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Sonntag, 16. Oktober 2011

Kämpfernaturen - 17. Sonntag nach Trinitatis, 16.10.2011, Marginaltext

Text: Gen 32,23-33


Liebe Gemeinde!

Wenn man einem anderen was kaputt gemacht hat, dann reicht oft eine Entschuldigung, ein Anruf bei der Versicherung, und schon wird der Schaden behoben. Selbst wenn man sich mit einem anderen geprügelt hat, dann kann man, wenn die erste Hitze abgeklungen ist, vielleicht doch noch einmal darüber reden und wieder zusammenkommen. Materieller Schaden ist ganz gut zu ersetzen, körperliche Wunden heilen oft, manchmal schneller als man denkt. Gestohlenes Geld, ein zerstochener Reifen – alles zu ersetzen. Aber missbrauchtes Vertrauen, die Enttäuschung darüber, dass gelogen und betrogen wurde, nicht von Fremden, sondern von einem Menschen, der mir ganz nahe stand? Ganz, ganz schwierig wird es, wieder zusammenzukommen, wenn Eltern merken, dass ihr Kind es wirklich ernsthaft bestohlen hat. Wenn ein Kind merkt, dass dem Vater die Drogen wichtiger sind als das eigene Kind. Wenn in der Ehe mehr Betrug war als ein flüchtiger Gedanke an einen anderen Mann oder eine andere Frau. Wenn der eine Bruder den anderen um sein Erbe betrügt. Vieles kann man ersetzen. Vertrauen nicht. Gebrochenes Vertrauen muss lange und mühsam wieder wachsen. Wenn das überhaupt gelingt. Manchmal bleibt nur noch Wüste zurück, da wächst nichts mehr.

Verständlich, dass Jakob, der Betrüger, Angst davor hatte, seinem Bruder wieder zu begegnen. Jahrzehnte sind vergangen, beide sind längst erwachsen und haben große Familien. Aber der Vertrauensbruch steht immer noch zwischen ihnen. Jakob hat seinem älteren Bruder das Erbe weggenommen. Den blinden Vater hat er belogen und betrogen. Vor langer Zeit. Aber die Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Morgen wollen sie sich wieder begegnen. Das erste Mal seit dem Betrug. Sie wollen neu miteinander anfangen. Aber wird das verlorene Vertrauen als zartes Pflänzchen wieder wachsen können? Oder wird der Bruder seine Wut an ihm auslassen? Jakob spürt, dass er allein sein muss an diesem Abend, in dieser Nacht. Er schickt seine Familie weg und bleibt allein, um sich auf das schwierige Wiedersheen vorbereiten. Und dann geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Davon erzählt die Bibel, das erste Buch Mose, so:
Genesis 32,23-33
Ganz merkwürdig, diese Geschichte. Wie viele wichtige Geschichten der Bibel spielt sie nachts.
 In einer Nacht kommt Jesus zur Welt. Jesus und Nikodemus führen ein wichtiges Gespräch über den Glauben. Jesus wird in der Nacht verhaftet. Die Frauen machen sich noch bei Dun-kelheit zu seinem Grab auf. Die Nacht als Zeit der Ent-scheidung. Als Zeit, in der sich manches klärt. Auch Schwieriges. Mit unseren technischen Möglichkeiten hat die Nacht vielfach ihre Dunkelheit verloren. Aber wenn man nachts wachliegt, der Versuchung widersteht, ein-fach Licht anzuknipsen, zu lesen oder sich vor den Computer zu setzen, spürt man manchmal noch etwas von den Schrecken der Nacht. Da geht einem alles durch den Kopf, was man tagsüber gern verdrängt. Die Stille, die Dunkelheit zwingt zur Konzentration – und das ist nicht immer nur angenehm. Aber manchmal ist dann auch am Morgen der ein oder andere Knoten, und sei er auch nur im Denken gewesen, gelöst. Faszination und Schauer gehen von der Nacht aus. Und nachts ringt Jakob, der Betrüger, der Lügner, mit einem merkwürdigen Mann.

Wer er ist, wo er so plötzlich herkommt – das bleibt, im wahrsten Sinnen des Wortes, erst einmal im Dunkeln. Ist es Gott selbst? Ist es ein Bote Gottes, ein Engel? Auf alle Fälle fürchtet er das Licht: „Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an!“ So fleht er Jakob an. Jakob ist offensichtlich ein guter Ringer, er kann ihn halten. Nachtwesen, die sich vor dem Tageslicht fürchten? Den jüngeren kommen vielleicht Vampire in den Sinn, aber doch nicht Gott! Auch wenn man die Geschichte nicht wörtlich verstehen muss, sondern sinnbildlich verstehen kann, bleibt sie merkwürdig. Das Fliehen vor dem Licht, das passt doch nicht zu etwas Göttlichem, egal ob Gott selbst oder ein Bote an seiner statt! Und doch ist es vielleicht ein Akt der Gnade Gottes, dass wir ihn nicht ganz sehen, dass er sich auch immer wieder ein Stück entzieht. Wenn Gott die Wahrheit ist und wir die ganze Wahrheit sehen müssten – würden wir sie ertragen? Ich glaube nicht. Es ist Gnade, dass uns manches verborgen bleibt. Wer den Film „Bruce Allmächtig“ kennt, der weiß, wovon ich rede. Einer der intelligentesten Filme über Religion, wie ich finde. Bruce darf wie Gott sein. Aber er verzweifelt daran, dass er jetzt nicht nur alles kann, sondern wirklich die ganze Wahrheit sehen kann. Er hält es nicht aus, auch alle schlimmen Seiten zu sehen. Ein Stück Dunkelheit als Gnade, „lass mich gehen in der Morgenröte“ – vielleicht kann das ja auch heißen: „Du wirst die ganze Wahrheit nicht aushalten, sei froh, dass du nicht alles sehen musst!“

Viel wichtiger als dieser Gesichtspunkt ist mir aber der, der sich aus dem weiteren Gespräch zwischen den bei-den Kämpfern ergibt. Ein seltsamer Dialog: Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 28 Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. 29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 30 Und Ja-kob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn da-selbst. Was mir daran wichtig ist, ist die Hartnäckigkeit, mit der Jakob hier kämpft: Ich höre nicht auf, bis du mich segnest. Dem Vater musste er den Segne durch Be-trug abluchsen. Hier kämpft er um den Segen. Um den Segen von Gott selbst. Jakob bleibt Sieger. Nicht, weil er Gott niedergerungen hätte. So verstehe ich diese Stelle nicht. Sondern weil er sich Gott gestellt hat. Er hat mit Gott gerungen. Er hat nicht aufgegeben. Für mich ist das ein ganz wichtiger Baustein zu einem guten Glauben an Gott. Dass Menschen, wie Jakob, trotz aller Schuld, trotz aller Fehler, die sie, die wir begehen, eingeladen sind, mit Gott zu ringen. Das Gott mit sich ringen lässt. Er ist kein Gott, der sozusagen von oben herab ein für allemal Menschen einen Glauben überstülpt und Menschen mit dem Glauben überrumpelt. Und der Glauben an Gott ist kein fester Zustand, den ich mit mir herumtragen kann und der immer gleich groß ist. Um den Glauben, um den Segen, darf und muss ich vielleicht auch manchmal ringen. Glauben heißt durchaus, auch Zweifel haben zu können. Schuld zu sehen. Auch bei sich selbst. Angst zu haben. Stark im Glauben ist nicht der, der ohne Zweifel durchs Leben geht und immer ein unangefochtenes Lächeln auf den Lippen hat. Stark ist der, der sich seiner persönlichen Nacht, seinen Zweifeln, seinen Ängsten, seiner Schuld stellt. Der mit sich und mit Gott ringt. Um Segen, um Wahrheit, um Kraft für den Weg, der vor ihm liegt. Jakob bekommt nicht deshalb den Ehrennamen „Israel“, der mit Gott kämpft“, weil er ein so großer, strahlender Held ist, sondern weil er auch vor den dunklen Seiten nicht davon gelaufen ist, sich ihnen gestellt hat und sie dadurch besiegen konnte. Es gibt bis heute immer wieder Grund, mit Gott zu ringen. Die Erfahrung, dass ich versage, dass ich eben nicht so gut bin, wie ich sein könnte, dass ich andere und mich selbst enttäusche. Die Erfahrung, dass ich nicht so einfach beten kann: „Dein Wille geschehe“, wenn junge Menschen nach einem ohnehin schon schweren leben an schwerer Krankheit sterben, dass Sucht, Drogen, Alkohol Familien zerstört und Vertrauen kaputt macht. Vielleicht fällt ja jedem auch aus dem eigenen Leben etwas ein, wo er, wo sie mit Gott ringt. Das Entscheidende ist nicht, ohne Zweifel durchs Leben zu gehen und sich in ein besseres Leben zu träumen, sondern sich dem Leben zu stellen und den Kampf auszuhalten. So, wie Jakob hier in der Geschichte aus der Bibel. Er ist es, der gesegnet wird. Er könnte ja auch sagen: Hat ja keinen zweck, die Welt ist zu schlecht, ich bin zu schlecht, das Leben ist zu hart. Aber das tut er nicht. Er ringt bis zum Schluss – und wird gesegnet. Das Ringen lässt ihn nicht unbeschädigt. Er hinkt. Aber er lebt, ist gestärkt und kann sich der schwierigen Begegnung mit dem Bruder stellen. Was folgt, ist auch danach keine Geschichte von Superhelden, sondern von Menschen, die auch neidisch sind, die Vertrauen enttäu-schen, die aber immer wieder auch mit sich und Gott ringen und einen Neuanfang finden. Es lohnt sich, gera-de die letzten 20 Kapitel im ersten Buch Mose zu lesen. Da wird deutlich, dass Glauben und Vertrauen immer wieder gesucht und gefunden werden wollen. Nicht als Besitz, sondern als Geschenk. manchmal mit Schmerzen verbunden. Aber immer voller Leben und voller Verhei-ßung. Materielle Werte kann man kaufen und ersetzen, Glauben und Vertrauen müssen wachsen. Gebe Gott, dass wir bereit sind, um das Wachstum zu ringen. Und ihn und uns und die Menschen, die um unser Vertrauen ringen oder um deren Vertrauen wir ringen, nicht aufge-ben.

Amen.

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