Text: Johannes 5,39-47 (Neue Genfer Übersetzung)
Liebe Gemeinde!
Was ist eigentlich wichtiger? Die Wahrheit zu sehen und zu sagen oder vor anderen gut da zu stehen und dabei die Wahrheit ein bisschen, sagen wir mal, anzupassen? Ich gehe mal davon aus, dass alle, die jetzt zuhören, egal ob Konfi oder Rentner, Studentin oder mitten im Berufsleben, mit Abi oder mit Hauptschulabschluss spontan sagen: „Die Wahrheit ist wichtiger!“ Würde ich natürlich auch so sagen. Aber ist die spontane Antwort wirklich die ehrliche Antwort? Wenn ich zu mir selber ehrlich bin, dann muss ich schon zugeben, dass es mir zumindest nicht egal ist, was andere denken. Ich versuche, zum Beispiel, meine Predigten so zu halten, dass ich denke, auch Konfis oder Rentner können sie verstehen. Und da lasse ich sicher auch mal schwierige Gedanken aus. Und ich freue mich doch, wenn ich höre: „Ich komme gern zu ihnen in den Gottesdienst, weil ihre Predigten nicht so langweilig sind!“ Zum Beispiel. Ich glaube, den allermeisten Menschen ist es nicht egal, wie sie vor anderen dastehen. Und wem das egal ist, wer wirklich so lebt, dass er um jeden Preis seine Meinung sagt und das, was er für die Wahrheit hält zu 100% raushaut, der tut das oft sehr verletzend und lebt auch sonst eher wenig sozial. Wir Menschen sind auf Be-ziehungen angewiesen. Und deshalb ist praktisch niemand frei davon, auch nach dem Bild zu fragen, das andere von einem haben. Natürlich darf und soll das nicht so enden, dass mein Bild vor anderen künstlich aufgeblasen wird, große Klappe und nichts dahinter. Eines meiner nichtbiblischen Lieblingszitate lautet: „Es ist besser, für das, was man ist, gehasst, als für das, was man nicht ist, geliebt zu werden!“ Es stammt von dem französischen Dichter André Gide. Aber mal ehrlich: Wer von uns strebt danach, gehasst zu werden? Ansehen, Liebe, das ist, wenn wir ehrlich sind, alles andere als unwichtig. Warum ich das jetzt so ausführlich sage und was das mit dem Stück aus dem Jo-hannesevangelium, das ich eben vorgelesen habe, zu tun hat, werden vielleicht manche fragen und mir „Komm endlich zur Sache!“ zurufen wollen.
Ich habe das deshalb gemacht, weil ich nicht möchte, dass sich bei uns heute eine Überheblichkeit gegenüber den frommen Juden, die Jesus hier kritisiert, einstellt. Ganz leicht stellt sich so etwas ein: Typisch, die machen alles nur wegen ihres Ansehens und gehen an dem, was Gott mit Jesus wollte, total vorbei. „Typisch für die jüdischen Priester oder Schriftgelehrten in der Zeit von Jesus.“ So denken viele. Und manche gehen dann gleich weiter: „typisch auch für Pfarrer, Priester, Bischöfe heu-te. Die verfälschen ja die Botschaft von Jesus. Wenn der heute leben würde, dann würde er die rund machen. Die haben ja nichts verstanden.“ Und wer Kirche kritisiert, schon ganz und gar Kirchenleitung, der kann sich sicher sein, dass er oder sie Applaus kriegt. Auch so manchem, der von sich selber sagt, dass es ihm um nichts anderes als die Wahrheit geht und es ihm egal ist, wie er vor an-deren dasteht, der freut sich nicht nur klammheimlich, wenn er als cooler Rebell dasteht. Als einsamer Prophet, der aus der Masse der so genannten Mitläufer heraus-ragt. Das allererste, was wir als Menschen nie aus dem Blick verlieren sollten, egal ob als Christen oder Nicht-christen, egal ob wir von Jesus, von Gott oder von ande-rem reden ist, dass wir nie vollkommen sind. Wir sind und bleiben auf Liebe und Vergebung angewiesen und wir sollten uns davor hüten, anderen so etwas abzusprechen. Für mich ist das, was Jesus hier einer Gruppe von frommen und gelehrten Menschen sagt, die auf ihre Art ihre Suche nach Gott ernst meinen, dabei aber Gott aus dem Blick verlieren, nicht irgendeine Diskussion von vor 2000 Jahren, die uns egal sein kann. Für mich ist hier vieles drin, was auch für unseren Glauben und unser Bild von Jesus, von Gott wichtig ist.
Woher wissen wir denn was von Gott, was von Jesus? Aus den Schriften, aus der Bibel! Da geht es uns doch genauso wie den Menschen, mit denen Jesus spricht. Jesus sagt, dass die ganze Bibel, eben auch das, was für uns das Alte Testament ist, so von Gott erzählt, dass es auch auf Jesus hinweist. Aber vor lauter Buchstabentreue, vor lauter wichtiger und gelehrter Auslegung gerät manchmal der lebendige Gott völlig aus dem Blick. Jesus legt sich mit den Gelehrten seiner Zeit an, weil sie nicht erkennen, dass Gott im Sinn der Bibel und nicht in jedem einzelnen Buchstaben zu finden ist. Die Grundaussage, die sich durch alle Schriften in der Bibel zieht, ist die, dass Gott ein lebendiger Gott ist. Aber die Leute, mit denen Jesus streitet, stellen den Buchstaben vor das Leben. Sie stören sich daran, dass Jesus am Ruhetag einen Kranken heilt. „In der Bibel steht doch, du sollst am 7. Tag ruhen, gar nichts arbeiten! Wenn du von Gott kommst, dann darfst du nicht gegen die Buchstaben des Gebots verstoßen. Die Schrift ist heilig!“ So argumentieren sie. Und viele andere fanden das gut, weil sie sich so gut in der Bibel auskannten und alle Regeln wussten. Aber das Entscheidende ist eben, nicht mit der Haltung an die Bibel zu gehen: „So, jetzt will ich den anderen mal zeigen, wie gut ich mich auskenne und wie ich meine Bildung zeigen kann!“ Das Entscheidende ist, danach zu fragen: „Was will Gott eigentlich mit dem, was da steht, sagen?“ Und das ist zuallererst, dass er kein starrer Block ist, den man beschreiben, vermessen und verehren kann, sondern lebendig. So zeigt er sich Mose zum Bei-spiel in einem brennenden Dornbusch. Ein Feuer flackert, kann wärmen und manchmal auch bedrohlich sein. Es hat viele Facetten. Und Gott stellt sich mit den Worten vor: „Ich bin, der ich bin – ich werde sein, der ich sein werde“. Gott ist Gott in Beziehung. Im ersten Johannesbrief im Neuen Testament wird in un-übertroffener Klarheit gesagt: „Gott ist die Liebe“. Le-bendiger geht es nicht. Der eben schon mal zitierte fran-zösische Schriftsteller André Gide sagt über die Liebe: „Das ist das Eigentümliche an der Liebe, dass sie nie-mals gleich bleiben kann; sie muss unaufhörlich wach-sen, wenn sie nicht abnehmen soll.“ Gott wächst mit uns. Er ist nicht der Gott, der stillsteht und von außen beobachtet, sondern der, der sich von sich aus in Beziehung begibt. Im Menschen Jesus drückt sich das aus. Gott ist nicht scheinbar Mensch geworden, er tut nicht so, als ob. Sondern er ist ganz und gar Mensch geworden um deutlich zu machen, wie lebendig seine Liebe zu uns ist. Liebe, das heißt eben auch, dass manchmal Trauer und Schmerz dazugehören. Wenn ich nicht liebe, dann kann ich alles objektiv betrachten, so dass mich nichts was angeht. Ich kann von außen beschreiben. Die Schrift, die Bibel, die in allem von Gott erzählt, die wird dann zu einem Buch, das ich klug auseinandernehmen kann, durch das ich mich toll darstellen kann, weil ich vielleicht sogar in der Lage bin, es im Original, in Hebräisch und Griechisch, zu lesen. Ich kann Ansehen bei anderen gewinnen. Aber wenn ich wirklich in eine Beziehung gehe, wenn ich in der Bibel Gottes Angebot, zu uns Menschen, auch zu mir, eine Be-ziehung aufzubauen, sehe, dann kann ich das nicht. Ich bleibe nicht objektiv außen, sondern ich bin mittendrin, ich bin Teil der Beziehung. Und da bin ich immer einer, der lernt. Anders funktioniert eine lebendige Beziehung nicht. Ich entdecke immer wieder neue Seiten an der Liebe, neue Seiten an dem, was da steht. Buchstaben werden lebendig. Manches stirbt vielleicht auch, weil es für meine Beziehung zu Gott nicht mehr so wichtig ist. Dafür ist es vielleicht für einen anderen mit seiner Beziehung ganz wichtig. Je mehr ich eigentlich in der Bibel drin bin, je mehr ich danach suche, was Gott sagen will, desto mehr werde ich zum Lernenden. Nie fertig mit einer Beziehung. Liebe kann eben niemals gleich bleiben. An Gott zu glauben, ihm zu vertrauen, heißt eben, sich selbst immer wieder als einen Menschen zu erfahren, der lernt, der sucht, der geliebt wird und liebt. So wenig wie Gott fertig ist sind wir Menschen und unser Wissen fertig. Schon Mose, so sagt es Jesus hier im Johannesevangelium, bezeugt den lebendigen Gott und nicht den toten Buchstaben. Nicht erst jesus, Gottes Mensch gewordene Liebe, wird deshalb diejenigen, die die Buchstaben für Gott selbst halten, anklagen, sondern schon Mose macht es. Es geht nicht um einen Buchsta-benglauben, sondern um einen Schriftglauben. Wir ha-ben keinen anderen Weg, von Gott zu erfahren, als die Bibel. Aber nicht, damit wir mit unserem Bibelwissen vor anderen oder vor Gott angeben können, sondern da-mit wir uns einladen lassen, geliebt zu werden und zu lieben und aus toten Buchstaben Leben werden zu las-sen. Leben, das wie Jesus gezeigt hat, stärker als der Tod ist.
Amen.
Predigten und Gedanken aus der Thomaskirche auf dem Richtsberg in Marburg
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Montag, 27. Juni 2011
Es ist besser, für das was man ist gehasst, als für das, was man nicht ist, geliebt zu werden - oder? - 1. nach Trinitatis, Reihe III, 26.06.2011
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