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Freitag, 22. November 2013

Wach bleiben - für die Liebe, die alles neu macht, Ewigkeitssonntag, 24.11.13, Reihe V

Text: Markus 13,31-37


Liebe Gemeinde!
Eine der schlimmsten Foltermethoden ist der dauerhafte Schlafentzug. Wer nicht zur Ruhe kommt, wer nicht wenigstens ein Minimum an Schlaf bekommt, der dreht irgendwann völlig durch. Eine Ahnung davon bekommt der, der nachts wachliegt, und alle Sorgen und Gedanken kommen wieder und wieder, Schlaf geht gar nicht mehr. Und das nicht nur tage-, sondern wochen-,  manchmal auch monatelang. Immer wieder: Wachsein, Wachsein, Wachsein, wo doch eigentlich Ruhe sein sollte, damit neue Kräfte wachsen können. Leer und verbraucht steht man schon morgens da – und abends dann wieder die Angst, keine Ruhe zu finden. Wachet! Oft genug ist es die Begegnung mit dem Tod, die Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Einsamkeit, weil einfach ein ganz wichtiger und lieber Mensch fehlt. Die Fragen, wie das jetzt alles ohne diesen Menschen weitergehen soll. Das Gefühl, nicht genug gegeben oder vielleicht auch nicht genug empfangen zu haben. Die Erinnerung an das Schöne oder an das Liegengebliebene zwischen Menschen, das keine Änderung mehr erfährt. Oder einfach nur ein Durcheinander im Kopf, Fragen, Fragen, Fragen, die der Tod aufgeworfen hat und die keine Antwort finden. Wachet! Vielleicht kommt dem einen oder der anderen, die heute hier im Gottesdienst ist, diese Aufforderung von Jesus wie Hohn vor. Zu frisch, zu intensiv sind vielleicht noch die Gedanken an den Menschen, von dem im zu Ende gehenden Jahr oder vor einiger Zeit Abschied genommen werden musste. Wachet!? – Du hast gut reden, das muss ich doch immer und immer wieder! Ich will endlich wieder ruhen können! So mag manche und mancher denken.
Ruhe finden. Ruhe in Frieden – das ist ein Wunsch, der oft Verstorbenen mitgegeben wird. Und gerade im Alten Testament, das ich so liebe, weil es so wunderbar ehrlich vom Menschsein erzählt, ist ganz oft davon die Rede, dass die Ruhe eine gute Gabe Gottes ist. Kehrt Jesus das hier etwa um? Widerspricht er dem Vater, der seinen Menschen Ruhe gönnen und schenken will, wenn er ruft: Wachet!? Ich glaube nicht, dass das ein Widerspruch ist, sondern dass es Wachheit im Sinne Jesu braucht, um Ruhe zu finden. Und mit dieser Wachheit, von der Jesus spricht, ist nicht das nächtliche Wälzen im Bett vor lauter Sorgen gemeint, sondern eine Aufmerksamkeit, die dabei hilft, auch die Momente der Ruhe und des Friedens zu finden.
Ruhe finden – nicht zuletzt heißt das auch: Loslassen können! Am Anfang mag es ein Trost sein, zu hören und zu glauben: „Wenn einer gestorben ist, dann lebt er in unseren Erinnerungen weiter!“ Aber wie ist das, wenn die Erinnerungen blasser werden? Töte ich dann den, der gestorben ist, erst richtig, mit jeder verblassenden Erinnerung ein bisschen mehr? Wie ist das mit den Menschen, die wegen ihrer Grausamkeit vielen, vielen Menschen über Jahrhunderte und Jahrtausende weg im Gedächtnis bleiben, wie Nero, Stalin, vor allem Hitler: haben die es verdient, ewig zu leben, während Millionen von Menschen, die im Stillen ihren Kindern, ihren Männern, ihren Frauen, ihren Nachbarn, Fremden gut getan haben, längst vergessen und damit, nach dieser Logik, richtig tot und ohne jede Chance sind? Wie ist das mit den Menschen, die ganz einsam gestorben sind? Vergisst Gott die auch, weil sich Menschen nicht mehr an sie erinnern? Ruhe finden, das heißt auch: Erinnerungen loslassen können. Weil eben nicht unsere Erinnerungen Grund dafür sind, dass Gott Sieger über den Tod ist und wir nur durch unsere Erinnerungen an andere darauf vertrauen dürfen, dass Menschen nicht in die absolute Beziehungslosigkeit, das absolute Nichts fallen, sondern weil Gottes Wort der Liebe und der Versöhnung, Mensch geworden in Jesus, Grund für die Hoffnung ist. Wir überfordern uns und stellen uns letztlich an Gottes Stelle, wenn wir glauben, wir müssten durch unsere Erinnerungen ewiges Leben produzieren. Ruhe finden heißt auch: Loslassen können, so schwer das im Einzelnen auch sein mag. Loslassen können und Gott überlassen, was sein ist, nämlich die Sorge um ein Leben, um Beziehungen, die jenseits unseres Denkens und Könnens liegen.

„Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen“ – so sagt Jesus. Das sichtbare Leben, das was wir kennen und mit unserem Denken und Erinnern einigermaßen erfassen können, das kann gar nicht ewig sein – aber Liebe, Versöhnung, die Verwandlung der Schöpfung am Ende der Zeit, das hat Bestand. Und darum müssen wir uns nicht sorgen, das dürfen und müssen wir ihm überlassen. Damit wir wachsam bleiben – für diese Welt, in der wir leben, in der wir immer wieder Spuren des Lebens, das stärker als der Tod ist, entdecken können.
Die Wachsamkeit, von der Jesus redet, ist nicht das schlaflose Durchwachen von Nächten, getrieben von der Angst um die Zukunft oder der Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit. Die Wachsamkeit, von der Jesus redet, ist nicht das krampfhafte Festhalten an dem, was sich irgendwann einmal als hilfreich erwiesen hat, und die Wachsamkeit ist nicht die Angst vor Veränderungen und der Versuch, wachsam alles aus der Vergangenheit zu bewahren. Die Wachsamkeit, von der Jesus erzählt, ist fast das Gegenteil davon: nämlich die Aufmerksamkeit für den Augenblick, die Wachsamkeit dafür, das Leben ganz plötzlich und unerwartet auch da wieder aufscheint, wo ich an der Vergangenheit festhalten will oder nur Dunkles sehe. Wenn der Blick zu sehr von dem gefangengenommen wird, was hinter mir liegt, was in der Vergangenheit gut war, dann kann ich gar nicht wachsam sein für das, was von oben kommt, was vor mir liegt, was neben mir geht. Wenn der Blick zu sehr auf dem Bewahren von dem, was früher war, ruht, dann verpasse ich die Momente der Gegenwart des lebendigen Wortes Gottes, der Liebe, die auf Gott hinweist. Ruhe finden – und leben. Loslassen – und lieben. Vielleicht ist das die Wachsamkeit, von der Jesus erzählt.
Was ich für mich richtig schön finde, ist, dass Jesus hier keinen starren Fahrplan vorgibt, wie das Leben aufscheint, das eben endgültig gut und versöhnt ist und von dem wir einen Zipfel eben schon in dieser Welt fassen können. Menschen können nicht berechnen, wie Gottes Liebe in der Welt aufscheint und Menschen können nicht berechnen, wie diese Zeit zu Ende geht und Gott die Schöpfung verwandelt. Wach sein für den Augenblick. Das Leben nicht verpassen. Die Liebe nicht verpassen – es ist etwas Wunderbares, zu dem Jesus uns hier einlädt. Wach sein für den Augenblick, in dem Leben aufscheint – Gott gönnt uns die Ruhe, nicht verzweifelt auf die Suche gehen zu müssen, sondern warten, leben und schauen zu dürfen. Wir müssen nichts selbst herstellen, sondern bereit sein, den Augenblick wahrzunehmen.
Manchmal sicher leichter gesagt als getan. Manchmal hätten wir gern die sicheren Zeichen, den Fahrplan, auf den wir uns verlassen können. Nicht nur dann wenn wir um einen Menschen trauern und gern wüssten, wie wir zu handeln haben, damit uns die Trauer wieder ins Leben entlässt. Manchmal auch dann wenn wir an unserem Glauben zweifeln, wenn wir von der Liebe enttäuscht sind oder spüren, dass die Richtung, in die sich das Leben in dieser Welt entwickelt, viel zu viel Ungerechtigkeit produziert und wir uns danach sehnen, feste Regeln oder nachprüfbare Fakten dafür zu haben, dass Gott mit seiner Liebe stärker ist. Und dass der Tod keine Macht mehr hat. Aber wir haben das nicht, auch ich als Pfarrer nicht. Gott sei Dank. Denn das bedeutet, dass diese Liebe, das Gott wirklich lebendig ist. Und sich in Beziehung setzt. Denn Beziehung ist immer etwas einmaliges, weil zwei Individuen da sind. Und das, was ich an Gottes Liebe erkenne, muss nicht das sein, wo sie einem anderen aufblitzt. Am Ende wird alles eindeutig sein. Aber dieses Ende ist noch nicht da. wir leben in Vorläufigkeit. Wir sind auf  Vertrauen und Hoffnung angewiesen. Und auf Vollendung. Aber bis dahin darf das, was mir Gottes Liebe zeigt, was mir Ruhe gibt, anders sein als das, was Daniel oder Frau Schmidt oder Selina dies zeigt. Am Ende werden wir alle erkennen. Bis dahin gebe Gott uns ruhe, Frieden, Liebe und Geduld – und Wachsamkeit, damit wir offene Augen für das Leben haben oder behalten oder bekommen. Für das Leben, das auch in tiefster Dunkelheit immer wieder aufscheint. Weil Gott ein Gott des Lebens ist. Weil Gott die Liebe ist.

Amen.

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