Text: 1. Joh 4,16b-21
Liebe Gemeinde!
Sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht… das darf doch nicht wahr sein, das muss ich nochmal probieren. Oder vielleicht ist Blütenblätterzupfen doch von vorgestern. Vielleicht sollte ich „Love – Leerzeichen – Uli - Leerzeichen – Silke“ als SMS an 83333 schicken, kostet ja nur 4,99 im Top-Abo und das muss es mir doch wert sein, genau zu wissen, zu wie viel Prozent meine Liebste und ich zusammenpassen. Oder vielleicht doch ein Horoskop, das mir Sicherheit verschafft? Furcht ist nicht in der Liebe? – Von wegen! Wer liebt, gibt viel von sich preis. Wer liebt, wird verletzlich, öffnet sich. Und deshalb tut enttäuschte, kaputtgegangene Liebe auch mehr weh als vieles andere. Schmerzen hat niemand gern. Und wenn ich mir Sicherheit verschaffen kann, warum sollte ich dann das Risiko, verletzt zu werden eingehen? 4,99 ist da doch nicht zu viel verlangt! Nein, ich will nichts lächerlich machen. Nicht die Sehnsucht junger Menschen nach Sicherheit in der Liebe. Und auch nicht diese Verse aus der Bibel, zu denen dieses alltägliche Spiel mit der Liebe so gar nicht passt. Natürlich erzählen diese Verse aus der Bibel nicht von einer alltäglichen Zweierbeziehung. Oder vielleicht doch? „Love – Leer-zeichen – Gott – Leerzeichen – Uli“ oder Dorothee oder Lisa oder Marcel oder… - wenn der erste Johannesbrief es ernst meint, dann brauchen wir das nicht per SMS an 83333 zu senden und 4,99 auszugeben, dann dürfen wir glauben, hoffen, wissen: da kommen 100% raus, das passt optimal. Aber trotzdem gibt es Momente im Leben, in denen ich mich frage: Liebt Gott mich wirklich? Liebe ich Gott wirklich? Je stärker Liebe wirklich ist, desto stärker spüre ich auch, was ihr eigentlich alles im Weg steht. Je mehr Liebe da ist, desto mehr wird die Lieblosigkeit auch spürbar. Liebe macht nicht blind. Liebe schärft die Sinne für das, was da ist. Verliebt sein macht blind. Verliebt sein, das den anderen besitzen will und das alles ausblendet, was den anderen stören könnte oder am anderen stört. Verliebt sein, dass sich zuerst an einem romantischen Bild vom anderen, von der Beziehung zueinander leiten lässt und das alles ausblendet, was nicht in dieses romantische Bild passt. Wenn aus Verliebt sein Liebe wird, dann öffnet sie die Augen für die Wirklichkeit und hilft, auch das, was nicht ins rosarote Bild passt, zu sehen und damit umzugehen. Verliebt sein lässt mich MEIN Bild vom anderen sehen, Liebe den anderen selbst. Und da ist sie wieder, die Furcht. Die Furcht, die Menschen seit ewigen Zeiten zu allen Möglichkeiten Tricks, sich scheinbare Sicherheit zu verschaffen, greifen lässt. Die Furcht, dass mein Gegenüber mich nicht mehr liebenswert findet, wenn das Verliebt sein aufhört, das Bild verschwindet und die Wahrheit ans Licht kommt. Die Furcht, dass ich die Wahrheit nicht aushalte, wenn mir die Liebe die Augen für den anderen geöffnet hat. Und da bin ich dann wieder in der Bibel, ganz bei der Liebe Gottes.
Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht rechnet mit Strafe. So kann man zuerst und eigentlich tatsächlich nur von der Liebe reden, mit der Gott uns Menschen liebt. Die Liebe, die in Jesus nicht nur sichtbar geworden ist, sondern die von ihm mit Leben gefüllt wurde. In Jesus, in der Art und Weise, wie er Menschen begegnet ist, begegnet Gott selbst. Jesus war nicht nur ein netter Prophet oder ein guter Lehrer. Sondern er ist Gottes Mensch gewordene Liebe. Diese vollkommene Liebe will unsere Furcht vor dem Versagen, vor Strafe vertreiben. Jesus hat gezeigt, dass die Liebe Gottes keine Belohnung für ein immer richtiges Verhalten ist. Jesus ist zu den Menschen gegangen, die alles andere als fromm und liebenswert waren. Zu denen, die als Betrüger, als Prostituierte, als Zweifler schon vieles im Leben falsch gemacht haben. Er hat denen, die von sich wussten, dass so vieles in ihrem Leben nicht gut gelaufen ist, gezeigt, dass sie im wahrsten Sinn des Wortes liebenswert, der Liebe wert sind. Obwohl es ihre eigene Schuld war, obwohl sie ihre Fehler nicht auf andere, auf die Umstände, auf die Gesellschaft abschieben konnten. Es geht nicht um Überheblichkeit, nicht darum, dass die so geliebten nun plötzlich absolut fehlerlos und besser als andere wären. Es geht um die Erkenntnis, dass ich ehrlich sein darf, dass ich mich nicht besser als ich bin machen muss, damit ich geliebt werde. Und hier wird für mich die Liebe Gottes, die Furcht vertreibt, ganz praktisch im Alltag umsetzbar und erfahrbar. Das, was ich am Anfang so lang erzählt habe, die Furcht, enttäuscht zu werden oder auch andere zu enttäuschen, ist ja nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die, dass ich doch auch im Alltag spüren kann: Liebe nimmt mir die Furcht. Auch wenn ich eine Abfuhr riskiere: Wenn ich jemanden wirklich liebe, werde ich ihm das sagen. Und natürlich gibt es keine Garantie, dass eine Ehe, eine Beziehung ein Leben lang hält. Und in jeder Beziehung, Ehe, Partnerschaft und auch und gerade in der Liebe zwischen Eltern und Kindern, wird es Momente geben, in denen man sich gegenseitig richtig weh tut und wirklich auch aneinander schuldig wird. Und sicher gibt es auch manchmal Beziehungen, in denen wirklich Liebe da war, die an ein Ende kommen. Das weiß ich und sehe ich. Aber Liebe macht Mut, sich nicht von der Furcht, dass etwas kaputtgeht, sondern von der Hoffnung, dass Umkehr und Neuanfang möglich sind, leiten zu lassen. Sonst wäre, glaube ich, keine Ehe mehr da, die nicht geschieden wäre. Sonst würden, glaube ich, alle Kinder ihre Eltern verlassen oder umgekehrt alle Eltern ihre Kinder auf die Straße setzen. Die Liebe, die sich aus der Liebe Gottes stark machen lassen kann, macht uns nicht blind, sondern lässt uns in der Wirklichkeit, mit der Wirklichkeit leben und sie lässt aus der Wirklichkeit Gutes entstehen. Sicherheit gibt es nicht. Es kann schief gehen. Aber auch dann, wenn es schief geht, bleibt uns die Liebe, mit der Gott uns neu zum Leben anstiften will. Für mich verliert so auch der Satz „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ seinen Schrecken. Wenn ich ihn so verstehen müsste, dass Gott mich nicht mehr liebt, sobald ich etwas nicht Liebenswertes tue, dann müsste ich durchdrehen, dann wäre ich schon lange wirklich Gott fern. In der Liebe bleiben heißt auch und gerade bei Gott: der Beziehung immer wieder eine neue Chance geben. Sich dem Leben stellen und mit dem Leben und am Leben wachsen. Gott ist nicht der tote, starre Gott, der ein für allemal unveränderlich bleibt. Er offenbart sich Mose mit den Worten: „Ich werde der sein, der ich sein werde“ – das heißt: ich bin der Lebendige. Du kannst mich nicht wie ein Bild festhalten, ich bin lebendig. in der Liebe bleiben heißt: eine Beziehung nicht in Gesetzen und Regeln und Bildern erstarren zu lassen, sondern dem Leben mit seinen Veränderungen eine Chance zu geben. Und von da aus wird deutlich, was hier in diesem Brief ganz wichtig ist. die Liebe, mit der Gott Menschen liebt, ist mehr als eine bloße Zweierkiste. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht? Für mich ein Schlüsselsatz. Dort, wo ich Menschen Leben möglich mache, dort liebe ich Gott. Liebe heißt, den anderen wirklich Mensch sein lassen. Das kann ich auf verschiedene Art. Und das ändert sich auch. Weil Liebe eben im Leben spielt und nicht zwischen Buchdeckeln oder auf Bildern oder in filmen. Liebe muss nicht, kann aber mit Bauchkribbeln und Schmetterlingen verbunden sein. Den anderen Mensch sein lassen, das kann heißen, ihm zu zeigen, wie besonders er für mich ist und wie sehr ich ein Leben mit ihm schätze. Das kann aber auch heißen, dem anderen einen gerechten Lohn für seine Arbeit zu bezahlen und ihn nicht auszubeuten. Den Bedürftigen nicht im Elend zu lassen. Oder dem schwierigen Jugendlichen zu helfen, Auswege und einen Platz im Leben zu finden. Liebe kann auch heißen, den anderen nicht mit Schimpfwörtern klein zu machen. Liebe heißt: den anderen Mensch sein lassen. Dazu braucht es kein Kribbeln im Bauch. Es braucht die offenen Augen, das offene Herz, die Bereitschaft, sich auch enttäuschen zu lassen. Wer Sicherheit sucht, wird die Liebe verlieren. Wer loslassen kann, wird sie finden und gewinnen. Gottes Liebe ist deshalb so groß, weil Gott losgelassen hat. Das Bild vom perfekten Menschen, der alle Gebote und Regeln halten und erfüllen muss, um zu ihm kommen zu dürfen. Gott hat sich dem Menschen, dem Leben ganz zugewendet. Im Menschen Jesus Christus. Und weil das so ist, dürfen wir uns auch von unseren Bildern verabschieden. Und lieben. Und leben.
Amen
Predigten und Gedanken aus der Thomaskirche auf dem Richtsberg in Marburg
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