Liebe
Gemeinde!
Irgendwie
geht das Leben weiter – zumindest für die Nachbarn und Bekannten. Für die
Verwandtschaft. Natürlich macht der Tod traurig. Ein Nachbar fehlt, eine
Freundin, die Nichte oder der Cousin. In den ersten Tagen und Wochen ist noch
viel Besuch da, man geht hin, fragt, hilft – aber dann kommt der Alltag wieder.
Die eigenen Anforderungen. Im Beruf, in der Schule, in der eigenen Familie. Die
eigenen Sorgen. Ab und zu denkt man noch an den Tod. Aber das Leben geht
weiter. Hin und wieder vielleicht noch mal eine Nachfrage, ein kurzes
Telefonat, ein kurzer Besuch. Aber auch das wird meistens weniger. Kein böser
Wille. Aber das Leben geht weiter. Für die, die leben. Die immer noch Familie
und Freunde haben.
Das
Leben geht weiter – auch für die Frau, die ihren Mann begraben musste und kurz
darauf noch ihren einzigen Sohn verlor. Aber wie geht es weiter? Wenn das
Miteinander gut war, ist es schon schlimm, den Menschen zu verlieren, mit dem
man lange sein Leben geteilt und den man geliebt hat. Aber dann auch noch den
einzigen Sohn zu verlieren… - bis heute gehört es zu den schlimmsten Alpträumen
von Eltern, am Grab des eigenen Kindes stehen zu müssen. Das Leben geht weiter
– am Anfang sicher noch mit Freunden, Verwandten, Nachbarn, die mal nachfragen,
die aber weniger werden. Die die Trauer nicht mehr aushalten wollen, weil ihr
Leben ja tatsächlich normal weiter läuft. Das Leben geht weiter. Aber wie? In
den allermeisten Fällen nicht nur mit einer Lücke, sondern mit einem Loch, das
wie ein schwarzes Loch ganz viel Energie, Freude, Lebenskraft in sich
hineinzieht und nicht wieder rauslässt. So erlebe ich das vielfach heute.
Und
zu der Zeit, in der das war, was Lukas hier in seinem Evangelium erzählt, war
alles noch dramatischer. Der Witwe wurde nicht nur das Herz herausgerissen. Ihr
Weg als Bettlerin war vorgezeichnet. Damals konnten Frauen keine
Rechtsgeschäfte tätigen. Sie brauchten Männer, die für sie eintraten. Und die
beiden Männer, die das konnten, waren weg. Der Ehemann und der einzige Sohn. Zu
dem seelischen Schmerz kommt die Gewissheit, bis an das eigene Lebensende auf
den guten Willen, die Almosen der anderen angewiesen zu sein. Und selbst für
die wohlmeinendsten Nachbarn geht das Leben weiter und die verwaiste Witwe
rückt aus dem Zentrum immer weiter an den Rand des Lebens.
Ich
glaube, dass man das wissen und sich immer wieder klar machen muss, wenn man
die Geschichte von der verwaisten Witwe, die Lukas für uns erzählt, hört. Zu leicht
lassen wir uns nämlich von dem nach menschlichen Maßstäben unmöglichen Wunder
der Totenerweckung ablenken und spekulieren darüber, wie das wohl gehen könne
und je nach persönlicher Frömmigkeitsgeschichte verteidigen wir dieses Wunder
oder wir geben den Kritikern Recht, die es aus Vernunftgründen ausschließen.
Und
so verpassen wir dann das, was in dieser Begegnung für Jesus und auch für
seinen Evangelisten Lukas im Mittelpunkt steht. Im Mittelpunkt steht da nicht
das Wunder, sondern die verwaiste Witwe mit ihrer Not. Der Schlüsselsatz, der
hilft, diese Geschichte zu verstehen, der steht genau in der Mitte. „Als sie
der Herr sah, jammerte sie ihn und er sprach zu ihr: Weine nicht!“ so übersetzt
Martin Luther den Schlüsselsatz von Lukas.
Vier
Beobachtungen:
1. Die erste, die in den Blick kommt ist sie, die verwaiste Witwe.
Nicht der Tote, nicht die Menge der Trauernden, nicht die Jünger oder die
Menge, die mit Jesus unterwegs ist, vor der er sich mit einem Wunder gut
darstellen könnte. Sondern sie. Die verwaiste Witwe. Sie, deren Schicksal es
sein wird, in Zukunft nach und nach aus dem Blick der Menschen zu verschwinden.
Sie wird zuerst gesehen. 2. Zum ersten Mal spricht Lukas als Erzähler hier von
Jesus als dem Herrn. Hier, in dieser Begegnung, wird auch für ihn deutlich, was
das Wesen Jesu und mit ihm das Wesen Gottes ausmacht. 3. „Sie, die Witwe,
jammerte ihn, Jesus“. So übersetzt es Martin Luther. Altmodisch. Moderner
könnte man vielleicht sagen: Jesus hatte Mitleid mit ihr. Aber wörtlich
bedeutete das griechische Wort: seine Eingeweide zogen sich zusammen. Ich
finde, das ist ein Wahnsinnsbild für Jesus. Das Elend der verwaisten Witwe geht
ihm innerlich unglaublich nahe. Es macht ihm wirklich was aus. Kein
oberflächliches Mitleid, das schnell vergessen ist und manchmal nur dazu dient,
sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Und 4. „Weine nicht“ – das ist keine
Kritik an den Tränen, kein Befehl, das heulen sein zu lassen, sondern die
Zuwendung: Ich bin da, ich bin ganz bei dir, die Zusage: deine Trauer wird sich
ändern.
Bis
heute heißt das: Menschen, die sonst aus dem Blick geraten, Menschen die in Not
sind, sind im Zentrum der Aufmerksamkeit Jesu – und damit im Zentrum der Aufmerksamkeit
Gottes. Wenn wir als einzelne Christen, als Gemeinde auf dem Richtsberg, als
Kirche uns auf Jesus berufen, dann können wir das nicht an der ganz konkreten
Not von Menschen vorbei tun. Ich glaube wirklich, dass es Jesus völlig egal
ist, ob es durch das Dach der Kirche regnet oder ob das Abendmahl mit kostbarem
Silbergeschirr gefeiert wird, ob die Kirche eine Hütte aus Abfallholz, ein
Betonbau oder eine beeindruckende Kathedrale ist. Ihm ist es egal, ob ich einen
Anzug mit Krawatte, Markenklamotten oder gebrauchte Kleidung trage. Aber nicht
egal ist es ihm, wenn eine Mutter um ihr Kind trauert, wenn einem Menschen
seine Verdienstmöglichkeiten weggenommen werden oder wenn im Krieg in Syrien
Menschen vor dem Nichts stehen und reiche Staaten sich schwer damit tun,
Flüchtlinge aufzunehmen. Als einzelne Menschen in Not. Jesus, so erzählt es
diese Geschichte, nimmt das Leid und die Not nicht nur wahr, sondern es macht
etwas mit ihm. Kirche, Gemeinde, Menschen in seiner Nachfolge können nicht an Not
vorbeigehen, wenn sie sich auf ihn berufen wollen. Im Mittelpunkt für Gott
steht der Mensch. Nicht die Institution, nicht die Gebäude. Auch nicht die
Religionsgemeinschaft. Jesus sieht die Witwe. Und die jammert ihn. Ihr
Schicksal führt dazu, dass sich seine Eingeweide zusammenziehen. Weil sie
Mensch ist. Weil Gott den Menschen liebt. Und weil in Jesus Gott ganz und gar
begegnet.
Und
was ist mit dem Wunder? Will der Pfarrer sich jetzt in der Predigt davor
drücken, weil er das nicht erklären kann? Nein, will er nicht! Aber es ist halt
nicht das Wesentliche. Das sieht man schon daran, wie zurückhaltend es erzählt
wird. Jesus rührt den Sarg, eigentlich nur die Bahre an. Um die Träger auf dem
Weg zum Grab zu stoppen. Nicht mehr. Jesus zaubert nicht. Sein Wort genügt, um
die Wirklichkeit zu ändern, um dem Tod die Macht zu nehmen. So, wie Lukas hier
erzählt, ist der Kern des Handelns Jesu nicht der Beweis außergewöhnlicher
göttlicher Macht, sondern es geht darum, die verwaiste Witwe wieder in ein
menschenwürdiges Leben zu führen. Der Sohn wird irgendwann einmal wieder
sterben. Es ist nicht die endgültige Auferstehung. Es ist nicht das, was nach
dem Tod kommt, sondern es ist Leben in dieser Welt unter den Bedingungen dieser
Welt. Jesus lässt sich anrühren vom Leid – und er wendet Leid. Klar, die Frage
ist berechtigt, die manche verwaiste Mutter, mancher verwaiste Vater damals wie
heute stellen kann und darf: Und warum macht Jesus dann mein totes Kind nicht
wieder lebendig, wenigstens so lange, bis ich vor ihm sterbe? Der einzige
Antwortversuch, den ich habe, ist der: Weil ich glaube, dass Jesus kein Zauberer
ist. Weil ich glaube, dass Jesus dich und deine Not schon längst im Blick hat.
Weil ich glaube, dass er schon nach einem anderen Weg sucht, dich aus deiner
Not herauszuführen. Das, was Lukas hier uns überliefert, ist Jesu Weg für diese
eine Witwe, die in diesem Moment mit ihrer Not im Mittelpunkt steht. Wie die
Geschichte mit anderen Menschen, mit anderen Notlagen aussehen könnte, erzählt
er nicht. Nur, dass Jesus den Menschen sieht, die Not sieht und von Not erlöst.
Nicht, wie das allgemein immer geschieht, sondern wie das in einem ganz
konkreten Fall aussieht. Und das erkennen auch die Menschen, die dabei sind. Sie
nehmen den Ruf von Zacharias auf: Gott hat sein Volk besucht. Und erlöst. Nicht die Größe des Wunders ist
entscheidend, sondern die Hinwendung zum Menschen. Zu den Menschen, die geliebt
sind. In ihrer Not.
Irgendwie
geht das Leben weiter – und unsere Hoffnung darf sein, dass es nicht nur
irgendwie weitergeht. Wir können nicht vorhersagen und nicht erzwingen, wie Not
sich wenden wird. Aber wir dürfen vertrauen und hoffen, dass Gott Not sieht.
Bei der trauernden Mutter, bei der missbrauchten Tochter, bei dem
Kriegsflüchtling in Syrien, bei dem, der in der Schule gemobbt wird, bei dem,
der nicht weiß, woher er das Geld für Nahrung und Wohnung nehmen soll, bei dem,
der ohne Alkohol oder Drogen nicht mehr zurecht kommt und deshalb verachtet
wird. Gebe Gott, dass Menschen in Not offen sind, Zeichen der Hoffnung zu
sehen. Gebe Gott, dass Menschen, die nicht in Not sind, das tun, was sie
können, um in der Nachfolge Jesu bei denen zu sein, die wie die verwaiste Witwe
in existentieller Not sind. Gebe Gott, dass wir alle, ob aktuell in
persönlicher Not oder nicht, die Zeichen seiner Liebe nicht übersehen und dort,
wo es an uns ist, mithelfen, dass Leben nicht nur irgendwie, sondern gut und
getröstet weitergeht.
Amen.
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