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Sonntag, 30. Mai 2010

Geistreich küssen - Trinitatis, 30.05.2010, Reihe VI (statt II), Begrüßung der neuen Konfis



Text: 2. Kor 13,11-13

Liebe Gemeinde!
Ja, das wäre doch was, wenn wir uns heute Morgen vor der Kirche mit Küssen begrüßt hätten, oder? Grüßt einander mit dem Heiligen Kuss, schreibt Paulus. Statt Händeschütteln vor der Kirche für jeden einen Kuss, und auch im Konfirmandenunterricht am Dienstag: vor dem Beten wird erst mal geküsst. Vielleicht würden es Mädchen untereinander hinkriegen. Aber wenn ich mir das bei den Jungs vorstelle, glaube ich nicht, dass diese Begrüßung ihre Wahl wäre. Und auch zwischen Erwachsenen und Jugendlichen wäre das nicht die Begrüßung meiner Wahl. Zu viele unheilige Küsse spielten in den letzten Wochen in den Nachrichten eine Rolle. Entweder wurde im Namen Gottes geschlagen und gequält oder im Namen Gottes oder einer missverstandenen Erziehung zur Freiheit geküsst oder mehr dort, wo es überhaupt nicht hingehört. Küsse sind in Verruf geraten. Schon in der Bibel gibt es ja den Kuss, mit dem Judas Jesus verrät. Und als eine Frau mit schlechtem Ruf, vielleicht eine Prostituierte, Jesus die Füße küsst, denken die Jünger und die Frommen, dass sich das überhaupt nicht gehört. Begrüßen wir uns also lieber anders, im Gottesdienst, in Konfer, in der Schule, in der Gemeinde. Nicht mit heiligen Küssen, die so leicht missverstanden oder missbraucht werden können. Begrüßen wir uns anders – und trotzdem wünsche ich uns, als Gemeinde, als Konfergruppe, als Menschen auf dem Richtsberg, in Marburg, dass das, was hinter dem heiligen Kuss steckt, auch bei uns wirksam ist, wenn wir uns begrüßen. Wenn ich einen Kuss ernst meine und nicht Vertrauen oder Macht missbrauche, heißt ein Kuss doch: Du bist mir vertraut. Ich mag dich, vielleicht ist sogar echte Liebe dabei. Du bist mir nicht egal. Ich gönne und wünsche dir Gutes. Ich vertraue dir, ich respektiere dich. Du bist Teil meiner Familie. Ich habe eine Beziehung zu dir. Der Streit steht nicht mehr zwischen uns, wir vertragen uns wieder. Das alles kann ein ehrlicher Kuss bedeuten. Auch wenn wir den Kuss weglassen, weil er leicht missverstanden werden kann: Eigentlich sind das alles Dinge, die Miteinander voranbringen. Wenn wir das unabhängig vom Kuss in unserem Leben umsetzen würden, nicht nur sonntags im Gottesdienst, nicht nur dienstags in Konfer, sondern in unserem Zusammenleben auf dem Richtsberg, in Marburg, anderswo, jeden Tag neu, ich glaube, die Welt wäre kaum wiederzuerkennen. Respekt und Achtung voreinander, das Gefühl, zusammenzugehören. Egal, auf welche Schule jemand geht. Egal, wie viel Geld er hat. Egal, ob er jung oder alt, dick oder dünn, Russe, Araber, Türke oder Deutscher, krank oder gesund ist. Ein Traum. Und vielleicht wird er ja dienstags in Konfer, sonntags in der Kirche, montags, mittwochs, donnerstags, freitags, samstags in der Schule, auf der Straße, in der Firma, in den Blocks und Häusern ein Stück Wirklichkeit. Träume werden wahr. Weil wir den Mut haben, anderen nahe zu sein, auch wenn wir uns dazu nicht gleich küssen müssen, weil wir aufeinander achten, weil wir uns achten, respektieren, vielleicht sogar hier und dort ein wenig lie-ben.
Ein Traum, der Traum bleibt? Zu albern? Zu schön, um wahr zu werden? Die Menschen sind nicht so, die Konfis nicht, die Erwachsenen nicht? Ja, das Leben ist kein Ponyhof, auf dem immer die Sonne scheint und alles schön einfach ist. Dauerferien und Dauerglück gibt es nicht. Und Menschen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, können manchmal ziemlich anstrengend, leider auch ziemlich gemein sein. Und trotzdem halte ich fest an dem Traum. Nicht weil ich ein Spinner bin. Sondern weil ich glaube, dass Gott uns den Mut und die Kraft gibt, Träume zu verfolgen, Hoffnung zu behalten, Liebe anzunehmen und zu schenken und uns, zumindest in Gedanken, tatsächlich mit einem Heiligen Kuss zu begrüßen.
Als Paulus vor 2000 Jahren den Brief an die Christen in Korinth geschrieben hat, waren die Christen dort nicht perfekter als wir. Es gab reiche Menschen, die wenig arbeiten mussten, die keine Rücksicht auf die genommen haben, die arbeiten mussten und erst später zu den Gottesdiensten, die immer mit Abendmahl gefeiert wurden, kamen. Manche waren schon vom Abendmahlswein besoffen, bevor die Arbeiter überhaupt kamen. Es gab welche, die hielten sich für was Besseres, weil sie von einem gebildeteren Menschen als Paulus getauft wurden. Es gab ganz Ängstliche, die wollten den Mutigen alles verbieten und es gab Mutige, die haben die Ängstlichen lächerlich gemacht. Es war keine perfekte Gemeinde. Deshalb schreibt Paulus ja auch: „Lasst euch wieder in die richtige Spur bringen, lasst euch ermahnen und trösten“. Klar, es ist nicht schön, auf Fehler aufmerksam gemacht zu werden. Als Schüler nicht, als Konfi nicht und, glaubt mir, als Erwachsener tut man sich vielleicht manchmal damit noch schwerer. Aber im Glauben und auch sonst braucht man manchmal einen Anstoß von außen, um wieder gute Wege zu finden. Jemanden, der offen und ehrlich sagt: Das war so nichts. Was ich schön finde und was leider viel zu oft übersehen und ver-gessen wird, ist, dass im Griechischen, in der Sprache, in der Paulus geschrieben hat und die die Christen in Ko-rinth gesprochen haben, ermahnen, erinnern und trösten das gleiche Wort ist. Es geht nicht darum, den anderen als dumm hinzustellen, weil er etwas falsch gemacht hat und ihn mit seinen Fehlern vorzuführen. Es geht drum, ihn an das, was er glaubt und hofft, an seine guten Fähigkeiten zu erinnern und ihn zu trösten und ihm den Mut zu geben, es besser zu machen. Nicht aus Angst, sondern weil er weiß: Ich kann auch anders. So geht Gott mit uns und unseren Fehlern um. Und ich wünsche uns, dass davon etwas auf unser Miteinander abfärbt. In Konfer, in der Schule, in der Gemeinde, da wo wir leben. Über alle Alters- und anderen Grenzen hinaus. Dass wir uns gegenseitig Mut machen, es besser zu machen und uns nicht unsere Fehler gegenseitig in Ewigkeit vorhalten uns auf das Schlechte, das ja da ist und dass wir auch tun, festnageln. Paulus beendet den Brief an die Christen in Korinth, über die er traurig ist, die ihn enttäuscht haben, nicht mit Ermahnungen und Vorwürfen.
Am Ende stehen ein richtig guter Wunsch und eine gute Hoffnung. Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Das hört sich anders an als: „Ändert euch gefälligst, sonst wird aus euch nichts!“ Auch wenn es sich für uns heute entweder sehr formal anhört, unpersönlich, weil es in fast jedem Gottesdienst so vorkommt oder gar unverständlich, weil im Alltag niemand mehr so redet. Aber genau das sind eigentlich drei große Geschenke für unser Leben. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: da ist einer, der will uns vergeben. Da ist einer, der setzt nicht mit aller Macht sein Recht durch, sondern der begnadigt. Da ist einer, der hält zu uns, auch wenn wir Fehler machen. Da ist einer, der will, dass wir aus unseren Fehlern lernen, der traut uns zu, es besser zu können. Gnade, nicht Rache, nicht Vergeltung, nicht Angst. Für mich kommt das auch im Vater unser vor, wenn wir beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Mache uns großzügig, lass uns nicht kleinlich und rechthaberisch sein. Nicht blind und dumm, sondern ehrlich und großzügig. Auch das ist ein Geschenk der Gnade. Und dann die Liebe Gottes. Da gibt’s eigentlich nichts mehr zu sagen. Oder so viel, dass es für eine eigene Predigt reicht. Zum Beispiel nächsten Sonntag, da geht es dann um die Liebe. Die Liebe, die so groß ist, dass man sie kaum beschreiben kann, die sollst du erfahren. Ist doch ein schöner Wunsch, gerade für die, über die ich mich eben noch geärgert habe. Gott ist nicht nachtragend. Und wir? Und am Ende der Wunsch nach Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist und im Heiligen Geist. Allein geht es einem im Leben wirklich schlecht. Man muss nicht immer einer Meinung sein, um zusammenzugehören. In Konfer nicht, in der Gemeinde nicht, in der Familie nicht. Schließt euch nicht ab, bleibt aufgeschlossen, lasst euch stark machen für ein aufgeschlossenes Leben. Das ist der Wunsch, den Paulus für die Christen in Korinth hat und den ich für uns habe. Und vielleicht, irgendwann, ist es dann auch so weit, dass der heilige Kuss zur Begrüßung nicht peinlich und komisch und mit dummen Hintergedanken verbunden ist, sondern normal wird. Solange können wir ja lernen, uns mit dem Gedanken daran anzufreunden, dass so was möglich sein könnte und möglich war. Und wir können unseren Teil dafür tun, dass die Zusammengehörigkeit, die Liebe, der Respekt, die dahinter stecken, trotzdem spürbar werden. Auch wenn wir uns nicht küssen. Dazu gebe Gott uns allen seinen Segen.

Amen

Sonntag, 23. Mai 2010

Feuer und Flamme - Pfingstonntag, 23.05.2010, Reihe II

Text: Apostelgeschichte 2,1-13(18)

Liebe Gemeinde!
Besoffen vor Begeisterung – vielleicht waren das ja gestern Abend die Anhänger von Inter Mailand nach dem Gewinn des Champions-League Finales in Madrid. Und vielleicht haben viele von ihnen noch gar nicht mal viel Alkohol getrunken, sondern sich aus lauter Freude über den Sieg so begeistert verhalten, dass andere, die mit Fußball nichts anfangen können, gedacht haben: die müssen wirklich besoffen sein. Aber wer selbst schon mal echte Begeisterung bei sich erlebt hat, wer sich als Fußballfan oder Fan einer anderen Mannschaft mal so richtig von tollen Spielen oder Siegen hat mitreißen lassen, der weiß: weder Red Bull noch irgendein Bier können solche Flügel verleihen wie echte Begeisterung, die einen zu Dingen treibt, die man sich, wenn man viel nachdenkt, gar nicht trauen würde. Wer so richtig Feuer und Flamme für etwas ist, der kann andere anstecken. Mit seiner Begeisterung. Natürlich waren die Jünger, die ohne Jesus zurechtkommen mussten, keine Fans des FC Jerusalem, der gerade die römische Reichsmeisterschaft gewonnen hätte. Und ich glaube auch nicht, dass der heilige Geist am Werk sein muss, um die eigene Begeisterung für eine Band oder eine Sängerin, für ein Hobby oder eine politische Partei anderen ansteckend zu vermitteln. Aber das, was uns Lukas in seiner Apostelgeschichte über den Geburtstag der Kirche erzählt, über die Begeisterung der Jünger, ist keine alte Geschichte, die vor fast 2000 Jahren in einem fernen Land spielt und die nichts mit uns heute zu tun hätte. Es ist keine bloße Geschichte, sondern eine Wirklichkeit, die bis heute Leben berühren und verändern kann. Bis in unsere Alltagssprache hinein wirkt Pfingsten. Auch wenn „begeistert sein“ heute längst nicht immer mit dem Glauben in Verbindung gebracht wird, auch wenn man nicht nur für den Glauben an Gott Feuer und Flamme ist – dass so immer noch geredet wird, hat mit den Erfahrungen zu tun, die Lukas in der Apostelgeschichte erzählt.
Jetzt ist es natürlich kein Grund, am Pfingstsonntag in der Kirche zu sitzen, nur weil manches, was in der Bibel steht, in unserer Alltagssprache vorkommt. Und das ist auch kein Grund, zu behaupten, dass die Wirklichkeit, von der die Apostelgeschichte erzählt, noch heute da ist. Der Grund ist der, dass die Wirkung des Geistes Gottes viel Alltäglicher ist, als wir es manchmal glauben. Natür-lich wird hier in der Bibel, in der Pfingstgeschichte, etwas Wunderbares, fast Unglaubliches erzählt. Und das ver-führt Menschen immer wieder dazu, mit Gott und dem Glauben die absolut übernatürlichen, unerklärlichen Sa-chen in Verbindung zu bringen und enttäuscht zu sein, wenn nicht wenigstens ein Dutzend Krebskranker spontan geheilt wird oder andere spektakuläre Dinge passieren. Aber wenn wir mal drauf achten, was die Wirkung des Geistes ist, dann sind das ganz unspektakuläre Dinge, die den Alltag der Menschen voran bringen.
An drei Punkten aus der Pfingstgeschichte möchte ich von Gottes Geist in unserem Alltag erzählen. Einmal an der wunderbaren Fähigkeit der Jünger, Menschen aus anderen Ländern in ihrer eigenen Sprache erreichen zu können. Zum zweiten an der Beobachtung, dass dort nicht gerade die Elite der damaligen Gesellschaft gepredigt hat. Und zum dritten an der Beobachtung, dass die Jünger zum ersten Mal sich nicht auf den verlassen, den sie sehen und anfassen können, nämlich Jesus, sondern auf eine neue Wirklichkeit Gottes, die da, aber nicht greifbar ist.
Zur ersten Beobachtung der Alltagstauglichkeit der alten Pfingstgeschichte. Es wäre toll, wenn mir das Gleiche passieren würde, wie es den Jüngern passiert ist. Wenn ich ohne Zeit fürs Lernen zu investieren, Russisch und Arabisch sprechen und verstehen könnte. Italienisch, Spanisch und Französisch würde ich dann auch noch gern mitnehmen. Und zigtausende Schüler träumen wohl auch von Englisch-, Französisch- und anderen Sprachkenntnissen ohne Arbeitsaufwand. Aber da müssen wir alle wohl lange warten. Das ist auch nicht der Kern, der den Geist Gottes auch heute noch wirksam macht. Der Kern ist doch der: Menschen verstehen sich plötzlich. Grenzen spielen keine trennende Rolle mehr. Gott, der Glaube an ihn, lässt sich nicht mehr in ein bestimmtes Land oder in die Grenzen einer einzigen Spra-che einsperren. Gottes Geist ist auch heute noch da im Spiel, wo Menschen über Grenzen hinweg Verständigung suchen und finden. Sprachliche Grenzen, kulturelle Gren-zen, die Grenzen, die unsere Vorurteile errichten. Die ver-schiedenen Sprachen, die die Menschen damals gesprochen haben, die bleiben. Aber sie sind nicht mehr Zeichen der Trennung, sondern Zeichen der Vielfalt, die möglich ist. Wo Menschen Verständigung suchen und finden, da ist Gottes Geist am Wirken. Bis heute. Zwei Erlebnisse von mir. In meiner vorigen Gemeinde in Fulda kam regelmäßig eine Frau aus Kamerun in den Gottesdienst. Sie sprach kein Deutsch und praktisch kein Englisch. Aber sie kam, weil sie spürte: Hier kann ich beten, hier sind andere, die Gottes Wort hören und beten. Sie wurde ein Teil der Gemeinde, hat andere aus Kamerun mitgebracht und die haben gesungen und getanzt und so die Gemeinde bereichert. Das andere Erlebnis ist das Gebetstreffen von christlichen Gemeinden und Initiativen vor knapp vier Wochen in der Thomaskirche. Menschen aus ganz verschiedenen Gemeinden, mit ganz unterschiedlichen Arten, die Bibel zu lesen und zu beten, haben sich getroffen. Es ist eine Gemeinschaft entstanden, die die Unterschiede, die es gibt, als Bereicherung erlebt hat. Gottes Geist war da. Deshalb ist es traurig, dass es immer noch Menschen gibt, die sich Christen nennen, die in erster Linie besser als andere sein wollen. Die Gottes Geist in ihre Kirche, in ihre Gemeinschaft, in ihre Art, zu glauben, zu beten, Abendmahl zu feiern einsperren wollen. Gottes Geist ist nicht da, wo Menschen sich voneinander abgrenzen und Recht haben wollen, sondern dort, wo Menschen aufeinander zu gehen und lernen, die Sprache der ande-ren, auch die Sprache des Glaubens der anderen, mit zu sprechen. Zumindest glaube ich das.
Die zweite Beobachtung: es waren nicht die Priester im Tempel, nicht die Gelehrten und die typisch Frommen, die als erste so richtig begeistert waren. Petrus und die anderen waren eher einfache Leute, manche mit einem eher schlechten Ruf. Gottes Geist lässt sich nicht an einen bestimmten Beruf binden. Auch nicht an das Ansehen, dass ein Mensch bei anderen genießt. Gottes Geist widerspricht unserem Elitedenken. Nicht, dass mich jemand missversteht: es ist gut, sich zu bilden. Es ist gut, etwas wissen zu wollen, die Welt zu entdecken, gute Gespräche zu führen. Aber für Gottes Geist sind das nicht die entscheidenden Maßstäbe. Vielleicht ist es ja manchmal auch so, dass sich der, der sich für besser hält, tatsächlich nicht so leicht begeistern lässt und sich dem Geist eher in den Weg stellt als sich von ihm anstecken zu lassen und Feuer und Flamme zu werden. Gottes Geist lässt sich von Bildung, Reichtum, Ansehen nicht festhalten. Es ist wenig geistreich, sich von Be-nachteiligten, scheinbar Schwachen abzuwenden. Vielleicht hat Gottes Geist gerade durch sie viel zu sagen.
Und die dritte Beobachtung der Alltagstauglichkeit ist die: Petrus und die anderen, die sich begeistern lassen, bekommen den Mut, den Mund aufzumachen und von ihrem Glauben zu erzählen. Sie halten sich nicht mehr an Jesus fest, der körperlich bei ihnen war, der im wahrsten Sinn des Wortes zu fassen war. Sie haben den Mut, das Sichtbare loszulassen und der Hoffnung und dem Vertrauen wirklich Raum zu geben. Gottes Geist macht Mut, die Kammer der Angst zu verlassen. Gottes Geist macht Mut, sich nicht zu verstecken, sondern aus sich herauszugehen. Gottes Geist macht Mut, das Miteinander zu suchen und sich nicht in ängstlichen Abgrenzungen um der reinen Lehre willen zu ergehen. Gottes Geist macht Mut, das los zu lassen, was mir vertraut ist, was ich fassen kann und sich vom Unfassbaren begeistern zu lassen. Gottes Geist begeistert, er lässt Menschen Feuer und Flamme sein. Nicht für das, was in der Vergan-genheit war, sondern für das Leben, das vor uns liegt, für die Welt, die Gott uns öffnet, für die Welt, in der Ver-ständigung, Liebe, Gerechtigkeit zählen und nicht das, was wir anderen an Wert zusprechen. Gottes Geist macht Mut, loszulassen und Zukunft zu erwarten und mit zu gestalten. Ich wünsche uns, dass wir wirklich begeistert feiern. Und denen, die sich am Sieg von Inter berauscht haben, wünsche ich, dass sich ihre Begeisterung nicht an dem, was war festhält, sondern für das, was kommt öffnet. Im Fußball und im Leben.
Amen

Sonntag, 9. Mai 2010

Weil das Beten sich lohnen tät... - Rogate, 9.5.2010, Reihe II

Text: 1. Timotheus 2,1-6
Liebe Gemeinde!
Seit Wochen hat es geregnet, die Flüsse sind angeschwollen, Hochwasser. Tief unten, ein Haus, direkt am Fluss. Das Wasser steigt und steigt, es schwappt schon in den Flur und die Zimmer im Erdgeschoss. die Feuerwehr kommt und will den Mann, der in dem Haus wohnt, mitnehmen. „Nein, nein, geht ruhig weiter“, sagt der Mann. „Ich habe gebetet und Gott um Hilfe gebeten, er wird mich retten!“ Die Feuerwehr zieht ab, das Wasser steigt und steigt. Der Mann muss ins Obergeschoss. Ein Rettungsbott des Technischen Hilfswerks kommt vorbei. Die Besatzung will den Mann dazu bewegen, einzusteigen und mitzukommen. . „Nein, nein, fahrt ruhig weiter“, ist seine Antwort. „Ich habe gebetet und Gott um Hilfe gebe-ten, er wird mich retten!“ Unverrichteter Dinge dreht das Boot ab. Auch das Obergeschoss läuft voll, der Mann muss auf das Dach. Ein Helikopter kommt, lässt ein Seil herunter, die Besatzung fordert den Mann auf, es sich umzuschnallen und mitzukommen. . „Nein, nein, fliegt ruhig weiter“, bekommt auch der Pilot zu hören. „Ich habe gebetet und Gott um Hilfe gebeten, er wird mich retten!“ Der Hubschrauber fliegt weiter. Das Wasser steigt und steigt. Der Mann kann sich auch auf dem Dach nicht mehr halten. Kurz vor dem Ertrinken ein wütender Protestschrei gegen Gott: „Immer habe ich dir vertraut, immer gebetet und jetzt lässt du mich einfach im Stich, du Verräter!“ Dann hört der Mann eine Stimme: „Weißt du, als du die Feuerwehr, das Boot und den Hubschrauber, die ich dir zur Rettung geschickt habe, weggeschickt hast, wusste ich auch nicht mehr weiter!“
„Hey, Gott, hörst du mich überhaupt, wenn ich bete?“ Das ist eine Frage, die mir immer wieder begegnet. Bei Kindern und Jugendlichen in Schule und Konfer. Bei Erwachsenen, bei Geburtstagsbesuchen und Trauergesprächen. Am Leben gehalten werden die Zweifel, ob es sich überhaupt lohnt, zu beten, oder ob man sich da nicht selbst was vormacht, durch viele Erfahrungen. „Ich hab’s ja versucht. Ich hab gebetet. Nicht um eine 1 in Mathe, obwohl ich nicht gelernt habe, sondern darum, dass meine Oma keine Schmerzen mehr hat und wieder gesund wird und dann ist sie doch gestorben und vorher ging es ihr gar nicht gut.“ Da geht es wirklich um Leben und Tod, da geht es noch nicht mal um egoistische Dinge. Und Gott, der doch die Liebe sein soll, schweigt. „Gott, du hörst mir ja nicht zu, wenn ich mit dir rede. Mit dir bin ich fertig!“ Einem Menschen, der diese Erfahrung gemacht hat, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, kann ich nicht mit schlauen Argumenten kommen. Eine Erfahrung, die Zweifel am Sinn von Gebeten wachhält ist die, dass es nicht nur manchmal ganz anders kommt, als ich es von Gott eigentlich erwarte, sondern dass trotz ernstgemeinter Gebete viele traurige und schlimme Dinge passieren.
Eine andere Erfahrung ist die, dass ich für alles, was passiert, auch andere Erklärungen finden kann. Für die Rettungsangebote aus der kleinen Überschwemmungsge-schichte muss ich nicht unbedingt auf das Wirken Gottes zurückgreifen, um sie zu erklären. Da genügen ein guter Katastrophenplan und gut ausgebildete Helfer. Und selbst dann, wenn jemand ganz begeistert erzählt, dass Gebete geholfen haben, ihn von einer Krankheit zu heilen, kann ein naturwissenschaftlich orientierter Zweifler einwenden, dass das kein Beweis sei und dass dann, wenn die Wissenschaft weiter fortgeschritten sei, sicher auch eine natürliche Erklärung gefunden werden könnte. Und außerdem wird ja nicht jeder körperlich gesund, der darum betet oder für den gebetet wird.
Es lässt sich nicht naturwissenschaftlich beweisen, dass Beten sinnvoll und wirksam ist. Wer zweifeln will, wird immer wieder Grund dazu finden. Und wer im Gebet eine Hilfe für das eigene Leben sieht, wird sich von anderen und ihren Zweifeln auch nicht davon abbringen lassen.
Weil ich nicht objektiv, also unabhängig von mir selbst und meiner Beziehung zu Gott, beweisen kann, ob Beten funktioniert, ist für mich die entscheidende Frage beim Gebet auch nicht „Hey, Gott, hörst du mir zu?“ sondern: „Hey, Ulrich, bist du bereit Gott zuzuhören?“ Für mich ist das der Knackpunkt in der Überschwemmungsgeschichte. Der Mann hatte die Vorstellung, dass Gott nur durch übernatürliche Wunder Menschen begegnet. Er hatte ein festes Bild im Kopf – und weil Gottes Antwort nicht dem Bild entsprach, konnte er sie nicht hören. Gott ist keine Wunscherfüllungsmaschine, die meinen Willen Wirklichkeit werden lässt. Wenn Beten sinnvoll ist und sich lohnt, dann deshalb, weil ich im Gebet ein lebendiges und kritisches, vor allem aber liebendes Gegenüber zu mir und meinen Bildern und Wünschen erfahren kann. Beten lässt mich menschlich sein. Beten stellt mich in Beziehung. Zu Gott, zur Welt um mich herum. Beten hilft mir, Schweres abgeben und Schönes teilen zu können. Beten hilft mir, nicht alles von mir, von Menschen zu erwarten, sondern zu Schwächen stehen zu können. Beten lässt uns nicht aus der Welt fliehen, in eine Scheinwelt, sondern das Gebet öffnet uns für die Welt, für das Leben.
Die Welt in den Blick nehmen. Darum geht es ja auch in dem, was ich eben aus dem 1. Timotheusbrief vorgelesen habe. „Vor allen Dingen tut Bitte, Gebet, Fürbitte und Dank für alle Menschen, auch für die Könige und Obrigkeit.“ Im Gebet könnt ihr das ganze Leben vor Gott bringen und zu Gott in Beziehung setzen. Dank für die schönen Dinge, die gut tun, Bitte und Fürbitte halten für das, was sich unserem Können entzieht, was schwer zu tragen oder zu ertragen ist – und das nicht nur bei mir selbst, nicht nur bei den Menschen, die ich gut finde, sondern Gott will, dass es allen Menschen gut geht. Nehmt die Welt in den Blick. Auch die Regierenden. Merkwürdige Vorstellung für viele. Für die Regierung zu beten. Glauben hat doch mit Politik nichts zu tun! Doch, hat er. Nicht mit Parteipolitik. Aber warum sollen wir nicht dafür beten, dass die, die Verantwortung für eine Stadt, ein Land, die Geschicke der Welt tragen, vom Willen zur Versöhnung in ihren Entscheidungen getragen sein sollen. Warum sollen wir nicht dafür bitten, dass sie Liebe erfahren und weitergeben, dass sie den Mut haben, richtige Entscheidungen zu treffen und Fehler nicht vertuschen, sondern aus Fehlern lernen. Warum sollen wir nicht um gute Regierung beten? Natürlich sind Interessen verschieden. Es geht nicht darum, um die Durchsetzung von Parteiprogrammen zu beten, sondern um den Mut, Frieden und Versöhnung zu leben. Und dazu braucht es immer wieder Kraft. Missverstanden wurde oft der Nachsatz „damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Die ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserem Heiland“. Es geht nicht darum, sich als Christ aus der Welt zurückzuziehen und die Welt und Politik als Orte zu betrachten, die uns gar nichts angehen, sondern darum, in Ruhe, Frieden und Sicherheit den eigenen Glauben leben zu können. Es geht nicht darum, für das Wohl von Diktatoren und menschenverachtender Politik zu beten, sondern darum, dass diejenigen, die Verantwortung tragen, dieser Verantwortung für den Menschen gerecht werden. Und aus der Sicht von Christen im Irak, die Angst haben müssen, Gottesdienste zu feiern, in Nordkorea, die lebensbedrohlich verfolgt werden, in Saudi-Arabien und vielen anderen Ländern der Welt wäre es schon ein Gewinn, wenn die Regierung sie einfach in Ruhe glauben ließe. Wir haben uns an Demokratie und Glaubensfreiheit gewöhnt und vergessen manchmal die Schwestern und Brüder, für die Ruhe nicht falsche Zurückhaltung und Unterstützung falscher Politik bedeutet, sondern zuerst einmal überhaupt die Möglichkeit, leben und glauben zu dürfen.
Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle als Lösegeld. Beten macht nicht heilig, sondern mensch-lich. Jesus hat uns allen, allen Menschen, den direkten Draht zu Gott freigeschaltet. Wenn wir mit Gott reden wollen, dann brauchen wir außer Jesus keine Vermittlung mehr – weder eine Vermittlung über besondere Worte noch besondere Rituale oder Zeiten, schon gar nicht braucht es besondere Menschen oder gar Heilige, die uns bei Gott vertreten müssten. Jesus genügt. Er hat uns, die wir sozusagen gekidnappt waren in Egoismus, in dem Wahn, uns selbst erlösen zu müssen, im Wahn, gegeneinander und nicht miteinander leben zu müssen, freigekauft. Er hat uns nicht nur die Verbindung zu Gott wirklich freigeschaltet, sondern er stellt uns alle nebeneinander, weil Gott alle Menschen wichtig sind. Auch die, mit denen wir uns schwer tun. In Jesus zeigt uns Gott, dass wir gerade im Gebet wirklich Mensch sein dürfen. Jesus hat sich getraut, auch zu rufen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er hat auch gebetet: „Vater, wenn’s möglich ist, lass diesen Kelch, diese schwere Prüfung, an mir vorübergehen“. Beten heißt nicht, den Helden zu markieren. Beten heißt nicht, alles besser zu wissen. Beten heißt, Leben vor Gott bringen zu können. Das ganze Leben. Abgeben zu dürfen, was schwer ist. Beten heißt nicht, die Antwort schon zu kennen, sondern mit überraschenden, manchmal ziemlich naheliegenden, manchmal auch ganz menschlichen Antworten rechnen zu dürfen. Beten heißt für mich, ein Stück Himmel auf der Erde zu erleben und dem Himmel ein Stück Erde zu geben. Beten schenkt Freiheit. Weil ich aus meinem manchmal doch ziemlich engen Horizont herausgeholt werde. Und vielleicht öffnet mir Gott ja auch die Augen und Ohren dafür, dass ich nicht auf das große Wunder warten muss, wie das Überschwemmungsopfer, sondern dass ich im Alltag Gott spüren kann. Manchmal sich auch ganz anders als ich das will.

Sonntag, 2. Mai 2010

Bitte umziehen! - Kantate, 02.05.10, Reihe II

Text: Kolosser 3,12-17

Liebe Gemeinde!
Zieht euch um! – Nein, keine Angst, ich will jetzt nicht, dass jeder nach Hause läuft und sich was anderes anzieht. Ich finde auch nicht, dass sie unpassend angezogen sind. Kleider machen Leute, sagt ein altes Sprichwort. Durch das, was ich nach außen trage, zeige ich anderen etwas von mir. Ob ich das immer bewusst mache oder nicht. Ganz egal. Ich kann zeigen, ob ich viel oder wenig Geld habe. Ob ich möchte, dass die anderen mich für seriös halten oder für flip¬pig oder cool. Ich kann zeigen, ob ich bescheiden bin oder gern das, was ich habe, herausstelle. Ich kann mich als Rebell geben, der in zerrissenen Jeans zu einer Hochzeit geht, oder als Ästhet, der sorgfältig darauf achtet, dass Anlass, Person und Kleidung gut zusammenpassen. Durch mein Äußeres zeige ich immer auch was von meinem Inneren. Von meiner Einstellung zum Leben, zu anderen Menschen. Und das ist nicht erst seit kurzem so, in unserer Zeit, wo es für jeden eine große Fülle von Kleidung gibt, aus der er oder sie aussuchen kann. Wenn wir Menschen uns gegenseitig wahr¬nehmen, haben wir ja nur das, was wir sehen, hören, was wir mit unseren Sinnen erfassen können. Ein zuverlässiger, liebenswerter Mensch, der ungewaschen ankommt, in abgerissener Kleidung rumläuft, wird es schwer haben, so gesehen zu werden, wie er wirklich in seinem Inneren ist.
Zieht euch um! Vielleicht schreibt der Apostel das genau deshalb an seine Mitchristen. Ihr seid doch was! Von Gott auserwählt, nicht im Sinn von besser als andere, sondern in dem Sinn von ausgesucht, um seine Liebe zu empfangen und weiterzugeben. Ihr seid doch längst geliebt. Ihr seid doch heilig, das heißt nichts anderes als: ihr gehört doch schon längst fest zu Gott. So seid ihr. Das schreibt der Apostel und ich glaube, dass wir uns das auch heute immer wieder sagen lassen dürfen. Wir müssen nicht wer weiß was anstellen, damit wir für Gott liebenswert werden. Für ihn müssen wir uns nicht in unsere schönsten Kleider oder Hosen stecken. Für ihn müssen wir nicht tolle, perfekte Menschen sein, die von allen bewundert werden. Bevor wir irgendwas tun können oder gar müssten, sind wir schon was. Es geht nicht darum, irgendwas zu werden, was ich noch nicht bin. Es geht darum, der zu werden, der ich bin. „Werdet die, die ihr seid, zieht euch um!“ Zeigt nach außen, durch euer Leben, in eurem Leben etwas von dem, was in euch ist.
Der Apostel stellt den Christen, auch uns, eine große Kollektion vor, die getragen werden soll. Das sind sicher nicht die neusten Modelle aus den Modemetropolen der Welt, New York, Mailand, Paris. Nichts von H&M oder Armani. Auf den ersten Blick scheint das, was er präsentiert, sogar Modelle zu sein, die aus der Mode gekommen sind. Angestaubt im Kleiderschrank der Zeiten, wiederentdeckt auf Flohmärkten und in Second-Hand-Läden. Herzliches Erbarmen, Sanftmut, Freundlichkeit, Demut, Geduld. Das wirkt nicht gerade schick. Ich glaube, das war auch in den Augen der Christen, die den Kolos-serbrief zuerst gelesen haben, nicht gerade der letzte Schrei und superschick. Die wahren Trendsetter sind aber doch nicht die, die das anziehen, was alle anziehen. Habt den Mut, aufzufallen. Setzt selbst die Modetrends und lauft nicht der Masse hinterher. Vielleicht ist das ja der Ratschlag, den der Apostel nicht nur den Christen seiner Zeit, sondern uns auch heute mitgeben will. Vielleicht sollen wir ja wirklich selber Mode machen statt uns von anderen vorschreiben zu lassen, was gerade modern ist. Sanftmut, Geduld, Freundlichkeit, Demut, Erbarmen – nein, wirklich hoch im Kurs steht das nicht. Durchsetzungsstärke, eine Portion Egoismus, Schläue, die auch bereit ist, mit Tricks zu arbeiten, Beziehungen aus-nutzen statt durch Können zu überzeugen – so läuft die Welt nun mal, oder? Es hilft nichts, zu jammern. Wenn wir als Gemeinde, als Kirche nicht überzeugend andere Modelle vorführen und die anderen Modelle selbstbewusst und offen tragen, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir nicht auffallen. Geduld mit Menschen, die von anderen abgeschrieben werden, Erbarmen auch mit uns selbst und unseren Fehlern, Freundlichkeit, nicht verbittertes und ver-biestertes Kämpfen um Vorteile oder um ein kirchliches Leben, das angeblich schon immer so war. Nichts war schon immer so. auch nicht in der christlichen Gemeinde. Nichts außer dem Grund dafür, dass wir eine Gemeinschaft sind, die sich der Liebe Gottes zu den Menschen gewiss sein kann. Nichts außer der Liebe Got-tes, die in Jesus Christus Gestalt gewonnen hat. Alles andere ist lebendig. Weil Gottes Liebe dem Leben gilt und nicht dem eingefrorenen Stillstand. Zieht das an, tragt das nach außen. Auch wenn andere erst mal sagen, dass das unmodern ist: Lasst euch nicht irre machen. Werdet die, die ihr für Gott seid.
Eins darf dabei aber nicht vergessen werden: Ich kann nicht alle Kleidungsstücke, die mir gezeigt werden, nicht alles, was da ist, gleichzeitig anziehen. Vielleicht ist es ja auch mit die¬ser geistlichen Kleidung, die der Apostel beschreibt, genauso. Ich bin nicht der perfekte Superchrist, der gleichzeitig demü¬tig, sanftmütig, immer geduldig, ständig freundlich ist. Das ein oder andere muss sicher zwischendurch mal zum Auffri¬schen in die Reinigung. Ich brauche Zeiten, in denen ich mich und meine geistige Kleidung regenerieren kann, neue Kraft schöpfen kann. Irgendwann ist sonst auch der tollste Anzug abgetragen, löchrig, ein Fall für den Müll. Ertragt euch und vergebt euch, schreibt der Apostel. Er geht schon davon aus, dass niemand ständig seine geistige Kleidung in perfekter Ordnung hat. Werdet die, die ihr seid – und helft euch gegenseitig, damit ihr nicht an Vollkommenheitsan-sprüchen kaputtgeht. Macht euch auf den Weg, aber bedenkt, dass ihr noch nicht am Ziel seid. Und die anderen auch nicht. „Über alles zieht an die Liebe, sie ist das Band der Vollkommenheit“ – ja, sie ist der Gürtel, der dafür sorgt, dass die Hose nicht ständig rutscht, die Jacke nicht ständig aufgeht, das alles sitzt. Die Liebe, die um das rechte Maß weiß. Die Liebe, die modemutig macht, die uns vorangehen lässt, die hat Ausstrahlung und ist ansteckend. Eine singende, lobende, dankende Gemeinschaft, die weiß, dass sie in aller Verschiedenheit eins ist. Die Gottes Liebe und nicht die eigene Eitelkeit ins Zentrum stellt. Eine Gemeinschaft, die auch Klartext miteinander reden kann, die sich gegenseitig sagt was, gut tut und was nicht in Ordnung ist. eine Gemeinschaft, in der nicht einer dem anderen den Glauben oder die Zugehörigkeit zu Jesus abspricht, weil er oder sie gerade ein anderes Kleid trägt als das, das ich mir ausgesucht habe.
Ich denke, heute ist es wirklich an der Zeit, sich umzuziehen. Und vor allem auch einmal das Kleid der Dankbarkeit anzuziehen. Dankbarkeit für so viel Gutes, das auch hier mitten unter uns wächst. Klar, wir könnten zuerst den Blick darauf richten, dass in jedem Gottesdienst noch jede Menge Stühle frei sind und die selten von Menschen besetzt sind, die jung sind. Wir könnten darüber klagen, dass der Kindergottesdienst meistens eher spärlich besucht wird. Und natürlich auch über Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit auf dem Richtsberg, wahrscheinlich auch unter den Menschen, die zu unserer Gemeinde gehören. Der Apostel sagt ja auch nicht: Malt euch ein Idealbild und betet das an, sondern seht offen auch auf das, was nicht in Ordnung ist. Aber bleibt nicht dabei stehen, schaut doch, wie viel Grund es gibt, sich von der Liebe anstecken zu lassen und zu loben und den Mund aufzutun und zu singen, ansteckend die Liebe Gottes weiterzutragen. Ja, und deshalb können wir Gott danken, ihn loben, ihm singen. Weil seine Liebe immer wieder Menschen zusam-menbringt. wir könne Gott für jeden danken, der kommt, um mit anderen zu singen, sein Wort zu hören, zu beten. Für 19 Jugendliche, die sich auf die Konfirmation 2011 vorbereiten. Auch wenn sie es uns Erwachsenen sicher nicht immer leicht machen werden. Aber es ist doch ein Grund zu danken, dass die Mehrheit der getauften Jugendlichen auf dem Richtsberg immer noch Gott ein bisschen besser kennenlernen möchte. Neben manch anderen Gründen. Ich bin dankbar, dass es Menschen gibt, die mich mit den Konfis nicht allein lassen, sondern die ihre guten Erfahrungen mit Gott weitergeben wollen. Und dankbar, dass Menschen, die aus verschiedenen Ecken der Welt kommen, mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen im Glauben, zusammenkommen und sich austauschen. Ich bin dankbar, dass es Menschen gibt, die durch die Musik, die sie machen, die Herzen der Menschen erreichen und die uns helfen, ins Singen zu kommen. Nein, es ist nicht alles perfekt. Es gibt auch manches, was traurig stimmt und zu Klageliedern anregt. Aber ich wünsche mir und uns, dass wir uns trauen und wirklich dankbar für das singen, was schon da ist, dass wir geduldig auf das warten, was wird und kommt. Ich wünsche uns, dass Gottes Geist uns immer wieder Mut macht, alte Kleider abzulegen und neue anzuziehen, auch wenn wir damit vielleicht auffallen. Ich wünsche uns, dass die Liebe Gottes, in Jesus greifbar geworden, uns verbunden hält, über den Richtsberg hinaus, weltweit, in der einen Kirche, die sich in unterschiedlichen Gemeinden und Konfessionen zeigt. Damit wir immer weiter vorankommen auf dem Weg, die zu werden, die wir sind: Gottes geliebte Menschen. Amen