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Freitag, 23. November 2012

Merkwürdig, sehr merkwürdig, dieses Leben - Ewigkeitssonntag, 25.11.2012, Reihe IV

Text: Jesaja 65,17-25
Liebe Gemeinde!
Am Ende wird alles gut! Ja, so soll es sein! Am Ende das Gute: Frieden, ein Leben ohne Schrecken. Ein Leben ohne Tränen und Leid. Ein Leben, in dem jeder sich durch seine Arbeit prima ernähren kann. Ein Leben ohne sterbende Kinder und trauernde Eltern. Ein Leben, das einfach nur schön ist. Ein Leben! Und was ist bis dahin? Am Ende wird alles gut! Und davor?
Es ist ein merkwürdiger Sonntag, den wir heute feiern. Merkwürdig im wortwörtlichen Sinn. Wenn wir im Alltag dieses Wort „merkwürdig“ benutzen, dann meinen wir seltsame Phänomene, die wir nicht richtig erklären können. Aber wenn man das Wort wirklich wörtlich nimmt, dann heißt das soviel wie: „wert, dass man es sich merkt“ oder „wert, dass es bemerkt wird“. Und das, was merkwürdig ist, ist das, was den normalen Gang unseres Alltags durchbricht und was uns dazu bringt, einmal vom Alltagsgeschäft Pause zu machen, nachzudenken, sich zu wundern, zu staunen, sich zu ärgern – kurz: Gefühle und Gedanken zu investieren. Und so ist auch dieser Sonntag. Die allermeisten Bibeltexte, die für die Gottesdienste heute vorgesehen sind, erzählen von einer wunderbaren Welt, in der es traumhaft schön zugeht. Und manche, die heute hier den Gottesdienst mitfeiern, haben schon den nächsten Monat voller Vorfreude im Blick: in gut vier Wochen feiern wir Weihnachten. Und genau an diesem Sonntag mit den schönen Bibeltexten und gar nicht mal so weit weg von Weihnachten, erinnern wir an die Menschen, die im zu Ende gehenden Kirchenjahr beerdigt wurden. Wir werden es nach der Predigt wieder hören. Da waren viele Menschen dabei, die alt und nach einem erfüllten Leben starben. 90, manchmal auch 99 Jahre alt sind sie geworden. Für manche kam der Tod als eine Erlösung nach schwerer Krankheit. Einige starben wirklich im Vertrauen darauf, dass Gott auch nach dem Tod gutes Leben bereithält. „Es sollen keine Alten mehr da sein, die ihre Jahre nicht erfüllen!“ Ja, bei manchen war das so. Sie fehlen ihren Angehörigen, ganz sicher. Aber sie durften in Frieden gehen. Und dann waren auch die vielen anderen da. Menschen, die starben und Kinder hatten, die ihr Elternteil noch gebraucht hätten. In einem Fall wächst ein Kind auf, das seine Mutter nie kennenlernen wird. Eltern sind da, die zurückbleiben,
deren erwachsene Kinder lange vor ihnen starben – an Krankheiten oder daran, dass sie in ihrem Leben keinen Halt mehr fanden und keinen Sinn mehr sahen. Gelungenen Beziehungen, in denen man, unabhängig vom Alter, gern noch weitergelebt hätte, hat der Tod ebenso ein Ende gesetzt wie schwierigen, die man gern noch geklärt hätte. Ein merkwürdiger Sonntag – nicht nur, weil die hoffnungsvollen Verheißungen aus der Bibel manchmal in sehr scharfem Kontrast zu den Abschieden, an die wir heute erinnern, stehen. Merkwürdig, im Sinn von der Aufmerksamkeit wert, auch deshalb, weil er uns deutlich vor Augen führt, dass das Leben in dieser Welt nicht eindeutig ist. Hoffnung, Liebe, Schmerz und Trauer liegen manchmal nicht nur sehr nahe beieinander, sondern scheinen manchmal auch fast unlösbar ineinander verknäult zu sein.
Für mich ist dieser Spätherbst, in dem wir gerade sind, ein ganz gutes Bild für die Verheißungen aus der Bibel, die ich eben als Predigttext vorgelesen habe. Ich sehe die Bäume, die ihre Blätter verloren haben – natürlich auch eine Erinnerung daran, dass Leben vergeht, dass Sterben und Tod, Dunkelheit, Kälte, Winter eine Wirklichkeit sind, die nicht wegdiskutiert und schon gar nicht weggeglaubt werden kann. Aber wenn ich mal Zeit habe und über den Richtsberg gehe oder durch den Wald, dann eröffnen gerade die leeren Bäume, denen die Blätter fehlen, ganz neue, überraschende Aussichten auf das schon längst Bekannte. Manches, was im Sommer verborgen war, ist jetzt zu erkennen, und wenn dann mal die Sonne ein bisschen scheint, sind die Blicke auf den Himmel im Wald auch andere. Auch das Vergehen eröffnet neue Blicke auf den Himmel.
Natürlich sind die Menschen, denen vor langer Zeit die Worte, die heute in der Bibel stehen, zuerst gesagt wurden, nicht im Spätherbst über den Richtsberg gelaufen. Aber sie standen wortwörtlich vor Ruinen, vor vergangenem Leben, vor Trümmern und vor zusammengebrochenen Hoffnungen. Die Eltern und Großeltern der Menschen wurden nach einem verlorenen Krieg aus ihrer Heimat Israel vertrieben. Sie lebten in der Fremde, einem Land mit anderer Sprache, anderer Religion, anderer Kultur als kleine Minderheit. Wachgehalten wurde aber immer wieder die Hoffnung auf Rückkehr. Mit wunderschönen Bildern, die Propheten im Auftrag Gottes weitersagten, die von einem blühenden Land sprachen. Und dann kamen die ersten in das Land ihrer Eltern und Großeltern, kehrten in die fremde Heimat zurück. Und da gab es keine blühenden Landschaften, keinen Wirtschaftsaufschwung, an dem sie teilhaben konnten. Kein gutes, gesundes Leben. Überall immer noch die Trümmer des Krieges, zum Teil Not und Elend. Und sogar der Tempel, sozusagen der Ort, an dem Gott gegenwärtig ist, lag in Trümmern, war zerstört. Und weil die Lage schlecht war, starben auch viele Kinder wirklich vor der Zeit. Und in diesen Trümmern, in diesen Ruinen, sind neue Hoffnungen wach geworden. Hoffnungen nicht auf ein Jenseits der Welt, sondern die Hoffnung, dass Gott die Kraft hat, diese Welt, dieses Leben zu verändern.
Manchmal eröffnen die abgefallenen, abgestorbenen Blätter, die Trümmer und Ruinen neue Blicke auf den Himmel. Manchmal eröffnet die Begegnung mit dem Leid, mit dem Tod, einen neuen Blick aufs Leben, einen neuen Blick auf Gott, einen neuen Blick auf die Hoffnung. Nicht dadurch, dass das Leid ignoriert oder übersehen wird. Eher so, dass Menschen dadurch, dass Bekanntes und Geliebtes weg und zusammengebrochen ist, über diese Trümmer hinaus das Leben - und manchmal auch das Leben in der Beziehung zu Gott – neu und anders wahrnehmen können. Vielleicht hat bei dem einen die Begegnung mit der Schärfe des Todes dazu geführt, Schritte auf Verwandte, Geschwister oder andere Menschen neu zuzugehen, Beziehungen zu beleben oder neu die längst verschüttet geglaubte Frage nach Gott und seiner Liebe und Güte zu stellen. Und vielleicht ist aus dieser Klage der Anfang einer neuen Beziehung gewachsen. Vielleicht hat der Tod die Augen dafür geöffnet, wer wirklich Freund ist. Vielleicht haben sich ganz überraschend neue Beziehungen gebildet oder man hat Stärken an sich entdeckt, die man bisher eher dem anderen zugesprochen hat. Vielleicht war das – oder ganz anderes, Neues, Überraschendes. Nichts, was den Verlust ungeschehen und die Trauer einfach weggewischt hätte, aber manches, was die Ruinen im Leben erträglicher hat werden lassen. Vielleicht braucht auch das noch Zeit. Liebe und Hoffnung, Vertrauen und Glauben kann man nicht erzwingen. So, wie man neue Blickwinkel nicht erzwingen kann. Auf einmal ist es da, auf einmal sieht man das Gewohnte anders. Manchmal beinahe unerträglich viel später, als man es gern möchte.
Was mir Hoffnung macht, sind wirklich die Worte und Umstände des alten Bibeltextes, der doch so wenig mit unserer Wirklichkeit zu tun haben scheint.
Da ist einmal die Hoffnung, dass auch wenn Gott weit weg zu sein scheint, wenn sein Wohnort zerstört ist, neuer Glauben und neue Liebe wachsen können. Vielleicht müssen manchmal auch alte Bilder von Gott einstürzen, liebgewonnene Gewohnheiten im Glauben fragwürdig werden, damit Hoffnung und Glauben und Vertrauen neue Nahrung finden. Gott ist nicht immer lieb, aber er ist die Liebe.
Zum anderen ist das die Hoffnung, dass es nicht nur ein Jenseits der Welt und der Zeit in einem fernen Irgendwo, das der Verstand nicht erreicht, gibt, in dem alles gut wird und in dem Gott wirkt. In dieser Welt will Gott Frieden möglich machen. In dieser Welt will er erfahrbar machen, dass Leben sich lohnt und nicht der Tod, sondern das Leben seine Wirklichkeit für uns sind. Hoffnung muss sich nicht auf ein Jenseits beschränken. Nach Spuren der Hoffnung können wir hier suchen. Diese Welt ist nicht gottverlassen, sondern seine Heimat. Hier ist mehr möglich, als wir aus eigener Kraft sehen und gestalten können.
Und für mich das Schönste in diesen alten Worten aus der Bibel: Gott ist nicht zuerst ein Gott, der von den Menschen, von uns, fordert und erwartet, sondern er hört zu. Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. So drückt es der Prophet im Namen Gottes aus. Unsere Klage läuft nicht ins Leere. Vielleicht wollen wir manchmal die Antwort nicht hören. Vielleicht sind wir nicht bereit, zuzuhören, sondern wir glauben, dass alles nach unseren Vorstellungen geschehen müsste. Vielleicht ist manchmal das, von dem wir denken, dass es  ein lebenswertes Leben wäre, viel zu laut und zu schrill, als dass wir die Antworten wahrnehmen könnten. Und vielleicht ist manchmal das Weinen zu laut, weil Menschen sehr viel zugemutet wird. Aber eins bleibt: Gott hört. Gott antwortet. Gott verändert. Diese Welt. Dieses Leben. Für uns. Zum Guten. Merkwürdig. Sehr merkwürdig.
Amen

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