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Freitag, 8. Februar 2013

Macht Liebe blind? - Estomihi, 10.02.13, Reihe VI


Liebe Gemeinde!
„Frau Schlüter, Yannick benimmt sich im Unterricht ganz seltsam. manchmal ist er wie wegtreten, manchmal schwätzt er unkontrolliert dazwischen. Die schriftlichen Leistungen sind total abgesackt. Haben sie bemerkt, dass er Drogen nimmt?“ Frau Schlüter will nicht glauben, was ihr da im Elterngespräch vorgehalten wird. „Das kann nicht sein, Yannick doch nicht! Die Oma, an der er sehr gehangen hat, ist vor einem Vierteljahr gestorben. Und vor ein paar Wochen hat seine erste Freundin mit ihm Schluss gemacht. Das gibt sich wieder!“ Erst als in einer Freitagnacht das Krankenhaus anrief und die Mischung aus Alkohol, Kiffen und Tabletten doch zu viel war, hat sie langsam gesehen was los war.
„Ist zwischen dir und Bernd alles in Ordnung? Du wirkst so unglücklich und in der Firma erzählt man sich schon lange, das Bernd was mit der Sekretärin vom Müller haben soll!“ Martina macht sich viele Sorgen um die ehe ihrer Freundin. Aber die sagt nur: „Ach, wir haben nur ein bisschen Stress. Jessica hat’s in der Schule schwer, Mutter wird langsam dement, und das färbt ein bisschen ab. Aber Bernd und eine andere? Nein. Dazu leiben wir uns zu sehr.“  Erst als sie nach Hause kommt und tatsächlich Herrn Müllers Sekretärin im Bett liegt, muss sie die Wahrheit sehen.
„Ach, Kind, es geht mit mir zu Ende! Ich habe keinen Appetit mehr, ich will endlich wieder bei deinem Vater sein. Alles tut so weh! Seit Monaten komm ich nicht mehr aus dem Bett raus. Mit meinen 82 Jahren will ich endlich sterben.“ „Ach Mutter, das sagst du immer. Du wirst noch hundert!“ Und schon ist Frau Meier aus dem Schlafzimmer der Mutter raus, nachdem sie sie gefüttert hat. Ja, sie ist krank, die Mutter. Aber übers Sterben reden. Nein, das soll nicht sein. Das hat noch Zeit.
Manchmal werden gerade dann, wenn es um einen ganz wichtigen, geliebten Menschen geht, die Augen zugemacht. Unangenehme Wahrheiten werden verdrängt. Was nicht sein soll, das darf auch nicht sein. Krankheit, Tod, Drogen, Negatives überhaupt, nein, das alles soll das schöne Bild der Liebe, der guten Welt nicht stören.
Sicher ist das, was hier im Lukasevangelium von den Jüngern von Jesus erzählt wird, etwas anders. Aber sie verstehen auch nicht, dass Jesus von seinem bevorstehenden Tod und der Auferstehung erzählt. Tod und Leid – kann das denn sein bei dem Menschen, der ihr Leben so sehr geprägt hat? Darf das denn sein, bei dem Menschen, der ihnen so viel Gutes über Gott und ihr Leben gesagt hat, dem sie so sehr vertrauen? Nein, das kann, darf, soll nicht sein! Es wird doch so weitergehen – mit den guten Worten und Taten, mit den Heilungen und der Gemeinschaft, oder?
Manchmal wird die Geschichte von den Jüngern, die die Ohren und Augen vor der Leidenserzählung von Jesus zu machen und dem Blinden, der trotz seiner Blindheit in Jesus den verheißenen Messias sieht und der wegen seines Vertrauens wunderbar geheilt und sehend wird, so erzählt, als wären die Jünger die Bösen oder zumindest die Deppen. Hier sind die, die es eigentlich wissen müssten, die schon lange mit Jesus unterwegs sind, die glauben, ihn zu kennen – und die kriegen das Entscheidende nicht mit. Und dort ist der gute Behinderte,
der Blinde, der trotz seiner Blindheit angeblich mehr sieht und Heilung erfährt, der bekennt, obwohl er Jesus noch nicht kennt. Die Jünger als die eigentlich Blinden.
Mir fällt es schwer, die beiden Gruppen oder Personen so zu bestimmen. Hier die nicht so guten Ignoranten – dort der Gute, der trotz seiner Einschränkungen das richtige sieht und ausspricht. Vielleicht hält die Jünger ja der Schmerz über das Gesagte, die Traurigkeit über den bevorstehenden Abschied, die dunkle Seite der Liebe davon ab, der Wahrheit ins Gesicht sehen zu können. Zu viel eigenes Leben steht für sie auf dem Spiel. Ja, und wir dürfen uns noch heute mit dem Blinden freuen. Oft sind die, denen man es nicht zutraut die, die gute Wahrheit aussprechen. Und Jesus geht nicht an Leid und Not vorbei, nicht an denen, die am Rand Leben. Die Begegnung mit ihm lässt Leben heil werden. manchmal spürbar körperlich, wie hier in dieser Geschichte. ein andermal so, dass seelische Wunden verheilen und das dritte Mal so, dass ich spüre: Ich kann wieder lieben und ich bin geborgen. Es gibt viele Arten, wie Leben heil werden kann – und hier sehen wir eine davon.
wichtig ist, dass beides seinen Platz in der Gemeinschaft mit Jesus hat und haben darf. Damals in der direkten Gemeinschaft, als Jesus durch Israel gezogen hat um seinen Weg der Liebe durch den Tod und seinen Sieg über den Tod zu vollenden – und heute in der Gemeinschaft der Menschen, die sich auf Jesus berufen. Auch in unserer Gemeinde.
Manchmal stehen die eigenen Hoffnungen, die Liebe, die Trauer im Weg und selbst noch so fromme Christen, selbst Menschen mit einer ganz engen Bindung an Gott sind wie mit Blindheit geschlagen und wissen nicht, was Jesus eigentlich sagen will. Und trotzdem verlieren sie durch diese Unfähigkeit ihren Platz nicht. die Jünger behalten die besondere Nähe zu Jesus. Schon vor dieser Geschichte waren sie nicht die strahlenden Glaubenshelden. Ein paar von ihnen wollten zum Beispiel die Kinder, die Jesus segnete, einfach wegschicken. Einige schlafen ein, als Jesus ihre Nähe kurz vor seiner Verhaftung eigentlich brauchte. Und Petrus bestreitet später sogar, Jesus zu kennen, als er Angst um sein Leben hat. Und trotzdem macht Jesus deutlich, dass er genau auf diesen Haufen von Menschen, die auch ihre Schwächen im Glauben haben, die nicht perfekt sind, die nicht alles erkennen, seine Kirche, seine Gemeinde aufbauen will. Sie sind was wert. Wir sind was wert. Auch dann, wenn wir eben wie blind im Glauben sind, wenn wir vor lauter Liebe vielleicht die Augen vor der Wahrheit zu machen, wenn wir das, was anderen, die vielleicht noch nie was von Jesus gesehen und gehört haben, einfach so wichtige Dinge bekennen können. In der Nachfolge Jesu gibt es Beides: Das spontane Bekenntnis, die erfahrene Heilung, den riesigen Lobpreis der einfach raus muss – und die Zeiten, in denen man glaubt, nichts richtig zu erkennen. Gerade in dieser Geschichte zeigen mir die Jünger, dass es keinen perfekten Glauben, keine perfekte Liebe gibt – und dass die Liebe auch nicht bequem ist, sondern dass ich gerade dann, wenn ich liebe, unbequeme Wahrheiten ganz besonders heftig spüre und vielleicht sogar auch manchmal vor lauter Schmerz verdränge. Aber die Jünger zeigen mir auch: Ich muss nicht perfekt sein, damit ich geliebt werde und dazu gehöre. Ich muss nicht das spontane Superbekenntnis aufsagen oder die spektakuläre Heilung erfahren haben, damit mein Glauben vor Gott gilt. Beides kann sein, aber Gott hat für jeden SEINEN Weg. Und so, in der Verschiedenheit gehören wir zusammen. Was sich für mich auch in dem gemeinsamen Jubel und Lob ausdrückt, von dem das Evangelium berichtet.
Aber was bedeutet das dann, wenn ich den Tod auf mich zukommen sehe und niemanden finde, der mit mir darüber reden will? Wenn ich mich schlecht fühle, weil andere mich nicht akzeptieren und ich mich deshalb vielleicht in Drogen flüchte? Was bedeutet das, wenn meine Beziehung kaputt geht? Wenn ich merke, dass ich mich auf mein Kind, meinen Partner, meine Eltern nicht so verlassen kann, wie ich es eigentlich wollte? Was bedeutet es, wenn ich merke, dass auch nicht so bin, wie ich mich gern sehen würde oder wenn andere versuchen, mich fertig zu machen, weil ich nicht in ihre Schubladen passe?
Es KANN bedeuten, dass ich annehmen darf, dass Liebe da ist, auch wenn ich sie nicht sehe – und dass diese Liebe auch mir gilt. Es KANN bedeuten, dass ich nicht aufgebe, zu hoffen und zu glauben, auch dann, wenn sich Fragen und Zweifel türmen. Es KANN bedeuten, dass ich mich mitfreuen kann, wenn anderen was Gutes, auch etwas, was Heilung bedeutet, passiert – auch wenn ich mir das vielleicht für mich gewünscht hätte oder ich es nicht für mich erfahre. Es KANN bedeuten, dass mir vielleicht auch die Augen aufgehen für Menschen, mit denen ich nie gerechnet hätte, dass ich nicht nur von mir alles erwarte. Es KANN bedeuten, dass ich gern lebe und glaube, obwohl weder das Leben noch mein Glauben perfekt sind. Es KANN bedeuten, dass ich lieben kann, weil ich geliebt werde, auch da, wo es schwer ist. Es KANN bedeuten, dass das alles wahr ist oder wahr wird. Gebe Gott, dass das so sein möge.
Amen.

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