Text: 2. Kor 13,11-13
Liebe Gemeinde!
Ja, das wäre doch was, wenn wir uns heute Morgen vor der Kirche mit Küssen begrüßt hätten, oder? Grüßt einander mit dem Heiligen Kuss, schreibt Paulus. Statt Händeschütteln vor der Kirche für jeden einen Kuss, und auch im Konfirmandenunterricht am Dienstag: vor dem Beten wird erst mal geküsst. Vielleicht würden es Mädchen untereinander hinkriegen. Aber wenn ich mir das bei den Jungs vorstelle, glaube ich nicht, dass diese Begrüßung ihre Wahl wäre. Und auch zwischen Erwachsenen und Jugendlichen wäre das nicht die Begrüßung meiner Wahl. Zu viele unheilige Küsse spielten in den letzten Wochen in den Nachrichten eine Rolle. Entweder wurde im Namen Gottes geschlagen und gequält oder im Namen Gottes oder einer missverstandenen Erziehung zur Freiheit geküsst oder mehr dort, wo es überhaupt nicht hingehört. Küsse sind in Verruf geraten. Schon in der Bibel gibt es ja den Kuss, mit dem Judas Jesus verrät. Und als eine Frau mit schlechtem Ruf, vielleicht eine Prostituierte, Jesus die Füße küsst, denken die Jünger und die Frommen, dass sich das überhaupt nicht gehört. Begrüßen wir uns also lieber anders, im Gottesdienst, in Konfer, in der Schule, in der Gemeinde. Nicht mit heiligen Küssen, die so leicht missverstanden oder missbraucht werden können. Begrüßen wir uns anders – und trotzdem wünsche ich uns, als Gemeinde, als Konfergruppe, als Menschen auf dem Richtsberg, in Marburg, dass das, was hinter dem heiligen Kuss steckt, auch bei uns wirksam ist, wenn wir uns begrüßen. Wenn ich einen Kuss ernst meine und nicht Vertrauen oder Macht missbrauche, heißt ein Kuss doch: Du bist mir vertraut. Ich mag dich, vielleicht ist sogar echte Liebe dabei. Du bist mir nicht egal. Ich gönne und wünsche dir Gutes. Ich vertraue dir, ich respektiere dich. Du bist Teil meiner Familie. Ich habe eine Beziehung zu dir. Der Streit steht nicht mehr zwischen uns, wir vertragen uns wieder. Das alles kann ein ehrlicher Kuss bedeuten. Auch wenn wir den Kuss weglassen, weil er leicht missverstanden werden kann: Eigentlich sind das alles Dinge, die Miteinander voranbringen. Wenn wir das unabhängig vom Kuss in unserem Leben umsetzen würden, nicht nur sonntags im Gottesdienst, nicht nur dienstags in Konfer, sondern in unserem Zusammenleben auf dem Richtsberg, in Marburg, anderswo, jeden Tag neu, ich glaube, die Welt wäre kaum wiederzuerkennen. Respekt und Achtung voreinander, das Gefühl, zusammenzugehören. Egal, auf welche Schule jemand geht. Egal, wie viel Geld er hat. Egal, ob er jung oder alt, dick oder dünn, Russe, Araber, Türke oder Deutscher, krank oder gesund ist. Ein Traum. Und vielleicht wird er ja dienstags in Konfer, sonntags in der Kirche, montags, mittwochs, donnerstags, freitags, samstags in der Schule, auf der Straße, in der Firma, in den Blocks und Häusern ein Stück Wirklichkeit. Träume werden wahr. Weil wir den Mut haben, anderen nahe zu sein, auch wenn wir uns dazu nicht gleich küssen müssen, weil wir aufeinander achten, weil wir uns achten, respektieren, vielleicht sogar hier und dort ein wenig lie-ben.
Ein Traum, der Traum bleibt? Zu albern? Zu schön, um wahr zu werden? Die Menschen sind nicht so, die Konfis nicht, die Erwachsenen nicht? Ja, das Leben ist kein Ponyhof, auf dem immer die Sonne scheint und alles schön einfach ist. Dauerferien und Dauerglück gibt es nicht. Und Menschen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, können manchmal ziemlich anstrengend, leider auch ziemlich gemein sein. Und trotzdem halte ich fest an dem Traum. Nicht weil ich ein Spinner bin. Sondern weil ich glaube, dass Gott uns den Mut und die Kraft gibt, Träume zu verfolgen, Hoffnung zu behalten, Liebe anzunehmen und zu schenken und uns, zumindest in Gedanken, tatsächlich mit einem Heiligen Kuss zu begrüßen.
Als Paulus vor 2000 Jahren den Brief an die Christen in Korinth geschrieben hat, waren die Christen dort nicht perfekter als wir. Es gab reiche Menschen, die wenig arbeiten mussten, die keine Rücksicht auf die genommen haben, die arbeiten mussten und erst später zu den Gottesdiensten, die immer mit Abendmahl gefeiert wurden, kamen. Manche waren schon vom Abendmahlswein besoffen, bevor die Arbeiter überhaupt kamen. Es gab welche, die hielten sich für was Besseres, weil sie von einem gebildeteren Menschen als Paulus getauft wurden. Es gab ganz Ängstliche, die wollten den Mutigen alles verbieten und es gab Mutige, die haben die Ängstlichen lächerlich gemacht. Es war keine perfekte Gemeinde. Deshalb schreibt Paulus ja auch: „Lasst euch wieder in die richtige Spur bringen, lasst euch ermahnen und trösten“. Klar, es ist nicht schön, auf Fehler aufmerksam gemacht zu werden. Als Schüler nicht, als Konfi nicht und, glaubt mir, als Erwachsener tut man sich vielleicht manchmal damit noch schwerer. Aber im Glauben und auch sonst braucht man manchmal einen Anstoß von außen, um wieder gute Wege zu finden. Jemanden, der offen und ehrlich sagt: Das war so nichts. Was ich schön finde und was leider viel zu oft übersehen und ver-gessen wird, ist, dass im Griechischen, in der Sprache, in der Paulus geschrieben hat und die die Christen in Ko-rinth gesprochen haben, ermahnen, erinnern und trösten das gleiche Wort ist. Es geht nicht darum, den anderen als dumm hinzustellen, weil er etwas falsch gemacht hat und ihn mit seinen Fehlern vorzuführen. Es geht drum, ihn an das, was er glaubt und hofft, an seine guten Fähigkeiten zu erinnern und ihn zu trösten und ihm den Mut zu geben, es besser zu machen. Nicht aus Angst, sondern weil er weiß: Ich kann auch anders. So geht Gott mit uns und unseren Fehlern um. Und ich wünsche uns, dass davon etwas auf unser Miteinander abfärbt. In Konfer, in der Schule, in der Gemeinde, da wo wir leben. Über alle Alters- und anderen Grenzen hinaus. Dass wir uns gegenseitig Mut machen, es besser zu machen und uns nicht unsere Fehler gegenseitig in Ewigkeit vorhalten uns auf das Schlechte, das ja da ist und dass wir auch tun, festnageln. Paulus beendet den Brief an die Christen in Korinth, über die er traurig ist, die ihn enttäuscht haben, nicht mit Ermahnungen und Vorwürfen.
Am Ende stehen ein richtig guter Wunsch und eine gute Hoffnung. Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Das hört sich anders an als: „Ändert euch gefälligst, sonst wird aus euch nichts!“ Auch wenn es sich für uns heute entweder sehr formal anhört, unpersönlich, weil es in fast jedem Gottesdienst so vorkommt oder gar unverständlich, weil im Alltag niemand mehr so redet. Aber genau das sind eigentlich drei große Geschenke für unser Leben. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: da ist einer, der will uns vergeben. Da ist einer, der setzt nicht mit aller Macht sein Recht durch, sondern der begnadigt. Da ist einer, der hält zu uns, auch wenn wir Fehler machen. Da ist einer, der will, dass wir aus unseren Fehlern lernen, der traut uns zu, es besser zu können. Gnade, nicht Rache, nicht Vergeltung, nicht Angst. Für mich kommt das auch im Vater unser vor, wenn wir beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Mache uns großzügig, lass uns nicht kleinlich und rechthaberisch sein. Nicht blind und dumm, sondern ehrlich und großzügig. Auch das ist ein Geschenk der Gnade. Und dann die Liebe Gottes. Da gibt’s eigentlich nichts mehr zu sagen. Oder so viel, dass es für eine eigene Predigt reicht. Zum Beispiel nächsten Sonntag, da geht es dann um die Liebe. Die Liebe, die so groß ist, dass man sie kaum beschreiben kann, die sollst du erfahren. Ist doch ein schöner Wunsch, gerade für die, über die ich mich eben noch geärgert habe. Gott ist nicht nachtragend. Und wir? Und am Ende der Wunsch nach Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist und im Heiligen Geist. Allein geht es einem im Leben wirklich schlecht. Man muss nicht immer einer Meinung sein, um zusammenzugehören. In Konfer nicht, in der Gemeinde nicht, in der Familie nicht. Schließt euch nicht ab, bleibt aufgeschlossen, lasst euch stark machen für ein aufgeschlossenes Leben. Das ist der Wunsch, den Paulus für die Christen in Korinth hat und den ich für uns habe. Und vielleicht, irgendwann, ist es dann auch so weit, dass der heilige Kuss zur Begrüßung nicht peinlich und komisch und mit dummen Hintergedanken verbunden ist, sondern normal wird. Solange können wir ja lernen, uns mit dem Gedanken daran anzufreunden, dass so was möglich sein könnte und möglich war. Und wir können unseren Teil dafür tun, dass die Zusammengehörigkeit, die Liebe, der Respekt, die dahinter stecken, trotzdem spürbar werden. Auch wenn wir uns nicht küssen. Dazu gebe Gott uns allen seinen Segen.
Amen
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