pubertät, nicht mehr richtig Kind, längst noch nicht erwachsen, irgendwo dazwischen, da ist man halt verwirrt und fragt sich so komisches Zeug, wer man denn nun ist. Ja, als Erwachsener, da muss man im Leben stehen und wissen, wer man ist. Aber weiß ich wirklich, wer ich bin? Der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der im Konzentrationslager saß, weil er ein Attentat auf Hitler vorbereitete und der von den Nazis umgebracht wurde, hatte da auch als Erwachsener so seine Zweifel. Er schrieb an einen Freund: Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? Wer bin ich? Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Klar, auch bei ihm könnte man sagen: der hat halt im Gefängnis zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt und das KZ hat ihn unsicher gemacht. Als Erwachsener weiß man, wer man ist. Kann man sagen. Man. Ich nicht. Zu vielfäl-tig ist das, was mich zu dem gemacht hat, der ich im Moment bin. Und meine Eltern nehmen mich anders wahr als meine Frau. Meine Schüler anders als die Menschen im Altersheim, die ich besuche. Und was denke ich über mich? An Tagen, an denen alles klappt und ich net-ten Menschen begegne oft, dass ich ein ganz guter Kerl bin. Aber leider gibt’s auch andre Tage. Mit dem Ich ist das doch so eine Sache. Keiner von uns kommt als unbe-schriebenes Blatt zur Welt. Nicht nur genetisch geben uns unsere Eltern etwas mit. Und die Umgebung, in die wir hineinwachsen, lässt uns auch nicht unberührt. Niemand kann was für seine Eltern. Und trotzdem steht schon eine Menge auf unserem Lebensblatt, wenn wir die ersten Atemzüge außerhalb des Mutterleibes machen. Eine Menge können wir dann selbst auf das Blatt unseres Le-bens schreiben. Aber es ist schlicht falsch, einfach zu sagen: jeder ist seines Glückes Schmied und hat sein Schicksal selbst in der Hand. Wer bin ich also? Dietrich Bonhoeffer hat eine Antwort gefunden: Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Eine Antwort, die eigentlich schon viel älter ist als die fast 70 Jahre, die der Brief von Bonhoeffer an seinen Freund auf dem Buckel hat. Paulus schreibt nämlich in seinem Brief an die Gemeinde in Rom im 14. Kapitel: Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.

Ja, keiner lebt sich selber. Hört sich altmodischer an, als es ist. Keiner lebt, weil er das für sich selbst entschieden hätte, aus eigenem Antrieb und aus eigenem Willen. Und keiner lebt für sich allein. Binsenweisheiten. Aber es tut gut, sich immer mal wieder klar zu machen, dass es weder mein Verdienst noch meine Schuld ist, dass ich lebe. Und das alles, was ich tue oder lasse, auch Auswirkungen auf andere hat. Ich kann andere zum Lachen oder zum Weinen bringen, ich kann ihnen Gutes tun oder schaden. Selbst Gleichgültigkeit kann manchmal gut tun, wenn sie dem anderen zeigt: mach ruhig, was du für richtig hältst. Gleichgültigkeit kann aber auch schaden, weil eine eigentlich nötige Hilfe nicht geleistet wird. Keiner lebt sich selber – und keiner stirbt sich sel-ber. Scheinbar ganz banal: jeder Tod hat Auswirkungen auf das Leben von anderen, und sei es vielleicht auch nur dadurch, dass ein Platz in einem Seniorenheim frei wird, wenn keiner da ist, der wirklich trauert. Aber hinter beidem, hinter keiner lebt sich selber und hinter keiner stirbt sich selber steckt sehr, sehr viel mehr. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Dem Herrn leben, Gott zu leben, das heißt nicht, dass wir mit unserem Leben Gott dadurch eine Freude machen sollen, dass wir immer schön dass machen, wovon andere sagen, dass Gott es so will. Dem Herrn zu le-ben, das heißt, Gott die Ehre zu geben. Und zwar dadurch, dass wir unser Leben wirklich als unser Leben annehmen. Dadurch, dass wir die Verantwortung annehmen, die Gott uns für unser Leben gibt. Und dass wir daraufhin leben, der oder die zu werden, den oder die Gott in uns sieht. Typisch komplizierter Kling-Böhm-Satz, denken manche vielleicht mal wieder. Dem Herrn, also Gott, zu leben, das heißt erstmal, kein anderer sein zu wollen und Verantwortung für das Leben nicht abzuschieben. Eigentlich Trost und Freiheit. Ich bin was wert, auch wenn ich die Erwartungen meiner Eltern oder meiner Kinder, je nach Blickwinkel, nicht erfülle. Ich bin ein Christ, auch wenn ich nicht alles mache, von dem andere sagen, dass es unbedingt dazugehört. Wir leben nicht, um vor anderen gut da zu stehen, wir leben nicht, um von anderen geliebt zu werden, sondern um selbst zu lieben. Die Menschen und Gott. Wir leben, weil wir geliebt werden. Von Gott. Paulus schreibt seine Be-trachtung über das Leben und Sterben in einem ganz kon-kreten Zusammenhang. Ganz verkürzt könnte man sagen: es ging unter anderem darum, ob ich als Christ Fleisch essen darf oder nicht. Keiner von euch steht höher als der andere, schreibt Paulus dann. Jeder steht mit seinem Glauben und seinem Leben vor Gott. Jeder muss sich für sein Leben, für seinen Glauben verantworten. Gott schenkt uns Freiheit, und wenn du daraus ableitest, dass es keine Gebote über das Essen gibt, dann iss das Fleisch mit gutem Gewissen. Aber du hast es doch nicht nötig, andere zu provozieren. Wenn solche dabei sind, die sich dadurch angegriffen fühlen, dann halte dich ruhig auch mal zurück. Das sind doch alles vorletzte Dinge. Mach nichts wichtiger als es ist. Und wenn es für dich wichtig ist, kein Fleisch zu essen, dann akzeptiere auch, dass es für andere anders sein kann. Vor Gott muss sich der andere verantworten, nicht vor dir! Gelassenheit im Glauben, Gelassenheit im Umgang miteinander. Gelassenheit, nicht Gleichgültigkeit. Gelassenheit, aus der Liebe wachsen kann. Weil ich weder mich noch den anderen ständig umformen muss, sondern weil ich mich und mein Leben ganz Gott anvertrauen darf und weiß, dass der der andere das auch darf. Auch dann, wenn er ganz anders ist als ich. Ich glaube, dass diese Denkweise bis heute wichtig und leider immer seltener anzutreffen ist. Viel zu viel Energie wird aufs Rechthaben verschwendet und die fehlt dann beim rechten Handeln. Wer bin ich nun also? Da kann ich keine Antwort drauf geben. Niemanden. Denn die Frage kann nie abstrakt einfach so beantwortet werden. Immer nur in Beziehung. Wer bin ich – für mich, für meine Freunde, für meine Familie, für die Gemeinde, für den Menschen, der mir morgen früh begegnet? Und die Antworten werden ver-schieden ausfallen. Wer bin ich – am Ende lässt sich das nur von Gott beantworten. Niemand von uns überblickt sein Leben, sein Tun und Lassen, die Konsequenzen davon ganz und gar. Wer bin ich – ein Mensch. Dessen Leben einen sichtbaren Anfang und ein sichtbares Ende hat. Dessen Leben aber vor Gott und für Gott mehr ist als diese sichtbare Zeitspanne. Ein Mensch mit Freiheit und Verantwortung. Ein Mensch, der sich auf das verlassen darf, was Paulus auch schreibt: Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über tote und Lebendige Herr sei. Gott lässt uns nicht im Tod, nicht in unserer Schuld stehen. Gott wird uns vor unser Leben, vor unsere Verantwortung, vor das Gelungene und vor die Schuld stellen. Wir werden die Konsequenzen sehen. Aber wir können sie tragen, weil Gottes Liebe, die er uns in Christus gezeigt hat, uns trägt. Wir können leben. Wir müssen dabei nicht ein anderer werden, sondern wir dürfen wir selbst werden. Weil Gott mein Leben will. Weil Gott mein Leben hält. Mein Leben. Und nicht ein fremdes Leben, das ich vorspiele, um anderen zu gefallen.
Amen

Keine Kommentare: