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Freitag, 30. Oktober 2009

Lass mich nicht in Ruhe! - 17. n. Tr., 11.10.2009, Reihe I

Text: Mt 15,21-28

Liebe Gemeinde!

„Lasst mich doch einfach mal in Ruhe!“ - Können Sie sich vorstellen, dass Jesus so gedacht hat? Jesus war doch mehr als nur ein guter Mann. Als Gottes Sohn war er rund um die Uhr im Einsatz für die Kranken, Armen, Bedürftigen, für die großen und kleinen Sorgen und Nöte der Menschen. Wahrer Gott eben. Nein, so einer wird nie müde, will nie Ruhe haben. Aber Jesus ist eben nicht nur wahrer Gott, er ist auch wahrer Mensch. Was für mich eigentlich das Schönste am christlichen Glauben ist, ist, dass Gott uns Menschen da abholt, wo wir sind. Durch Jesus und in ihm kommt uns Gott entgegen. Er sagt nicht: „Bevor ich irgendwie für euch da bin, müsst ihr viele tausend Regeln befolgen und Bedingungen erfüllen und mir eure Liebe und Verehrung beweisen.“ Er sagt: „Bevor ihr überhaupt wirklich lieben könnt, komme ich euch entgegen, hole ich euch da ab, wo ihr seid, kenne ich längst eure Nöte. Ich bin für euch da, bevor ihr für mich da sein könnt. Ich liebe euch. Und deshalb könnt ihr auch lieben.“ Jesus ist eben auch wahrer Mensch. Und deshalb kann er den Menschen, uns Menschen, wirklich helfen und uns wirklich nahe sein. Hier, in dieser Geschichte aus dem Neuen Testament, wird das für mich wieder sehr deutlich. „Lasst mich doch einfach mal in Ruhe!“ Dieses Gefühl: Ich brauche jetzt mal Abstand, das außer mir sicher auch noch andere hier kennen, das steht ganz am Anfang. Jesus zieht sich zurück in die Gegend von Sidon und Tyrus. So fängt die Geschichte an. Er geht weg von den Menschenmassen, in eine Gegend, in der die Menschen eine ganz andere Religion haben. In eine Gegend, in der ihn vermutlich keiner kennt und keiner was von ihm will. Vorher wird erzählt von großen Reden, die Jesus gehalten hat, von Heilungen, von vielen Menschen, denen er begegnet ist und die etwas von ihm wollten. Jetzt reicht es ihm scheinbar. Mit seinen engsten Freunden will er auftanken. Neue Kraft für neue gute Taten sammeln. Und ausgerechnet da, wo man gar nicht vermuten kann, dass ihn überhaupt jemand kennt und was von ihm will, ausgerechnet da belästigt ihn eine Frau. Eine mit einer fremden Religion, eine, für die er doch gar nicht zuständig ist. „Sorg doch dafür, dass sie endlich Ruhe gibt“ - die Jünger, die Freunde von Jesus, sie sind genervt. Und Jesus reagiert gar nicht. So kennen wir ihn gar nicht, oder? Jesus, einer von uns, einer wie wir? Genervt, Ruhebedürftig, schlecht gelaunt?

Oder ist die Frau eine wie wir? Eine, die verzweifelt ist. Ihre Tochter ist schwer krank. Keiner kann der Tochter helfen. In ihrer Not sind ihr der Anstand, die Sitten, die Bräuche, die Religion egal. Hauptsache, ihrer Tochter wird geholfen. Dass eine Frau einen Mann anspricht - damals undenkbar. Dass eine Heidin, eine Ungläubige, etwas von einem jüdischen Lehrer und Meister will - ging gar nicht. Und dass sie ihn dann auch noch mit den besonderen Ehrentiteln „Sohn Davids“ und „Herr“ anredet, dass darf sie doch eigentlich gar nicht, sie glaubt doch an andere Götter! Aber in ihrer Not weiß sie sich nicht anders zu helfen. Für ihre Tochter tut sie alles. Und wenn Jesus wirklich so ein Freund der Menschen ist, wie immer erzählt wird, dann muss er doch auch für sie da sein! Ja, ich hoffe, dass die Frau eine von uns ist. Ich hoffe, dass wir wie die Frau sind. Dass wir uns nicht abspeisen lassen und nicht schnell zufrieden geben, wenn es um das Leben von Menschen geht, die uns wichtig sind. Dass wir uns trauen Jesus, Gott, anzusprechen, ihn auf die Liebe, die er doch nicht nur sein will, sondern auch ist, festnageln und uns nicht damit zufrieden geben, dass er manchmal einfach schweigt. Im Konfirmandenunterricht haben wir in den vergangen Wochen auch über das Gebet geredet. Und mehrere Konfirmanden haben das gesagt, was doch jeder, der es einmal ernsthaft mit dem Beten versucht hat, wahrscheinlich nachvollziehen kann: „Aber Gott antwortet doch nicht. Er lässt auch sinnvolle Bitten unerfüllt, er spricht nicht direkt so, dass ich es verstehen könnte.“ Ich wünsche allen, die diese Erfahrung machen, die Kraft der Frau in der Geschichte, die sich vom Schweigen nicht irre machen lässt, die dagegen hält, als sie eine Antwort bekommt, die sie nicht versteht, ich wünsche allen, die diese Erfahrung machen, die Kraft, dranzubleiben, dagegenzuhalten, die Hoffnung nicht zu verlieren. Wir dürfen Gott mit unseren Anliegen wirklich ansprechen. Das macht die Geschichte deutlich. Glauben, der Zweifel und Zurückweisung überwindet, hat eine Hoffnung und eine Verheißung.

Mir ist diese Geschichte wichtig geworden. Nicht nur, weil Jesus hier auch menschlich begegnet, und ich so wissen darf, dass mich auch meine manchmal schwierigen Seiten, Gereiztheit, Ruhebedürftigkeit und manches andere mehr nicht von ihm trennen. Gott kennt mich und meine Schwächen. Und in dieses Leben kommt er. Nicht in ein ideales Leben. Mir ist die Geschichte nicht nur wichtig, weil sie von der Hoffnung erzählt, dass Gott zuhört, dass er Not wirklich wendet. Mir ist sie vor allem auch deshalb wichtig, weil er das so tut, dass er auch Grenzen, die Menschenziehen, überwindet. Dass er auch die Grenzen, die auf ihn zurückzuführen sind, die Grenzen der Religionen, überwindet. Gottes Liebe macht nicht dort Halt, wo der Glauben an ihn seine Grenze hat. Die durch Jesus sichtbare Menschlichkeit Gottes lässt Menschen die Menschenfreundlichkeit Gottes erkennen. Es ist menschlich, dass wir Grenzen brauchen. Wir wären von einer Forderung nach Grenzenlosigkeit überfordert. Grenzen geben auch Halt und Orientierung. Da, wo zum Beispiel auch in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, Grenzen vorenthalten werden, wird Leben schnell unmenschlich. Wir brauchen Grenzen. Nicht als absolute Trennung, sondern zur Orientierung, als Einladung, daran zu wachsen, zu schauen, wo sie nötig oder überflüssig sind. Aber diese Grenzen von uns dürfen wir nicht zu Grenzen Gottes machen. Hilfe, Zuwendung, zuhören, reden nur für die, mit denen, die so sind, so denken, so glauben wie wir - das ist nicht Gottes Programm. Menschsein, Menschlichkeit - das hat keine Grenze, das darf keine Grenze haben. Der wahre Mensch Jesus hat Gottes Liebe, Gottes Kraft über die Grenzen hinaus getragen und so Wege zu Gott geöffnet, von denen die Menschen, die an Gott glaubten, dachten, dass es sie gar nicht gäbe. Wenn wir als Menschen Gottes Liebe einschränken wollen, anderen vielleicht auch Glauben absprechen wollen, dann müssen wir mehr als nur vorsichtig damit sein. Jesus ist für Überraschungen gut, Gottes Liebe ist für Überraschungen gut.

Aber bei allem, was für mich in dieser Geschichte schön und wichtig ist, eine Frage bleibt. Die Tochter wird gesund. Der große Glaube der Frau hat geholfen. Aber wie ist das bei den vielen Söhnen und Töchtern, die nicht gesund werden? Bei dem Sohn, der an Leukämie stirbt und nach dessen Tod die Familie zerbricht? Bei dem Mädchen, dass die Schrecken des Missbrauchs nie verkraftet hat und dessen Leben in eine tödliche Spirale aus Abhängigkeiten gerät? War dort, war bei viel zu vielen anderen Fällen der Glauben etwa nicht groß genug? Nicht jeder, der glaubt, erfährt wirklich diese Hilfe - oder, und da sind wir wieder bei den Schwierigkeiten, die nicht nur Konfirmandinnen und Konfirmanden mit dem Beten haben, er erfährt diese Hilfe nicht so, dass er sie als Hilfe auch erkennt und wahrnimmt. Auch wenn ich lange predigen und reden kann - manchmal bin ich auch sprachlos. Gerade wenn es um die Erfahrungen geht, die in der Geschichte auftauchen. Um Krankheit und erfolgreiche oder eben erfolglose Versuche, sie zu beseitigen. Glauben und Gesundheit - nein, einen automatischen und immer erkennbaren Zusammenhang kann ich nicht sehen. Ich wünsche mir dann, dass ich auch dann so sein kann wie die Frau - mit Durchhaltevermögen und dem Mut, auch kritische Fragen zu stellen. Und dass ich die Hoffnung auf eine Antwort, die ich verstehe, nicht verliere. Diese Hoffnung und diese Kraft wünsche ich uns allen. Damit wir mitten in diesem oft so fragwürdigen Leben Gottes Zuwendung und Nähe erfahren, die Liebe des Mensch gewordenen Gottes, der unsere Not kennt, der uns liebt, bevor wir überhaupt auf die Idee kommen, ihm irgendetwas zurückgeben zu müssen. Ich wünsche uns, dass wir die Hoffnung behalten, auch dann, wenn wir uns schwer tun. Damit wir unsere Grenzen aushalten und Gott zutrauen, dass er größer ist als unsere Grenzen. Auch wenn wir manchmal zu anderen sagen: „Lasst mich doch in Ruhe“ - Gott lässt uns nicht endgültig in Ruhe. Wir sind geliebt. Gott sei Dank.

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