Text: Matthäus 27,33-54
Liebe Gemeinde!
Schrecklich nüchtern erzählt der Evangelist Matthäus hier von einem unvorstellbaren Grauen. „Wie kannst du nur so ruhig bleiben“ könnte man ihm vielleicht zurufen. Grauen, Folter, Leid, Tod faszinieren nicht erst seit der Erfindung von Film und Fernsehen, des Internets und von PC-Spielen viele Menschen. Im Mittelalter und im Barock gibt es unglaublich blutrünstige Darstellungen der Kreuzigung Christi, monströse Darstellungen auch von Höllenqualen, die an naturalistischer Darstellung von Folter und Grausamkeit nichts vermissen lassen. Und heute, in einer Zeit, in der, befeuert durch Pseudo-Gesprächsrunden im auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, nicht die nüchterne Analyse oder die Ruhe zum Nachdenken und Bedenken, sondern dass sich gegenseitige Niederbrüllen als Ausdruck wahrer Betroffenheit gefeiert wird und in der bei jedem Unglück möglichst die Betroffenen sich emotional völlig entblößt zu Schau stellen lassen müssen, verwirrt solche Nüchternheit. Ohne jede Sensationslust beschreibt der Evangelist Matthäus, wie die Entwürdigung des Opfers voranschreitet, wie dem Opfer die Sprache geraubt wird und in einem sprachlosen Schrei der Höhepunkt der Gewalt seinen Ausdruck findet. Ohne Lust an der Sensation erzählt der Evangelist Matthäus nüchtern und präzise von der Reaktion der Menschen, die mit dem Opfer konfrontiert werden. Aber gerade diese ungewöhnliche Nüchternheit, diese distanzierte Art, von Gewalt zu reden und Gewalt darzustellen, ist möglicherweise sehr viel hilfreicher als jeder pseudodokumentarische, ans Pornografische grenzende Versuch, das Grauen bis ins Letzte nacherlebbar zu machen. Die Entblößung des leidenden Körpers, der Emotionen, der Zwang zur Zurschaustellung der Verletzungen, der körperlichen und der seelischen, ist oft genug nur eine Fortsetzung dessen, was Matthäus hier so nüchtern beschreibt.
Die Kleider werden Jesus genommen, andere bereichern sich noch an ihnen. Selbst sein Durst wird noch dazu benützt, die Macht der Folterer zu zeigen. Linderung hat er nicht zu erwarten. Und es sind keine Monster, die ihn quälen. Keine Psychopathen mit verkorkster Kindheit, sondern Menschen, die ihre Arbeit tun. Und die, die vorbeigehen, die sich über sein Leid lustig machen, die ihn mit Spott überziehen, denen das Leid ganz offensichtlich Vergnügen bereitet, sind keine Soziopathen, die sich in irgendeiner Form für eingebildetes selbst erlittenes Unrecht an ihm oder an der Gesellschaft rächen wollen, sondern es ist, das legt die nüchterne Schilderung von Matthäus nahe, die gar nicht mehr schweigende Mehrheit. Ein Freitagsspaziergang der Musik- und Literaturliebhaber, der ehrlichen und fleißigen Arbeiter, der Hausfrauen und Beamten, der Rentner und Tagelöhner, die
sich einig sind in ihrem Urteil: „Besser als der da oben bin ich allemal.“ Nochmal schnell auf den Schwachen drauf getreten, auch wenn’s nur mit Worten ist. Und selbst die, die im wahrsten Sinn des Wortes mitleiden, die Räuber, die rechts und links hängen, machen mit. Da ist einer, der sich nicht wehrt. Dem kann man schnell noch einmal eine Beleidigung mitgeben. Hier kann man auch in aussichtsloser Lage deutlich machen, dass es einen gibt, der scheinbar noch tiefer steht. Der alltägliche Wahnsinn der Gewalt. Die Banalität und Normalität der Gewalt, die eben nicht erst bei der Folter und der Tötung anfängt, sondern die genau da beginnt, wo dem Menschen seine Würde genommen wird. Durch Entblößung, durch den Zwang zur körperlichen und seelischen Nacktheit. Durch Worte, Handlungen, Gesten, die deutlich machen: du bist zu einem Objekt geworden. Kein Mensch mehr mit dem unveräußerlichen Recht auf Mitmenschlichkeit, sondern ein Objekt, ein Ding, eine Sache, mit der ich fertig werden kann, die ich fertig machen kann.
Der Verzicht von Matthäus auf ein großes Ausschmücken der Gewalt, auf blutrünstige Darstellung dessen, was ja wirklich blutig war, auf die Darstellung der Menschen, die Jesus auch durch Worte mitfoltern, als gestörte, kranke Existenzen, öffnet den Blick über die einmalige Sensation hinaus auf das Grundsätzliche der Kreuzigung Jesu und auf ihre Bedeutung bis heute. Es bleibt kein Horrorspiel historischer Vergangenheit, auch keine erbauliche Erzählung zum Gruseln oder zum sanften Wohlfühlen, weil heute ja alles anders wäre, sondern gerade durch die Nüchternheit wird es zu einer Erzählung über das Menschsein. Über die Menschwerdung Gottes, über unser Menschsein.
Von dieser Normalität des Bösen, von der Alltäglichkeit des Grauens, von der mehr oder weniger versteckten Lust am Grauen und von dem Drang, auf Kosten der Opfer sich selbst gut zu fühlen, können Menschen sich nicht selbst erlösen. Damals nicht. Und heute auch nicht. Wir sind verstrickt in diese alltägliche Grausamkeit. Sünde geschieht bis heute auch dort, wo Menschen objektiviert werden. Wo Menschen zu Sachen gemacht werden. Zu Kosten- und Produktionsfaktoren. Wo schon ein Gerücht reicht, um Leben zu zerstören. Ich will an dem Verhalten des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff nichts schön reden und erst recht will ich ihn in keiner Weise mit Jesus gleichsetzen. Im Gefühl der moralischen Überlegenheit hat vor gut einem Jahr fast jeder Witze über ihn gemacht und sich darüber gefreut, dass es da endlich mal einen von den scheinbar Großen erwischt. Nach langen, langen Ermittlungen bleibt wahrscheinlich der Vorwurf übrig, dass er eine Differenz von 800 Euro einem Bekannten nicht erstattet hat. Millionen Menschen haben sich auf seine Kosten gut und überlegen gefühlt. Wegen einer materiell eher geringfügigen Verfehlung. Wir Menschen sind verführbar, auch ich selber. Bis heute. Schlimmer und gravierender sind die Opfer, die es kaum mehr in die Schlagzeilen schaffen. Die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Südspanien lebenden Plantagenarbeiter, die dafür sorgen, dass wir auch im Winter relativ günstig Tomaten und Paprika kaufen können. Die Sinti und Roma, die ganz legal in Deutschland leben, weil es uns aus unserer Geschichte her wichtig war, in Europa Freizügigkeit und Sicherheit für alle zu garantieren und die als Sozialschmarotzer diffamiert werden. Die Frauen, die sich trotz Fleiß und vieler Minijobs keine vernünftige Sicherung aufbauen können und die dann zu hören kriegen: Hätten sie mal nicht so viele Kinder kriegen sollen, hätten sie in der Schule besser aufpassen sollen, hätten sie mal nach besseren Ehemännern Ausschau halten sollen. Gewalt fängt nicht erst da an, wo Menschen körperlich gefoltert werden, wo in Ego-Shootern das Töten zur normalen Banalität verkommt, Gewalt fängt da an, wo Menschen objektiviert werden und wo Menschen auch durch Sprache entmenschlicht werden. Für mich lenkt gerade die Nüchternheit der Karfreitagserzählung von Matthäus den Blick auf diese Wahrheit, weil kein Blutbad und keine Diffamierung der Täter ablenkt.
Karfreitag lässt Gott uns eine überlebenswichtige Wahrheit über das Menschsein offenbar werden. Die Wahrheit, dass Gott am Ende die Opfer ins Recht setzen wird. Die Wahrheit dass Gottes Menschwerdung nicht in einem Superstarkult, sondern in der Einswerdung, der Identifikation mit den Opfern, mit den Leidenden sich erfüllt. Die Wahrheit, dass wir uns aus der alltäglichen Normalität und Banalität des Bösen bis heute nicht selbst erlösen können, sondern dass wir auf Erlösung und Vergebung angewiesen bleiben. Die Wahrheit, dass auch das Böse die Wahrheit nicht unterdrücken kann. Die Wahrheit siegt – das ist die Hoffnung, die der Karfreitag macht. Aber die Wahrheit muss – und kann ausgehalten werden.
Die Wahrheit siegt – das zeigt sich gerade in der Nüchternheit von Matthäus darin, dass die Spötter ohne es zu wollen die Wahrheit aussprechen. „Er hat anderen geholfen - aber sich selbst hilft er nicht“. Ja, Gott ist nicht um seiner selbst, sondern um der Menschen, der Leidenden willen, in Jesus in diese Welt gekommen.
Und am Ende hält er selbst die Erfahrung der Gottesferne aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" – In diesem Aufschrei stellt sich Gott selbst an die Seite aller, die angesichts ihres eigenen Leids, ihrer getöteten Kinder, ihrer Missbrauchserfahrungen und anderen schrecklichen Dingen mehr an Gott irre zu werden drohen. Gott ist nicht an der Seite der Besänftiger und Beschwichtiger, sondern an der Seite derer, die ihn als den ganz Fernen erfahren. Und dann der Schrei. Das Ende der Sprache. Das ist da, kann nicht weggeredet werden, bevor sich alles ändert. Kein Stein bleibt auf dem anderen, was tot war, wird lebendig und was lebendig schien ist tot. Und Gott zeigt sich neu. Der Vorhang, der dem gewöhnlichen Volk den Blick auf Gott im Tempel versperrte, zerreißt. In diesem Schrei, in diesem Tod wird der Blick auf Gott selbst frei. Für alle, nicht nur für Auserwählte. Und der erste, der das bekennt, ist ausgerechnet einer der Folterknechte. Keiner, der die Heiligen Schriften studiert hätte, keiner, der im Tempel gebetet hat, keiner, der seinen Platz in der Nähe Gottes gesucht hätte. „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ In aller Nüchternheit erkennt er nach allem Grauen die Wahrheit und spricht sie aus. Und wir?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen