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Samstag, 14. September 2013

Irgendwie geht das Leben weiter... - 16. So. n. Tr., 15.09.2013, Reihe V

Text: Lukas 7,11-17


Liebe Gemeinde!
Irgendwie geht das Leben weiter – zumindest für die Nachbarn und Bekannten. Für die Verwandtschaft. Natürlich macht der Tod traurig. Ein Nachbar fehlt, eine Freundin, die Nichte oder der Cousin. In den ersten Tagen und Wochen ist noch viel Besuch da, man geht hin, fragt, hilft – aber dann kommt der Alltag wieder. Die eigenen Anforderungen. Im Beruf, in der Schule, in der eigenen Familie. Die eigenen Sorgen. Ab und zu denkt man noch an den Tod. Aber das Leben geht weiter. Hin und wieder vielleicht noch mal eine Nachfrage, ein kurzes Telefonat, ein kurzer Besuch. Aber auch das wird meistens weniger. Kein böser Wille. Aber das Leben geht weiter. Für die, die leben. Die immer noch Familie und Freunde haben.
Das Leben geht weiter – auch für die Frau, die ihren Mann begraben musste und kurz darauf noch ihren einzigen Sohn verlor. Aber wie geht es weiter? Wenn das Miteinander gut war, ist es schon schlimm, den Menschen zu verlieren, mit dem man lange sein Leben geteilt und den man geliebt hat. Aber dann auch noch den einzigen Sohn zu verlieren… - bis heute gehört es zu den schlimmsten Alpträumen von Eltern, am Grab des eigenen Kindes stehen zu müssen. Das Leben geht weiter – am Anfang sicher noch mit Freunden, Verwandten, Nachbarn, die mal nachfragen, die aber weniger werden. Die die Trauer nicht mehr aushalten wollen, weil ihr Leben ja tatsächlich normal weiter läuft. Das Leben geht weiter. Aber wie? In den allermeisten Fällen nicht nur mit einer Lücke, sondern mit einem Loch, das wie ein schwarzes Loch ganz viel Energie, Freude, Lebenskraft in sich hineinzieht und nicht wieder rauslässt. So erlebe ich das vielfach heute.
Und zu der Zeit, in der das war, was Lukas hier in seinem Evangelium erzählt, war alles noch dramatischer. Der Witwe wurde nicht nur das Herz herausgerissen. Ihr Weg als Bettlerin war vorgezeichnet. Damals konnten Frauen keine Rechtsgeschäfte tätigen. Sie brauchten Männer, die für sie eintraten. Und die beiden Männer, die das konnten, waren weg. Der Ehemann und der einzige Sohn. Zu dem seelischen Schmerz kommt die Gewissheit, bis an das eigene Lebensende auf den guten Willen, die Almosen der anderen angewiesen zu sein. Und selbst für die wohlmeinendsten Nachbarn geht das Leben weiter und die verwaiste Witwe rückt aus dem Zentrum immer weiter an den Rand des Lebens.
Ich glaube, dass man das wissen und sich immer wieder klar machen muss, wenn man die Geschichte von der verwaisten Witwe, die Lukas für uns erzählt, hört. Zu leicht lassen wir uns nämlich von dem nach menschlichen Maßstäben unmöglichen Wunder der Totenerweckung ablenken und spekulieren darüber, wie das wohl gehen könne und je nach persönlicher Frömmigkeitsgeschichte verteidigen wir dieses Wunder oder wir geben den Kritikern Recht, die es aus Vernunftgründen ausschließen.
Und so verpassen wir dann das, was in dieser Begegnung für Jesus und auch für seinen Evangelisten Lukas im Mittelpunkt steht. Im Mittelpunkt steht da nicht das Wunder, sondern die verwaiste Witwe mit ihrer Not. Der Schlüsselsatz, der hilft, diese Geschichte zu verstehen, der steht genau in der Mitte. „Als sie der Herr sah, jammerte sie ihn und er sprach zu ihr: Weine nicht!“ so übersetzt Martin Luther den Schlüsselsatz von Lukas.
Vier Beobachtungen:
1. Die erste, die in den Blick kommt ist sie, die verwaiste Witwe. Nicht der Tote, nicht die Menge der Trauernden, nicht die Jünger oder die Menge, die mit Jesus unterwegs ist, vor der er sich mit einem Wunder gut darstellen könnte. Sondern sie. Die verwaiste Witwe. Sie, deren Schicksal es sein wird, in Zukunft nach und nach aus dem Blick der Menschen zu verschwinden. Sie wird zuerst gesehen. 2. Zum ersten Mal spricht Lukas als Erzähler hier von Jesus als dem Herrn. Hier, in dieser Begegnung, wird auch für ihn deutlich, was das Wesen Jesu und mit ihm das Wesen Gottes ausmacht. 3. „Sie, die Witwe, jammerte ihn, Jesus“. So übersetzt es Martin Luther. Altmodisch. Moderner könnte man vielleicht sagen: Jesus hatte Mitleid mit ihr. Aber wörtlich bedeutete das griechische Wort: seine Eingeweide zogen sich zusammen. Ich finde, das ist ein Wahnsinnsbild für Jesus. Das Elend der verwaisten Witwe geht ihm innerlich unglaublich nahe. Es macht ihm wirklich was aus. Kein oberflächliches Mitleid, das schnell vergessen ist und manchmal nur dazu dient, sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Und 4. „Weine nicht“ – das ist keine Kritik an den Tränen, kein Befehl, das heulen sein zu lassen, sondern die Zuwendung: Ich bin da, ich bin ganz bei dir, die Zusage: deine Trauer wird sich ändern.
Bis heute heißt das: Menschen, die sonst aus dem Blick geraten, Menschen die in Not sind, sind im Zentrum der Aufmerksamkeit Jesu – und damit im Zentrum der Aufmerksamkeit Gottes. Wenn wir als einzelne Christen, als Gemeinde auf dem Richtsberg, als Kirche uns auf Jesus berufen, dann können wir das nicht an der ganz konkreten Not von Menschen vorbei tun. Ich glaube wirklich, dass es Jesus völlig egal ist, ob es durch das Dach der Kirche regnet oder ob das Abendmahl mit kostbarem Silbergeschirr gefeiert wird, ob die Kirche eine Hütte aus Abfallholz, ein Betonbau oder eine beeindruckende Kathedrale ist. Ihm ist es egal, ob ich einen Anzug mit Krawatte, Markenklamotten oder gebrauchte Kleidung trage. Aber nicht egal ist es ihm, wenn eine Mutter um ihr Kind trauert, wenn einem Menschen seine Verdienstmöglichkeiten weggenommen werden oder wenn im Krieg in Syrien Menschen vor dem Nichts stehen und reiche Staaten sich schwer damit tun, Flüchtlinge aufzunehmen. Als einzelne Menschen in Not. Jesus, so erzählt es diese Geschichte, nimmt das Leid und die Not nicht nur wahr, sondern es macht etwas mit ihm. Kirche, Gemeinde, Menschen in seiner Nachfolge können nicht an Not vorbeigehen, wenn sie sich auf ihn berufen wollen. Im Mittelpunkt für Gott steht der Mensch. Nicht die Institution, nicht die Gebäude. Auch nicht die Religionsgemeinschaft. Jesus sieht die Witwe. Und die jammert ihn. Ihr Schicksal führt dazu, dass sich seine Eingeweide zusammenziehen. Weil sie Mensch ist. Weil Gott den Menschen liebt. Und weil in Jesus Gott ganz und gar begegnet.
Und was ist mit dem Wunder? Will der Pfarrer sich jetzt in der Predigt davor drücken, weil er das nicht erklären kann? Nein, will er nicht! Aber es ist halt nicht das Wesentliche. Das sieht man schon daran, wie zurückhaltend es erzählt wird. Jesus rührt den Sarg, eigentlich nur die Bahre an. Um die Träger auf dem Weg zum Grab zu stoppen. Nicht mehr. Jesus zaubert nicht. Sein Wort genügt, um die Wirklichkeit zu ändern, um dem Tod die Macht zu nehmen. So, wie Lukas hier erzählt, ist der Kern des Handelns Jesu nicht der Beweis außergewöhnlicher göttlicher Macht, sondern es geht darum, die verwaiste Witwe wieder in ein menschenwürdiges Leben zu führen. Der Sohn wird irgendwann einmal wieder sterben. Es ist nicht die endgültige Auferstehung. Es ist nicht das, was nach dem Tod kommt, sondern es ist Leben in dieser Welt unter den Bedingungen dieser Welt. Jesus lässt sich anrühren vom Leid – und er wendet Leid. Klar, die Frage ist berechtigt, die manche verwaiste Mutter, mancher verwaiste Vater damals wie heute stellen kann und darf: Und warum macht Jesus dann mein totes Kind nicht wieder lebendig, wenigstens so lange, bis ich vor ihm sterbe? Der einzige Antwortversuch, den ich habe, ist der: Weil ich glaube, dass Jesus kein Zauberer ist. Weil ich glaube, dass Jesus dich und deine Not schon längst im Blick hat. Weil ich glaube, dass er schon nach einem anderen Weg sucht, dich aus deiner Not herauszuführen. Das, was Lukas hier uns überliefert, ist Jesu Weg für diese eine Witwe, die in diesem Moment mit ihrer Not im Mittelpunkt steht. Wie die Geschichte mit anderen Menschen, mit anderen Notlagen aussehen könnte, erzählt er nicht. Nur, dass Jesus den Menschen sieht, die Not sieht und von Not erlöst. Nicht, wie das allgemein immer geschieht, sondern wie das in einem ganz konkreten Fall aussieht. Und das erkennen auch die Menschen, die dabei sind. Sie nehmen den Ruf von Zacharias auf: Gott hat sein Volk besucht.  Und erlöst. Nicht die Größe des Wunders ist entscheidend, sondern die Hinwendung zum Menschen. Zu den Menschen, die geliebt sind. In ihrer Not.
Irgendwie geht das Leben weiter – und unsere Hoffnung darf sein, dass es nicht nur irgendwie weitergeht. Wir können nicht vorhersagen und nicht erzwingen, wie Not sich wenden wird. Aber wir dürfen vertrauen und hoffen, dass Gott Not sieht. Bei der trauernden Mutter, bei der missbrauchten Tochter, bei dem Kriegsflüchtling in Syrien, bei dem, der in der Schule gemobbt wird, bei dem, der nicht weiß, woher er das Geld für Nahrung und Wohnung nehmen soll, bei dem, der ohne Alkohol oder Drogen nicht mehr zurecht kommt und deshalb verachtet wird. Gebe Gott, dass Menschen in Not offen sind, Zeichen der Hoffnung zu sehen. Gebe Gott, dass Menschen, die nicht in Not sind, das tun, was sie können, um in der Nachfolge Jesu bei denen zu sein, die wie die verwaiste Witwe in existentieller Not sind. Gebe Gott, dass wir alle, ob aktuell in persönlicher Not oder nicht, die Zeichen seiner Liebe nicht übersehen und dort, wo es an uns ist, mithelfen, dass Leben nicht nur irgendwie, sondern gut und getröstet weitergeht.
Amen.

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