Text: 1. Timotheus 2,1-6
Liebe Gemeinde!
Seit Wochen hat es geregnet, die Flüsse sind angeschwollen, Hochwasser. Tief unten, ein Haus, direkt am Fluss. Das Wasser steigt und steigt, es schwappt schon in den Flur und die Zimmer im Erdgeschoss. die Feuerwehr kommt und will den Mann, der in dem Haus wohnt, mitnehmen. „Nein, nein, geht ruhig weiter“, sagt der Mann. „Ich habe gebetet und Gott um Hilfe gebeten, er wird mich retten!“ Die Feuerwehr zieht ab, das Wasser steigt und steigt. Der Mann muss ins Obergeschoss. Ein Rettungsbott des Technischen Hilfswerks kommt vorbei. Die Besatzung will den Mann dazu bewegen, einzusteigen und mitzukommen. . „Nein, nein, fahrt ruhig weiter“, ist seine Antwort. „Ich habe gebetet und Gott um Hilfe gebe-ten, er wird mich retten!“ Unverrichteter Dinge dreht das Boot ab. Auch das Obergeschoss läuft voll, der Mann muss auf das Dach. Ein Helikopter kommt, lässt ein Seil herunter, die Besatzung fordert den Mann auf, es sich umzuschnallen und mitzukommen. . „Nein, nein, fliegt ruhig weiter“, bekommt auch der Pilot zu hören. „Ich habe gebetet und Gott um Hilfe gebeten, er wird mich retten!“ Der Hubschrauber fliegt weiter. Das Wasser steigt und steigt. Der Mann kann sich auch auf dem Dach nicht mehr halten. Kurz vor dem Ertrinken ein wütender Protestschrei gegen Gott: „Immer habe ich dir vertraut, immer gebetet und jetzt lässt du mich einfach im Stich, du Verräter!“ Dann hört der Mann eine Stimme: „Weißt du, als du die Feuerwehr, das Boot und den Hubschrauber, die ich dir zur Rettung geschickt habe, weggeschickt hast, wusste ich auch nicht mehr weiter!“
„Hey, Gott, hörst du mich überhaupt, wenn ich bete?“ Das ist eine Frage, die mir immer wieder begegnet. Bei Kindern und Jugendlichen in Schule und Konfer. Bei Erwachsenen, bei Geburtstagsbesuchen und Trauergesprächen. Am Leben gehalten werden die Zweifel, ob es sich überhaupt lohnt, zu beten, oder ob man sich da nicht selbst was vormacht, durch viele Erfahrungen. „Ich hab’s ja versucht. Ich hab gebetet. Nicht um eine 1 in Mathe, obwohl ich nicht gelernt habe, sondern darum, dass meine Oma keine Schmerzen mehr hat und wieder gesund wird und dann ist sie doch gestorben und vorher ging es ihr gar nicht gut.“ Da geht es wirklich um Leben und Tod, da geht es noch nicht mal um egoistische Dinge. Und Gott, der doch die Liebe sein soll, schweigt. „Gott, du hörst mir ja nicht zu, wenn ich mit dir rede. Mit dir bin ich fertig!“ Einem Menschen, der diese Erfahrung gemacht hat, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, kann ich nicht mit schlauen Argumenten kommen. Eine Erfahrung, die Zweifel am Sinn von Gebeten wachhält ist die, dass es nicht nur manchmal ganz anders kommt, als ich es von Gott eigentlich erwarte, sondern dass trotz ernstgemeinter Gebete viele traurige und schlimme Dinge passieren.
Eine andere Erfahrung ist die, dass ich für alles, was passiert, auch andere Erklärungen finden kann. Für die Rettungsangebote aus der kleinen Überschwemmungsge-schichte muss ich nicht unbedingt auf das Wirken Gottes zurückgreifen, um sie zu erklären. Da genügen ein guter Katastrophenplan und gut ausgebildete Helfer. Und selbst dann, wenn jemand ganz begeistert erzählt, dass Gebete geholfen haben, ihn von einer Krankheit zu heilen, kann ein naturwissenschaftlich orientierter Zweifler einwenden, dass das kein Beweis sei und dass dann, wenn die Wissenschaft weiter fortgeschritten sei, sicher auch eine natürliche Erklärung gefunden werden könnte. Und außerdem wird ja nicht jeder körperlich gesund, der darum betet oder für den gebetet wird.
Es lässt sich nicht naturwissenschaftlich beweisen, dass Beten sinnvoll und wirksam ist. Wer zweifeln will, wird immer wieder Grund dazu finden. Und wer im Gebet eine Hilfe für das eigene Leben sieht, wird sich von anderen und ihren Zweifeln auch nicht davon abbringen lassen.
Weil ich nicht objektiv, also unabhängig von mir selbst und meiner Beziehung zu Gott, beweisen kann, ob Beten funktioniert, ist für mich die entscheidende Frage beim Gebet auch nicht „Hey, Gott, hörst du mir zu?“ sondern: „Hey, Ulrich, bist du bereit Gott zuzuhören?“ Für mich ist das der Knackpunkt in der Überschwemmungsgeschichte. Der Mann hatte die Vorstellung, dass Gott nur durch übernatürliche Wunder Menschen begegnet. Er hatte ein festes Bild im Kopf – und weil Gottes Antwort nicht dem Bild entsprach, konnte er sie nicht hören. Gott ist keine Wunscherfüllungsmaschine, die meinen Willen Wirklichkeit werden lässt. Wenn Beten sinnvoll ist und sich lohnt, dann deshalb, weil ich im Gebet ein lebendiges und kritisches, vor allem aber liebendes Gegenüber zu mir und meinen Bildern und Wünschen erfahren kann. Beten lässt mich menschlich sein. Beten stellt mich in Beziehung. Zu Gott, zur Welt um mich herum. Beten hilft mir, Schweres abgeben und Schönes teilen zu können. Beten hilft mir, nicht alles von mir, von Menschen zu erwarten, sondern zu Schwächen stehen zu können. Beten lässt uns nicht aus der Welt fliehen, in eine Scheinwelt, sondern das Gebet öffnet uns für die Welt, für das Leben.
Die Welt in den Blick nehmen. Darum geht es ja auch in dem, was ich eben aus dem 1. Timotheusbrief vorgelesen habe. „Vor allen Dingen tut Bitte, Gebet, Fürbitte und Dank für alle Menschen, auch für die Könige und Obrigkeit.“ Im Gebet könnt ihr das ganze Leben vor Gott bringen und zu Gott in Beziehung setzen. Dank für die schönen Dinge, die gut tun, Bitte und Fürbitte halten für das, was sich unserem Können entzieht, was schwer zu tragen oder zu ertragen ist – und das nicht nur bei mir selbst, nicht nur bei den Menschen, die ich gut finde, sondern Gott will, dass es allen Menschen gut geht. Nehmt die Welt in den Blick. Auch die Regierenden. Merkwürdige Vorstellung für viele. Für die Regierung zu beten. Glauben hat doch mit Politik nichts zu tun! Doch, hat er. Nicht mit Parteipolitik. Aber warum sollen wir nicht dafür beten, dass die, die Verantwortung für eine Stadt, ein Land, die Geschicke der Welt tragen, vom Willen zur Versöhnung in ihren Entscheidungen getragen sein sollen. Warum sollen wir nicht dafür bitten, dass sie Liebe erfahren und weitergeben, dass sie den Mut haben, richtige Entscheidungen zu treffen und Fehler nicht vertuschen, sondern aus Fehlern lernen. Warum sollen wir nicht um gute Regierung beten? Natürlich sind Interessen verschieden. Es geht nicht darum, um die Durchsetzung von Parteiprogrammen zu beten, sondern um den Mut, Frieden und Versöhnung zu leben. Und dazu braucht es immer wieder Kraft. Missverstanden wurde oft der Nachsatz „damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Die ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserem Heiland“. Es geht nicht darum, sich als Christ aus der Welt zurückzuziehen und die Welt und Politik als Orte zu betrachten, die uns gar nichts angehen, sondern darum, in Ruhe, Frieden und Sicherheit den eigenen Glauben leben zu können. Es geht nicht darum, für das Wohl von Diktatoren und menschenverachtender Politik zu beten, sondern darum, dass diejenigen, die Verantwortung tragen, dieser Verantwortung für den Menschen gerecht werden. Und aus der Sicht von Christen im Irak, die Angst haben müssen, Gottesdienste zu feiern, in Nordkorea, die lebensbedrohlich verfolgt werden, in Saudi-Arabien und vielen anderen Ländern der Welt wäre es schon ein Gewinn, wenn die Regierung sie einfach in Ruhe glauben ließe. Wir haben uns an Demokratie und Glaubensfreiheit gewöhnt und vergessen manchmal die Schwestern und Brüder, für die Ruhe nicht falsche Zurückhaltung und Unterstützung falscher Politik bedeutet, sondern zuerst einmal überhaupt die Möglichkeit, leben und glauben zu dürfen.
Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle als Lösegeld. Beten macht nicht heilig, sondern mensch-lich. Jesus hat uns allen, allen Menschen, den direkten Draht zu Gott freigeschaltet. Wenn wir mit Gott reden wollen, dann brauchen wir außer Jesus keine Vermittlung mehr – weder eine Vermittlung über besondere Worte noch besondere Rituale oder Zeiten, schon gar nicht braucht es besondere Menschen oder gar Heilige, die uns bei Gott vertreten müssten. Jesus genügt. Er hat uns, die wir sozusagen gekidnappt waren in Egoismus, in dem Wahn, uns selbst erlösen zu müssen, im Wahn, gegeneinander und nicht miteinander leben zu müssen, freigekauft. Er hat uns nicht nur die Verbindung zu Gott wirklich freigeschaltet, sondern er stellt uns alle nebeneinander, weil Gott alle Menschen wichtig sind. Auch die, mit denen wir uns schwer tun. In Jesus zeigt uns Gott, dass wir gerade im Gebet wirklich Mensch sein dürfen. Jesus hat sich getraut, auch zu rufen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er hat auch gebetet: „Vater, wenn’s möglich ist, lass diesen Kelch, diese schwere Prüfung, an mir vorübergehen“. Beten heißt nicht, den Helden zu markieren. Beten heißt nicht, alles besser zu wissen. Beten heißt, Leben vor Gott bringen zu können. Das ganze Leben. Abgeben zu dürfen, was schwer ist. Beten heißt nicht, die Antwort schon zu kennen, sondern mit überraschenden, manchmal ziemlich naheliegenden, manchmal auch ganz menschlichen Antworten rechnen zu dürfen. Beten heißt für mich, ein Stück Himmel auf der Erde zu erleben und dem Himmel ein Stück Erde zu geben. Beten schenkt Freiheit. Weil ich aus meinem manchmal doch ziemlich engen Horizont herausgeholt werde. Und vielleicht öffnet mir Gott ja auch die Augen und Ohren dafür, dass ich nicht auf das große Wunder warten muss, wie das Überschwemmungsopfer, sondern dass ich im Alltag Gott spüren kann. Manchmal sich auch ganz anders als ich das will.
Predigten und Gedanken aus der Thomaskirche auf dem Richtsberg in Marburg
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