Liebe
Gemeinde!
Eine
der schlimmsten Foltermethoden ist der dauerhafte Schlafentzug. Wer nicht zur
Ruhe kommt, wer nicht wenigstens ein Minimum an Schlaf bekommt, der dreht irgendwann
völlig durch. Eine Ahnung davon bekommt der, der nachts wachliegt, und alle
Sorgen und Gedanken kommen wieder und wieder, Schlaf geht gar nicht mehr. Und
das nicht nur tage-, sondern wochen-, manchmal auch monatelang. Immer wieder:
Wachsein, Wachsein, Wachsein, wo doch eigentlich Ruhe sein sollte, damit neue
Kräfte wachsen können. Leer und verbraucht steht man schon morgens da – und
abends dann wieder die Angst, keine Ruhe zu finden. Wachet! Oft genug ist es
die Begegnung mit dem Tod, die Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt. Die
Einsamkeit, weil einfach ein ganz wichtiger und lieber Mensch fehlt. Die
Fragen, wie das jetzt alles ohne diesen Menschen weitergehen soll. Das Gefühl,
nicht genug gegeben oder vielleicht auch nicht genug empfangen zu haben. Die
Erinnerung an das Schöne oder an das Liegengebliebene zwischen Menschen, das
keine Änderung mehr erfährt. Oder einfach nur ein Durcheinander im Kopf,
Fragen, Fragen, Fragen, die der Tod aufgeworfen hat und die keine Antwort
finden. Wachet! Vielleicht kommt dem einen oder der anderen, die heute hier im
Gottesdienst ist, diese Aufforderung von Jesus wie Hohn vor. Zu frisch, zu
intensiv sind vielleicht noch die Gedanken an den Menschen, von dem im zu Ende
gehenden Jahr oder vor einiger Zeit Abschied genommen werden musste. Wachet!? –
Du hast gut reden, das muss ich doch immer und immer wieder! Ich will endlich
wieder ruhen können! So mag manche und mancher denken.
Ruhe
finden. Ruhe in Frieden – das ist ein Wunsch, der oft Verstorbenen mitgegeben
wird. Und gerade im Alten Testament, das ich so liebe, weil es so wunderbar
ehrlich vom Menschsein erzählt, ist ganz oft davon die Rede, dass die Ruhe eine
gute Gabe Gottes ist. Kehrt Jesus das hier etwa um? Widerspricht er dem Vater,
der seinen Menschen Ruhe gönnen und schenken will, wenn er ruft: Wachet!? Ich
glaube nicht, dass das ein Widerspruch ist, sondern dass es Wachheit im Sinne
Jesu braucht, um Ruhe zu finden. Und mit dieser Wachheit, von der Jesus
spricht, ist nicht das nächtliche Wälzen im Bett vor lauter Sorgen gemeint,
sondern eine Aufmerksamkeit, die dabei hilft, auch die Momente der Ruhe und des
Friedens zu finden.
Ruhe
finden – nicht zuletzt heißt das auch: Loslassen können! Am Anfang mag es ein
Trost sein, zu hören und zu glauben: „Wenn einer gestorben ist, dann lebt er in
unseren Erinnerungen weiter!“ Aber wie ist das, wenn die Erinnerungen blasser
werden? Töte ich dann den, der gestorben ist, erst richtig, mit jeder
verblassenden Erinnerung ein bisschen mehr? Wie ist das mit den Menschen, die wegen
ihrer Grausamkeit vielen, vielen Menschen über Jahrhunderte und Jahrtausende
weg im Gedächtnis bleiben, wie Nero, Stalin, vor allem Hitler: haben die es
verdient, ewig zu leben, während Millionen von Menschen, die im Stillen ihren
Kindern, ihren Männern, ihren Frauen, ihren Nachbarn, Fremden gut getan haben,
längst vergessen und damit, nach dieser Logik, richtig tot und ohne jede Chance
sind? Wie ist das mit den Menschen, die ganz einsam gestorben sind? Vergisst
Gott die auch, weil sich Menschen nicht mehr an sie erinnern? Ruhe finden, das
heißt auch: Erinnerungen loslassen können. Weil eben nicht unsere Erinnerungen
Grund dafür sind, dass Gott Sieger über den Tod ist und wir nur durch unsere
Erinnerungen an andere darauf vertrauen dürfen, dass Menschen nicht in die
absolute Beziehungslosigkeit, das absolute Nichts fallen, sondern weil Gottes
Wort der Liebe und der Versöhnung, Mensch geworden in Jesus, Grund für die
Hoffnung ist. Wir überfordern uns und stellen uns letztlich an Gottes Stelle,
wenn wir glauben, wir müssten durch unsere Erinnerungen ewiges Leben
produzieren. Ruhe finden heißt auch: Loslassen können, so schwer das im
Einzelnen auch sein mag. Loslassen können und Gott überlassen, was sein ist,
nämlich die Sorge um ein Leben, um Beziehungen, die jenseits unseres Denkens
und Könnens liegen.
„Himmel
und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen“ – so sagt
Jesus. Das sichtbare Leben, das was wir kennen und mit unserem Denken und Erinnern
einigermaßen erfassen können, das kann gar nicht ewig sein – aber Liebe,
Versöhnung, die Verwandlung der Schöpfung am Ende der Zeit, das hat Bestand.
Und darum müssen wir uns nicht sorgen, das dürfen und müssen wir ihm
überlassen. Damit wir wachsam bleiben – für diese Welt, in der wir leben, in
der wir immer wieder Spuren des Lebens, das stärker als der Tod ist, entdecken
können.
Die
Wachsamkeit, von der Jesus redet, ist nicht das schlaflose Durchwachen von
Nächten, getrieben von der Angst um die Zukunft oder der Sehnsucht nach einer
besseren Vergangenheit. Die Wachsamkeit, von der Jesus redet, ist nicht das
krampfhafte Festhalten an dem, was sich irgendwann einmal als hilfreich
erwiesen hat, und die Wachsamkeit ist nicht die Angst vor Veränderungen und der
Versuch, wachsam alles aus der Vergangenheit zu bewahren. Die Wachsamkeit, von
der Jesus erzählt, ist fast das Gegenteil davon: nämlich die Aufmerksamkeit für
den Augenblick, die Wachsamkeit dafür, das Leben ganz plötzlich und unerwartet
auch da wieder aufscheint, wo ich an der Vergangenheit festhalten will oder nur
Dunkles sehe. Wenn der Blick zu sehr von dem gefangengenommen wird, was hinter
mir liegt, was in der Vergangenheit gut war, dann kann ich gar nicht wachsam
sein für das, was von oben kommt, was vor mir liegt, was neben mir geht. Wenn
der Blick zu sehr auf dem Bewahren von dem, was früher war, ruht, dann verpasse
ich die Momente der Gegenwart des lebendigen Wortes Gottes, der Liebe, die auf
Gott hinweist. Ruhe finden – und leben. Loslassen – und lieben. Vielleicht ist
das die Wachsamkeit, von der Jesus erzählt.
Was
ich für mich richtig schön finde, ist, dass Jesus hier keinen starren Fahrplan
vorgibt, wie das Leben aufscheint, das eben endgültig gut und versöhnt ist und
von dem wir einen Zipfel eben schon in dieser Welt fassen können. Menschen
können nicht berechnen, wie Gottes Liebe in der Welt aufscheint und Menschen
können nicht berechnen, wie diese Zeit zu Ende geht und Gott die Schöpfung
verwandelt. Wach sein für den Augenblick. Das Leben nicht verpassen. Die Liebe
nicht verpassen – es ist etwas Wunderbares, zu dem Jesus uns hier einlädt. Wach
sein für den Augenblick, in dem Leben aufscheint – Gott gönnt uns die Ruhe,
nicht verzweifelt auf die Suche gehen zu müssen, sondern warten, leben und
schauen zu dürfen. Wir müssen nichts selbst herstellen, sondern bereit sein,
den Augenblick wahrzunehmen.
Manchmal
sicher leichter gesagt als getan. Manchmal hätten wir gern die sicheren
Zeichen, den Fahrplan, auf den wir uns verlassen können. Nicht nur dann wenn wir
um einen Menschen trauern und gern wüssten, wie wir zu handeln haben, damit uns
die Trauer wieder ins Leben entlässt. Manchmal auch dann wenn wir an unserem
Glauben zweifeln, wenn wir von der Liebe enttäuscht sind oder spüren, dass die
Richtung, in die sich das Leben in dieser Welt entwickelt, viel zu viel
Ungerechtigkeit produziert und wir uns danach sehnen, feste Regeln oder
nachprüfbare Fakten dafür zu haben, dass Gott mit seiner Liebe stärker ist. Und
dass der Tod keine Macht mehr hat. Aber wir haben das nicht, auch ich als
Pfarrer nicht. Gott sei Dank. Denn das bedeutet, dass diese Liebe, das Gott
wirklich lebendig ist. Und sich in Beziehung setzt. Denn Beziehung ist immer
etwas einmaliges, weil zwei Individuen da sind. Und das, was ich an Gottes
Liebe erkenne, muss nicht das sein, wo sie einem anderen aufblitzt. Am Ende
wird alles eindeutig sein. Aber dieses Ende ist noch nicht da. wir leben in
Vorläufigkeit. Wir sind auf Vertrauen
und Hoffnung angewiesen. Und auf Vollendung. Aber bis dahin darf das, was mir
Gottes Liebe zeigt, was mir Ruhe gibt, anders sein als das, was Daniel oder
Frau Schmidt oder Selina dies zeigt. Am Ende werden wir alle erkennen. Bis
dahin gebe Gott uns ruhe, Frieden, Liebe und Geduld – und Wachsamkeit, damit
wir offene Augen für das Leben haben oder behalten oder bekommen. Für das
Leben, das auch in tiefster Dunkelheit immer wieder aufscheint. Weil Gott ein
Gott des Lebens ist. Weil Gott die Liebe ist.
Amen.
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