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Mittwoch, 4. April 2012

Opfer! Karfreitag, 06.04.2012, Reihe IV

Text: Hebräer 9,15.26b-28 (Neue Genfer Übersetzung)

Liebe Gemeinde!


Die Welt ist voll von Opfern, so kommt es mir manchmal vor. Da fordert der Straßenverkehr seine Ofer, wie es manchmal in Nachrichten heißt. Da fordert die wirtschaftliche Logik, das Betriebe Gewinn machen müssen, im Zweifel Opfer der Belegschaft, wie die Bereitschaft, ohne Lohnausgleich Überstunden zu machen. Und da gibt es Opfer wie Lena aus Emden, von einem jungen Mann vergewaltigt und ermordet. Opfer eines perversen jungen Mannes? Opfer eines Kranken, der doch nur seine krankhaften Triebe nicht im Zaum hatte? Opfer einer Entwicklung in den Medien, in der jede Form der Sexualität für jeden bildlich greifbar ist und Opfer einer Gesellschaft, die es immer mehr als richtig und normal ansieht, das Sex und Liebe getrennt voneinander werden? Opfer, so haben es die Meldungen der letzten Tage nahegelegt, vielleicht einer gedankenlosen und unaufmerksamen Polizei? Und dann ist da der junge Mann, der fälschlicherweise verdächtigt wurde und der beinahe gelyncht worden wäre. Opfer der neuen Möglichkeiten des Internet? Opfer einer hysterischen Gesellschaft, die nicht nach Tatsachen fragt, sondern die sich mit Gerüchten zufrieden gibt? Opfer von Rattenfängern, besonders aus der Nazi-Szene, die mit den Ängsten der Menschen spielt und aus der Angst Profit für die eigene, menschenverachtende Politik schlagen will?

Und da gibt es Menschen wie die mittlerweile verstorbene Frau, die mir kurz vor ihrem Tod erzählt hat, dass sie auf der Flucht aus Ostpreußen in den Westen bei Kriegsende vergewaltigt wurde. Die gesehen hat, dass die Soldaten es eigentlich auf ihre beiden Töchter abgesehen hatten, die sich aber dann, wie sie sagte, für ihre Kinder opferte, damit diese ungeschoren davonkommen.

Wenn wir von Opfern reden, dann schwingt ganz viel mit. Manchmal Mitleid mit den Menschen, die Unrecht erleiden mussten. Manchmal Zorn auf die Täter. Manchmal einfach nur der hilflose Versuch, ein Unglück oder ein Verbrechen oder ein negatives Erlebnis irgendwie in Worte zu fassen. Und manchmal auch Unverständnis oder Zorn für den und auf den, der leiden musste, weil er oder sie sich nicht gewehrt hat.

Und wie ist das heute, am Karfreitag, wenn wir wieder einmal hören, dass Christus sich selbst opferte, ein Opfer für die Sünden? Ist das etwas, was uns überhaupt noch berührt? Oder sind wir angesichts der vielen, vielen Opfer, die wir persönlich kennen, die vielleicht mancher von uns auch selbst gebracht hat, die uns durch alle möglichen Medien vermittelt werden, etwas, das wir gar nicht mehr hören wollen oder hören können? Oder sind vielleicht die im Recht die sagen: „Was ist das denn für ein merkwürdiger, vielleicht sogar perverser Gott, der Opfer will und fordert? Ist das nicht eine Verhöhnung der wahren Opfer unserer Zeit?
Mit einem solchen Gott will ich nichts zu tun haben, ich habe ihn nicht gebeten, sich für mich zu opfern!“ Das alles, vielleicht sogar noch mehr, sind Reaktionen, die denkbar sind, die da sind. „Jesus hat sich für uns geopfert“ – das kommt einem als Pfarrer oder überhaupt als Christ, der anderen von seinem glauben erzählen will, relativ leicht über die Lippen. Und gerade in den alten Liedern zur Passionszeit wird das ja auch ausführlich besungen. Aber ist das überhaupt noch zeitgemäß, so von Jesus zu reden? Müssten wir nicht angesichts der vielen Opfer, denen wir in unserem Leben begegnen, anders von Gott, von Jesus reden?

Zugegeben, mir selber fällt es oft schwer, von Jesus als Opfer für Sünden zu reden. Und ebenfalls zugegeben: solche Bibelstellen wie die aus dem Hebräerbrief, die ich eben als Predigttext vorgelesen habe, muss ich selber vier-, fünfmal durchlesen und in Ruhe darüber nachdenken, alles Chancen, die sie heute im Gottesdienst so nicht haben, um überhaupt nur ansatzweise eine Ahnung davon zu bekommen, was das eigentlich für ein Opfer ist, von dem hier die Rede ist. Und da ist mir dieser Abschnitt aus dem Hebräerbrief wirklich eine Hilfe geworden.

Da ist zuallererst die Frage: Wen sehen wir eigentlich in Jesus? Wer ist er? Ist er derjenige, der über die Welt herrscht, der König im Himmel? Oder ist er derjenige, der ganz unten ist, am Kreuz, das Leid der Welt tragend? In alten Kirchen, vor allem im Osten, ist oft auf Mosaiken der herrschende Christus zu sehen, der König der Welt und des Himmels. Ja, das ist richtig so. In Jesus begegnet uns Gott, der größer ist als alles, was wir uns vorstellen können, auch größer als der Tod, größer als jedes „Nein“ zum Leben. In Kirchen des Spätmittelalters, in barocken und auch in modernen Kirchen begegnet uns oft der andere Christus: der wahre, leidende Mensch. Am Kreuz geschunden, von seiner Mutter betrauert. Auch das ist richtig. Auch so zeigt sich Gott. Als der, der in die tiefs-ten Tiefen des Menschseins mitgeht. Beides gehört zu-sammen. Herrscher des Himmels, Herrscher der Welt ist Christus auch, weil er das Leid nicht leugnet oder igno-riert, sondern weil er mitleidet und Leid so überwindet. Es geht bei diesem Opfer nicht darum, wie manche be-haupten, dass Gott es fordert und braucht, damit er besänftigt und zufriedengestellt wird. Es geht darum, dass in Jesus Gott selbst die Opfer ins Recht setzt, dass er sich kompromisslos auf die Seite der Opfer stellt.

Das Opfer, das Jesus bringt, ist tatsächlich ein Opfer für uns. Nicht in dem Sinn, dass, wie bei Opfern in älteren Religionen, aufgerechnet wird, was symbolisch zu bezah-len ist für welches Vergehen. Sondern in dem Sinn, dass es Ausdruck der kompromisslosen Liebe Gottes ist, die sich auch von Gewalt und Lieblosigkeit, auch von der totalen Verleugnung dieser Liebe nicht beirren lässt. Es geht nicht um den rituellen Vollzug des Opfers, nicht um eine Kompensation, sondern um eine wirkliche Beziehung. Ich glaube, dass Gott uns durch Jesus am Kreuz sagen will: „Meine Liebe ist stärker als deine Ablehnung! Auch dort, wo du, Mensch, dich ganz weit von mir entfernt hast, will ich dir einen Weg zur Rückkehr zeigen. Einen Weg, den ich gegangen bin und den du nicht wiederholen kannst und musst, sondern auf den ich dich mitnehme.“ Im Hebräerbrief heißt es, dass Jesus gestorben ist „um uns durch das Opfer seines eigenen Leibes von der Sünde zu befreien“. Wir müssen davon wegkommen, Sünde als die eine oder zwei oder vielen einzelnen falschen Taten zu begreifen. Auch bei Menschen, die noch so fest auf Jesus vertrauen, sind Gefühle wie Neid und Lieblosigkeit da, und auch solche Menschen tun nicht nur Gutes. Wissentlich oder unwis-sentlich schaden sie Mitmenschen. Sünde ist hier eben nicht die einzelne falsche Tat, sondern die Gottferne des Menschen. Sünde ist die Abkehr von Gott und das alleinige sich Ausrichten auf den Menschen, auf sich selbst. Du kannst zu mir zurückkehren -auch wenn du meine Liebe geleugnet hast, auch da, wo Menschen mir ganz fern sind, will ich ihnen nahe sein – das ist das Opfer, das ist die Befreiung von Sünde, das ist die Botschaft Jesu, die Botschaft Gottes am Kreuz.

Zugunsten der Liebe, zugunsten der Beziehung zu ihm, zugunsten des Lebens durchbricht Gott die Regeln von Schuld und Strafe. Und das ist, in jeder Hinsicht, „einma-lig“, wie es im Hebräerbrief heißt: „Genauso wurde auch Christus nur einmal als Opfer dargebracht – als Opfer, das die Sünden von vielen auf sich nahm.“ Einmalig, das heißt nicht nur, dass keiner von uns das wiederholen kann oder muss, sondern auch: die Frucht dieses Opfers, die Liebe, ist unverlierbar. Die Tür bleibt offen. Auch wenn Menschen, auch wenn wir weiter versagen. Ein für allemal. Die Tür bleibt offen – hindurchgehen müssen aber wir, was der Hebräerbrief so ausdrückt: „Wenn er wiederkommt, kommt er nicht mehr wegen der Sünde, sondern um denen Rettung zu bringen, die auf ihn warten.“ Gottes Liebe zwingt zu nichts. Auch nicht dazu, sie anzunehmen. Das Opfer, das Gott in Jesus gebracht hat, eröffnet uns die Chance, befreit zu leben. Ergreifen müssen wir sie.

Und was ist mit den Opfern, die es bis heute gibt? Den Opfern von Gewalt, Lieblosigkeit, Gedankenlosigkeit, Machtmissbrauch und missverstandener Technikgläubig-keit? Den Opfern von wirtschaftlicher Logik und falschen Maßstäben? Den Opfern, die auch unserem Lebensstil geschuldet sind? Lena wird nicht wieder lebendig da-durch, dass Gott auf ihrer Seite steht. Der junge Mann, der sie umbrachte, ist nicht weniger verantwortlich da-durch, dass die Polizei vor Monaten möglicherweise Feh-ler gemacht hat. Karfreitag zeigt uns auch, dass wir bis heute am Leben irre werden können, am Leid der Opfer, an falschen Opfern. Gebe Gott, dass uns das nicht von ihm trennt, sondern dass wir in alldem seine Liebe spü-ren, die das Leben siegen lässt. Amen.

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