Text: Joh 1,1-5.9-14
Theorie und Praxis sind oft genug zwei verschiedene Paar Schuhe. In der Theorie weiß ich, wie und warum ein Auto funktioniert, aber praktisch eins reparieren oder bauen - das kann ich nicht! In der Theorie sind viele Dinge, die sich Ingenieure oder Architekten ausdenken wunderbar, wenn’s aber an die Umsetzung in die Praxis geht - fragen sie mal gestandene Maurer oder Schlosser, was sie von den theoretisch tollen Gedanken im praktischen Normalfall halten. In der Theorie ist das mit der Nächstenliebe ja eine gute Idee - aber in der Praxis hat Jürgen das nicht verdient, weil er sein ganzes Geld versäuft, Thomas auch nicht, weil er immer anfängt, die anderen zu ärgern, Frau Müller nicht, weil sie nie die Hausordnung macht und überhaupt - man muss ja schließlich sehen, wo man bleibt. Theoretisch ist es ja ganz nett, an Gott zu glauben - aber praktisch ist die Welt doch viel zu schlecht, um den Glauben an Gott zu rechtfertigen!
Theorie und Praxis - zwei Dinge, die irgendwie nicht recht zusammenpassen? Es wäre schade, wenn es so sein und bleiben müsste. Wörtlich übersetzt heißt Theorie nichts anderes als „Schau“ - anschauen, überlegen, untersuchen, betrachten. Zeit nehmen, Verbindungen erkennen, einen Überblick gewinnen, Zusammenhänge sehen - an Theorie ist nichts Schlechtes. Und vielleicht haben sie ja gerade in diesen Weihnachtstagen Theorie betrieben - einfach mal geschaut. Gestaunt, wie Gottes Liebe Wirklichkeit wird. Verbindungen gefunden, wo überall Gottes Liebe ist, obwohl es oft ganz anders aussieht. Zeit gehabt zum Nachdenken - ohne Hetze und ohne das Gefühl, immer nur für andere irgendwas machen zu müssen. Theorie kann gut tun. Und dann, wenn sie gut tut, ruft sie auch nach Praxis. Weihnachten will gefeiert werden. Liebe gibt sich nicht mit Gedanken zufrieden, sondern sucht den Menschen, dem sie geschenkt werden kann. Theorie und Praxis, Schauen, erkennen, betrachten und handeln gehören zusammen. Gerade wenn es darum geht, wie Gott in diese Welt kommt, wie er hier in dieser Welt erlebt werden kann.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. So haben wir es eben gehört. Gottes Wort - sein Schöpfungswille, seine Liebe, das drängt nach, Fleisch zu werden - sichtbar, erfahrbar, spürbar mitten im Leben. Weihnachten ist das Fest, das Theorie und Praxis miteinander verbindet. Gottes Wort wird fassbar, im wahrsten Sinn des Wortes greifbar. Im Leben des Menschen Jesus, in dem, was er tat in ganz praktischen, tatsächlichen Handlungen zeigt sich Gott. Aber warum sind dann nicht alle Menschen, die Jesus begegnet sind, ihm nachgefolgt? Warum haben dann so viele in dem, was er getan und gelassen hat, nicht Gott an Werk gesehen sondern, im Gegenteil, in ihm einen Gotteslästerer gesehen? Warum sind heute noch Menschen so ablehnend oder desinteressiert, wenn es um den christlichen Glauben geht, obwohl Weihnachten weltweit doch zu den beliebtesten Festen gehört? Es ist schon irgendwie merkwürdig, dass Menschen das Fest der Geburt Jesu feiern, von diesem Jesus aber nichts wissen wollen.
Ich glaube, dass auf uns Menschen, Christen wie Nichtchristen, Gläubige anderer Religion und solche, die den Gedanken an einen Gott total ablehnen, oft genug das zutrifft, was im Johannesevangelium so ausgedrückt wird: und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. Wir wollen nicht wirklich schauen und sehen, dass Theorie und Praxis seit Jesus und durch ihn sich gegenseitig brauchen und zusammengehören. Die einen bleiben gern nur in der Praxis. Wozu Theorie? Ich glaube nur, was ich sehe, was ich kenne. Nur das, was sichtbar und greifbar ist, ist wichtig. Und da sehe ich, schon wenn ich bei Jesus selbst anfange, oft wenig Greifbares. Ich muss sehen, dass die einzelnen Bücher der Bibel seine Worte unterschiedlich wiedergeben. Ich muss sehen, dass keiner weiß, wann er nun wirklich geboren wurde. Es gibt keine Geburtsurkunde des Standesamts Bethlehem, in der die Nacht vom 24. auf den 25.12. im Jahre 0 vermerkt wäre. Im Gegenteil. Das Geburtsjahr Jesu muss vermutlich so zwischen 7 und 4 v. Chr. liegen, Tag und Monat lassen sich überhaupt nicht bestimmen. Ich muss sehen, dass es alles andere als eine große Mehrheit war, die sich von ihm hat begeistern lassen. Und vor allem muss ich sehen, dass schon sehr bald Streit darüber einsetzte, wie das, was Jesus gesagt und getan hat, richtig auszulegen sei. Dass im Namen Jesu, der Mensch gewordenen Liebe Gottes, Kriege geführt wurden, grausame Verfolgungen stattfanden und bis heute die Christen untereinander uneins sind. Diese Praxis ist Finster und macht es schwer, in der Finsternis das Licht zu sehen. Es gibt auch die andere, die fromme Praxis, die nichts hinterfragt, die nichts betrachten will, sondern die einfach sagt: nachdenken lohnt sich nicht, brauche ich nicht, Hauptsache ich bete und lobpreise, dann ist schon alles gut. Oder die, die in Jesus einen fortschrittlichen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sehen, ohne dass mehr dahinter stecken könnte.
Das Licht in der Finsternis sehen und ergreifen, das können wir nur, wenn wir das, was wir vor uns sehen, immer wieder mit dem in Verbindung bringen, was uns als Wort der Liebe längst gegeben ist. Wenn wir uns Zeit nehmen, die Praxis, die Handlungen nicht nur für sich zu sehen, sondern sie im Licht der Liebe, des guten Willens Gottes zu betrachten und kritisch zu hinterfragen. Wer in Gottes Namen Krieg führt, wer in Gottes Namen meint, sich über andere erheben zu können, der bleibt in der Finsternis, weil er das Licht der Liebe nicht in sein Leben hineinlässt. Gott ist Mensch geworden - auch und gerade für die Zweifler, auch und gerade für die, die Schuld auf sich geladen haben, auch und gerade für die, die ihre Schwierigkeiten mit dem haben, was von Menschen als Gottes Wille ausgegeben wurde. Und immer noch wird. Gott will, dass Menschen die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit ist, dass wir auf Gnade und Liebe angewiesen sind und dass niemand diese Gnade und Liebe exklusiv für sich pachten kann, sondern dass Gottes Wort der Liebe für alle Menschen Fleisch geworden ist, dass Gottes guter Wille allen Menschen gilt. Dass wir Geschwister sind. Wie das bei Geschwistern auch manchmal so ist, sicher nicht immer frei von Neid und Streit, aber doch gleich wichtig, gleichwertig, zusammengehörig. Dass wir gemeinsam Erben dessen sind, was Gott durch das Weihnachtsgeschehen, die Menschwerdung seiner Liebe, bezeugt hat: Versöhnung, Vergebung, Gnade, die uns geschenkte Gerechtigkeit, trotz aller Fehler und aller Schuld geliebte Kinder zu sein.
Theorie und Praxis, Wort und Fleisch nicht voneinander zu trennen heißt auch, dass ich den Mut habe, mich nicht mit dem zufrieden zu geben, was ich sehe, sondern dass ich das Vertrauen finde, in dem, was ist, mehr zu sehen. Auch in dem Guten. Dass ich in Jesus nicht nur einen vorbildlichen Freiheitskämpfer oder guten Seelsorger sehen kann, sondern Gottes Liebe. Dass ich dort, wo Menschen heute einander Gutes tun, das Vertrauen habe, Gottes Liebe am Werk zu sehen. Das Wort ward Fleisch - Gottes Liebe drängt danach, ins Leben zu kommen und erfahrbar zu werden. Weihnachten drängt danach, Alltag zu werden. Natürlich wird es da, wo wir Menschen am Werk sind, wo wir Liebe schenken und weitergeben, nie vollkommen zugehen. Wir werden immer einander Liebe und Gutes schuldig bleiben. Aber in allem, wo wir lieben, ist ein Funke des Lichtes da, dass die Finsternis hell macht. des Lichtes, von dem das Evangelium erzählt.
Glauben braucht beides - Theorie und Praxis. Die Fähigkeit, hinter die Dinge zu sehen, Zusammenhänge zu erkennen und den mut, Richtiges zu tun. Die Zeit, einfach nur staunend betrachten zu dürfen - und den Alltag. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. Noch ist nicht zu Ende gekommen, was Gott mit diesem Einbruch ins Leben, mit diesem Aufbruch zum Leben in Gang gesetzt hat. Noch ist der Alltag alles andere als herrlich, noch ist die Praxis unseres Handelns oft genug mehrdeutig. Aber ein Anfang ist von Gott gemacht. Ein Anfang, der Vertrauen wecken will und Mut zum Schauen macht. Zum Schauen auf die Hoffnung, dass das, was durch das Wort der Liebe im Menschen Jesus begonnen wurde, von Gott zu einem guten Ende gebracht wird und dass wir uns in unserem Schauen und Handeln, in unserer Liebe, trotz aller Vorläufigkeit und aller Begrenztheit davon anstecken lassen dürfen.
Amen.
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