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Freitag, 12. September 2008

Was heißt hier mutig? - 17. nach Trinitatis, Reihe VI

Text: Epheser 4,1-6
Liebe Gemeinde!

Wer von ihnen, wer von euch ist eigentlich der Mutigste? Wenn man das irgendwie messen oder vergleichen wollte, was für Eigenschaften fallen einem da ein? Dass man sich traut, von hohen Wänden zu springen? Verbotene Dinge zu machen? Ganz schnell Auto zu fahren? Steile Skihänge hinabzufahren? Nachts allein auf den Friedhof zu gehen? Je nach Alter und Vorlieben fallen einem vielleicht noch viel mehr Dinge ein, an denen man Mut messen könnte. Was einem aber wahrscheinlich nicht einfällt, sind Eigenschaften wie Geduld, Freundlichkeit oder die Bereitschaft, anderen zu dienen. Wer so was macht, der ist nicht mutig. Vielleicht nett, vielleicht ein bisschen verstaubt. Aber mutig? Mutig ist es doch, ungeduldig zu sein. Alles zu wagen, alles sofort haben zu wollen - und zu kriegen. Mutig ist es doch, sich durchzusetzen, Freundlichkeit ist einem da doch eher im Weg. Sicher ist vieles Klischee. Aber ich finde es erschreckend, wenn in einem Bewerbungsgespräch oder in einem Fernsehinterview auf die Frage, was denn eine negative Eigenschaft der eigenen Persönlichkeit sei, mit einem Augenzwinkern „Ungeduld“ genannt wird. Man will damit ja nichts Schlechtes über sich sagen, sondern dass man schnell ist, entscheidungsfreudig und modern. Ungeduld - eine schlechte Eigenschaft, die heute scheinbar positiv bewertet wird.

Aber ich finde es viel mutiger, sagen zu können: „Ich kann mir auch mal Zeit lassen, abwarten, bis ich an der Reihe bin. Abwarten, bis eine Entscheidung wirklich fällig und gut durchdacht ist.“ Und ich finde es auch mutig, freundlich zu sein. Man macht sich angreifbar, wenn man anderen einen Vertrauens- und Freundlichkeitsvorschuss gibt. Man weiß nie, wie der andere reagiert, ob er das als Schwäche auslegt oder ausnutzt. Und ich finde es auch mutig, dienstbereit zu sein. Nicht zu erwarten, dass alle etwas für mich machen, sondern auch ohne, dass ich dran bin, bezahlt werde oder einen sichtbaren Vorteil habe, für andere was zu machen. Also: Wer ist der Mutigste? „Lebt so, dass man erkennt, dass ihr auf Gott vertraut, dass ihr Christen seid! Lebt mutig: mit Demut, dem Mut, zu dienen, mit Sanftmut, dem Mut, freundlich zu sein, mit Langmut, dem Mut zur Geduld“. Das steht am Anfang der Verse, die ich eben als Predigttext vorgelesen habe. Zwar nicht wörtlich, aber dem Sinn nach. Ich finde schon, dass Mut nicht heißt, irgendwelche verwegenen, manchmal sinnlosen Aktionen zu machen, sondern dass es mutig ist, sich im Alltag nicht von dem, was allgemein als normal angesehen wird, platt machen zu lassen, sondern sich dem normalen, alltäglichen Egoismus auch mal entgegenzustellen und als Christ zu sagen und zu zeigen: „Es geht auch anders!“

Ich will jetzt nicht auf die heutige Zeit und schon gar nicht auf die Jugend von heute schimpfen. Was Egoismus angeht ist die heutige Zeit nicht besser und nicht schlechter als jede andere Zeit auch. Am letzten Donnerstag habe ich in meiner 7. Klasse einen Selbsttest zum Thema „Gewissensentscheidungen“ machen lassen. Wenn`s um das Leben von anderen geht, waren sich alle einig, dass man da helfen muss. Wenn man selber sich nicht traut, dann holt man wenigstens Hilfe. Aber an einem Verletzten vorbeigehen, ohne was zu tun, das geht nicht. Anders sah es bei der Frage aus, ob man 20 Euro, die man von einer Supermarktkassiererin zu viel bekommen hat, zurückgeben soll. „War doch nicht meine Schuld. Und wenn sie es aus eigener Tasche ausgleichen muss - sie hätte besser aufpassen sollen!“ So war die Mehrheitsmeinung. Ich glaube schon, dass diese Haltung normal ist. Nicht nur für Siebtklässler, nicht nur für Menschen, die wenig Geld haben. Es gehört schon Mut dazu, sich hier auch offen gegen die Mehrheitsmeinung zu stellen und zu sagen: „Ich will nicht die Schwächen anderer ausnutzen. Ich will sie vor den Folgen ihrer Schwächen bewahren, wenn ich es kann.“

Ich denke, dass sich in solchen scheinbar ganz kleinen, unspektakulären Dingen zeigt, was es heißt, wenn im Epheserbrief steht: „Ertragt einer den anderen in Liebe“. Da ist nicht das große Gefühl gemeint, dass ich irgendwie Schwitzehändchen und rote Ohren bekomme, wenn mir ein anderer Christ, ein anderer Mensch begegnet, sondern die scheinbare Kleinigkeit, dass ich zum Beispiel Schwächen, die ich beim anderen sehe, nicht ausnutze, sondern ihm helfe, darüber hinweg zu kommen. Ich finde es eigentlich beruhigend, dass es in den Briefen an die ersten Gemeinden vor fast 2000 Jahren auch um solche Dinge geht. Das zeigt ja, dass eben nicht immer nur alles gut war und dass wir heute irgendwie schlechte Christen sind, weil es uns ja nun wirklich nicht immer gelingt, gut und überzeugend zu leben. Ich finde, der Glauben und das Leben im Glauben und in der Gemeinde haben da von Anfang an etwas mit der großen Liebe, die man gefunden hat, gemeinsam. Wenn man frisch verliebt ist, da gibt’s nichts anderes im Leben. Und wenn man merkt, dass es so richtig schön wird, dann tut man alles füreinander, man unternimmt ständig was gemeinsam, kleine und große Abenteuer werden erlebt. Und dann kehrt langsam der Alltag ein. Statt wegzugehen macht man es sich auf der Couch gemütlich, statt Kino berieselt der Fernseher, und man hat sich tatsächlich viel weniger zu sagen als am Anfang. Meistens jedenfalls. Im schlimmsten Fall wird aus dem Miteinander ein Gegeneinander, in leider vielen Fällen ein Nebeneinander. Klar, je länger und besser man sich kennt, desto deutlicher werden auch die Unterschiede und die Marotten, die nicht immer liebenswert sind. Und hier setzt ja auch unser Predigttext an. „Seid mutig, passt auf, dass aus eurem Miteinander kein bloßes Neben- oder gar Gegeneinander wird!“ So kann die große Rede „Ertragt einer den andern in Liebe. Seid darauf bedacht die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens zu wahren“ ganz alltäglich verstanden werden.

Es geht nicht darum, Unterschiede, Gegensätze wegzuleugnen, zuzukleistern und klein zu reden. Das ist, in einer partnerschaftlichen Liebesbeziehung ebenso dumm wie in einer Gemeinde und Gemeinschaft, die sich im Glauben an Gott findet. Es geht darum, den wahren Grund der Einigkeit, die Tiefendimension der Liebe wahrzunehmen und lebendig werden zu lassen. Und das ist eben nicht der alles zusammenmatschende Einheitsbrei, sondern die Fähigkeit und die Gewissheit, aus unterschiedlichen Perspektiven auf den gleichen Punkt, der Halt und Sinn gibt, sehen zu könne und die unterschiedlichen Blickwinkel auszuhalten. „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über, durch und in allen ist“. So drückt es der Epheserbrief aus. Eine Liebe, die aber, je nach Standpunkt, nach Blickwinkel, Wahrnehmungsmöglichkeiten durchaus unterschiedlich und eigen erfahren werden kann.

Es geht nicht um den großen Einheitsbrei, auch nicht in der Kirche. Bei Kirche, da denken wir meistens zuallererst an das, was wir hier, an unserem Ort erleben. Aber ist denn da wirklich alles eins und alles gleich und von Liebe getragen? Ich glaube nicht, dass ich meinen Konfirmanden weh tue und die Unwahrheit über sie erzähle, wenn ich behaupte, dass sie sich in der Gruppe nicht gerade einig sind. Als Pfarrer denke ich immer, das müsste doch ganz anders sein. Nicht nur bei den Konfis. Es ist eine bestimmt verlockende Vorstellung in einer Zeit, in der alles immer beliebiger wird, in der Menschen immer mehr Möglichkeiten haben und aus immer mehr Möglichkeiten wählen können, in der es normal ist, mehr als 30 Fernsehprogramme sehen zu können, in einer Welt, deren Vielfalt und deren Möglichkeiten oft genug erschlagend wirken, auf Einheit und Einheitlichkeit zu hoffen. Wenigstens in der Kirche. Da soll sein, was sonst nicht ist. Aber Kirche ist nun mal mehr als das, was wir auf dem Richtsberg oder in Marburg oder in Deutschland finden. Das, was vereint, über alle Grenzen hinweg, das ist der Glaube daran, das Gottes Liebe in Jesus Christus erschienen ist. Das, was vereint, ist der Glaube, der uns sagt: dieser Jesus allein ist Weg, Wahrheit und Leben. Und nicht unsere menschlichen, unvollkommenen Vorstellungen von ihm. Wir haben unsere eigene Lebensgeschichte. Unsere eigene Glaubensgeschichte. Als einzelner Mensch und auch als Gemeinde. Und deshalb erleben wir, im wahrsten Sinn des Wortes, Gott auch in unserem Leben aus unterschiedlichen Perspektiven. Wir sehen immer nur einen Ausschnitt. Ein Glaube. Der aber in jedem Leben neu gelebt werden will und deshalb neu erfahren wird. Und ein Herr. Auch dazu gehört Mut, das zu bekennen. Ein Herr. Einer soll letzte Macht über mein Leben haben. Nicht mein Chef. Nicht mein Klassenlehrer. Nicht meine Eltern. Mein Partner. Meine Clique. Das Geld. Die Meinung der anderen. Gott mit seiner Liebe. Die oft genug auch schonungslos aufdeckt, was schief läuft. Nicht nur in der großen weiten Welt und bei anderen, sondern auch bei mir. Ein Herr. Ein Glaube. Und: eine Taufe. Da wird die Gemeinschaft, die größer ist als unsere Vorstellung, ganz konkret. Durch die Taufe bleibt die Gemeinschaft, die Gott mit sich und untereinander schenkt, nicht bloß fromme Idee. Durch sie gehöre ich mit meinem Leben da hinein. Ob ich mit 6 Monaten, 6 Jahren, als Konfirmandin oder mit 40 getauft wurde. Ob ich aus Russland, Korea, Amerika oder Deutschland stamme. Und da, wo ich als Getaufter den Mut habe, sanftmütig, geduldig und dienstbereit zu sein, wo ich den Mut habe, ausgetretene Pfade und scheinbare Mehrheitsmeinungen zu verlassen und nicht neben- oder gegeneinander, sondern miteinander zu leben, da wird diese Gemeinschaft ein Stück Wirklichkeit. Getauftsein, Christsein macht mutig. Gott gebe, dass dies wahr ist. Amen.

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