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Samstag, 5. November 2011

Zwischen kuntergrau und dunkelbunt im Nebel

Sonntagsgedanken in der Oberhessischen Presse, die Anregung zu dem "Farbwortspiel" verdanke ich dem Song "XOXO" von Casper

Verwirrung, nichts als Verwirrung, scheint die Welt ergriffen zu haben. Keiner weiß mehr Bescheid. Rezepte für ein gutes Leben, Rezepte für den Erfolg von Menschen, Wirtschaft, Staaten und Staatengemeinschaften, die gestern noch richtig waren, scheinen heute falsch zu sein. Oder doch nicht? Wirtschaftsexperten, Bildungsexperten, Terrorismusexperten, Experten für gelingende Lebensführung erklären uns die Welt. Und am Ende scheint mir oft nur noch Bertold Brecht zu bleiben: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/ Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Es gibt anscheinend keine klaren Linien, kein klaren Farben, keine klaren Richtungen mehr. Kuntergrau und dunkelbunt, ein Mischmasch, der alles zu vereinen und verschlingen scheint, der nichts mehr klar erkennbar macht.


Vielleicht sind auch diese Worte, vielleicht ist auch diese Zustandsbeschreibung Teil einer Herbstdepression. Der Mangel an Licht, an Aufklärung, die Zunahme an Nebel und Dunkel führt Menschen in Stimmungen, die sich oft genug von allein nicht aufhellen lassen. Die Volkskrankheit Depression und das Burn-Out-Syndrom sind, Zufall oder nicht, gerade in diesem so verwirrenden Jahr verstärkt ins Blickfeld gerückt. Junge Fußballspieler, gute Lehrerinnen, nach außen erfolgreiche Manager – keiner ist mehr sicher davor. Auswege? Da gibt’s wieder gut gemeinte und gut gemachte Ratgeber und Ratschläger – aber was hilft’s?!

Mir drängt sich in diesen Tagen noch einmal eine Aussage von Jesus ins Bewusstsein. In der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern wird ihm im Johannesevangelium die Aussage „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ zugeschrieben. Wahrheit und Freiheit gehören für Christen unmittelbar zusammen. Und Wahrheit gibt es nicht ohne die schmerzhafte Erkenntnis von
eigener Schuld und Versagen. Dort, wo Verhältnisse schöngeredet werden, wird keine Freiheit sein. Dort, wo Wahrheit verschwiegen wird und dort, wo sich die Durchsetzung eigener Interessen durch Verdrehung, Verschweigen oder Zurechtbiegen von Wahrheit in den Vordergrund stellt, kann Freiheit nicht Raum greifen. Aufklärung tut not – und zur Aufklärung gehört auch die Erkenntnis, dass es keine ungebundene Freiheit gibt. Freiheit braucht die Bindung an den Grund unseres Seins. An Gott, der sich in Jesus offenbart. Freiheit braucht Bindung – nur ein scheinbarer Widerspruch. Freiheit ohne Bindung an den Grund des Seins ist in der Gefahr, sich aufzulösen. In Beliebigkeit, in Egoismus, in die Freiheit des Stärkeren, auf Kosten der Schwächeren zu leben. Die Wahrheit zeigt, dass Freiheit dort entsteht, wo Menschen erkennen und zugeben können, dass sie nicht allmächtig sind, dass die Sehnsucht nach einer Selbsterlösung in einem Selbstbetrug endet. Die Farben des Lebens werden nicht mehr klar und deutlich zu erkennen sein, sondern durch einen Nebelschleier scheinen sie dann nur noch kuntergrau und dunkelbunt – verwirrt und verwirrend.

In dieser Zeit voller Enttäuschungen und Ratlosigkeit, in Zeiten der Krise – persönlicher Krisen ebenso wie politischer Krisen und Vertrauenskrisen – sind wir auf Wahrheit angewiesen. Und auf die Kraft, auch unbequeme Wahrheiten annehmen zu können. Eine unbequeme Wahrheit ist die, dass Jesus uns keine unmittelbare Antwort auf die Frage nach der Lösung von Euro- und anderen politischen und wirtschaftlichen Krisen schenkt. Der Glauben, die Bibel legt Spuren auf der Suche nach der Wahrheit. Eine Spur ist die, dass wir Menschen uns in Schuld verstricken, dass unser Streben nach Reichtum und Gewinnmaximierung nicht in die Freiheit, sondern in ungute Abhängigkeiten führt. Vertrauen und Gerechtigkeit sind Kategorien, die über Gewinn und Erfolg stehen. Licht sehen, Farben sehen – und das in allem Nebel, damit die Welt nicht nur kuntergrau und dunkelbunt scheint, dazu sind wir eingeladen.

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