Text: Markus 8,22-26
Liebe
Gemeinde!
„Man
sieht nur mit dem Herzen gut!“ – dieser Satz aus dem Buch „Der kleine Prinz“
wird so oft zitiert, dass man manchmal fast vergisst, wie erleichternd es ist,
auch mit den Augen einigermaßen gut sehen zu können. Ich denke dabei an das,
was mir unsere blinde Kirchenvorsteherin, Frau Brandenburger, über die Zeit
erzählt hat, in der das Haus, in dem sie wohnt, renoviert wurde. Da war es oft
schwer, den Weg zur Bushaltestelle zu finden, weil der normale Weg durch
Bauarbeiten versperrt war oder da wurden die Mülleiner umgestellt, weil sie den
Bauarbeitern im Weg waren und sie musste immer wieder Menschen finden, die ihr
halfen, ihren Hausmüll richtig zu entsorgen. Manches ist leichter, wenn man
nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit den Augen sieht. Mehrmals berichtet
die Bibel davon, dass Jesus Menschen auch im wörtlichen Sinn die Augen geöffnet
hat, so dass sie ihre Umwelt und ihr Leben auch mit den Augen wahrnehmen
konnten. So wie in der Geschichte, die ich gerade vorgelesen habe. Aus Scheu
davor, falsche Erwartungen zu wecken oder aus Scheu davor, von Wundern zu
reden, die naturwissenschaftlich-medizinisch nicht zu erklären sind, wird
manchmal ganz schnell über dieses ganz konkrete Öffnen der Augen hinwegerzählt.
Es geht in jeder dieser Geschichten um mehr. Es geht darum, dass Menschen
erkennen, welche Macht Jesus tatsächlich hat, es geht darum, dass Menschen
erkennen, dass mit Jesus die neue, gerechte und gute Wirklichkeit Gottes wenigstens
schon angebrochen ist. Es geht, um mit dem kleinen Prinzen zu reden, darum, mit
dem Herzen zu sehen und Jesus als Gottes Sohn zu erkennen. Aber diese
Geschichten sind mehr als nur symbolische Geschichten vom Auftrag oder der
Macht Jesu oder der Wirklichkeit Gottes. Mir erzählen diese Geschichten, in
denen Menschen zum Sehen kommen, auch davon, dass die neue Wirklichkeit Gottes,
die mit Jesus anbricht, ganz konkrete Lebenserleichterungen bringt. Not wird wirklich
gelindert und Menschen werden nicht auf später oder den Himmel vertröstet, sondern
erfahren schon in diesem Leben ganz konkret, dass Gott Not nicht egal ist. Wenn
wir glauben, dass wir als Christen in der Nachfolge Jesu leben, dann geht es
eben auch darum, an ganz konkreter Not nicht vorbei zu gehen. Es kommt darauf
an, sehen zu lernen. „Das kann ich doch von selbst“ werden sicher manche
denken. Klar, die Sinneseindrücke, die über die Augen ans Gehirn geliefert
werden, sind da, wenn organisch alles einigermaßen in Ordnung ist. Aber es kommt
eben auch darauf an, die Bilder, die mir die Augen liefern, zu verstehen. Und
dazu braucht es manchmal Zeit und Übung. Und auch davon erzählt die Geschichte
von der Blindenheilung bei Markus.
Die
Geschichte beginnt mit etwas sehr Schönem. Offensichtlich hat der Blinde
Freunde, die sich um ihn kümmern. Sie bringen
ihn zu Jesus, und Jesus soll ihn anrühren. Ganz bestimmt, damit er wieder
sehend wird, denn schon vorher erzählt Markus davon, dass Jesus viele Menschen
geheilt hat. Sorge um den Freund, Verwandten oder Nachbarn, Vertrauen in die
Fähigkeiten von Jesus – ein guter Beginn.
Aber
dann kommt der erste kleine Bruch. Jesus führt ihn weg, aus dem Dorf heraus.
Zwei Ansatzpunkte, das zu verstehen. Erstens: Jesus geht es nicht um die
Sensation. Vielleicht wollten die Freunde oder Verwandten einfach mal bei einem
Wunder dabei sein, auch mal sagen können: ich habe es miterlebt! Wenn Jesus
Leben heil werden lässt, dann geht es um den, der Hilfe braucht, nicht darum,
die Wünsche oder Sehnsüchte anderer zu befriedigen. Zweitens: Sehen zu lernen
braucht Abstand. Im doppelten Sinn. Einmal muss ich, um Zusammenhänge sehen zu
können, manchmal zurücktreten, mir eine neue und vielleicht ungewohnte Position
suchen. Wenn ich zu nah dran bin, fehlt mir die Möglichkeit, etwas zu
überblicken. Jesus eröffnet durch das Weggehen die Möglichkeit, Zusammenhänge
zu sehen. Und zum anderen eröffnet er dem, der bisher nicht sehen konnte, die
Möglichkeit, eigene Seherfahrungen zu machen. Die Freunde oder Verwandten, die
dabei waren, hätten ihn möglicherweise mit ihrer Sicht der Dinge auf das
hingewiesen, was ihnen selbst sehr wichtig und einleuchtend ist und hätten ihm
so die Möglichkeit erschwert, zu eigenen Erfahrungen und Deutungen zu kommen.
Jesus schenkt die Möglichkeit, eine eigene Sichtweise zu gewinnen. Für mich ist
das auch ein Bild für das Sehen im Glauben. Wir sind im Glauben an Gott, an
Jesus als seinen Sohn, oft wie blind. Aber es ist wichtig, dass wir nicht
zuallererst und in erster Linie nur die Deutungen übernehmen, die andere uns vorgeben,
auch kein Pfarrer oder Theologieprofessor, sondern dass Jesus jeden selbst
sehen lässt. Sicher braucht es Möglichkeiten, sich über das Gesehene
verständigen zu können und vor allem gibt es Wahrheiten, die da sind. Ein
Mensch ist ein Mensch und ein Baum ist ein Baum. So ist es auch im Glauben. Es
gibt Wahrheiten, die sind unabhängig von unserer Wahrnehmung. Aber wie wir sie
sehen, deuten und für unser Leben annehmen, das kann uns kein anderer abnehmen.
Wie
die Heilung dann beschrieben wird, ist auch ungewöhnlich. Nicht durch ein Wort
Jesu, sozusagen im Vorbeigehen, sondern durch intensiven Kontakt, Berührung,
wie eine Art Behandlung, im Dialog, im Gespräch. Jesus fragt nach. Und zwar
nicht, um Bestätigung zu bekommen und gelobt zu werden, sondern es scheint eine
echte Frage zu sein. „Siehst du etwas?“ Und die Antwort zeigt ja auch, dass der
erste Anlauf noch nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat: „Ich sehe
Menschen wie Bäume umhergehen“. Es passt offensichtlich noch nicht ganz, die
neue Wirklichkeit ist noch unscharf. Sehen lernen, mit Jesus, auch im Glauben,
Glauben lernen, das ist zwar einerseits ein Geschenk, andererseits aber auch in
Weg, ein Prozess mit Unschärfen. Mit Jesu Hilfe sieht man nicht auf einmal
alles richtig. Oft genug ahnt man mehr, was da ist, als dass man es wirklich
erkennt. Jesus ist der, der dabeibleibt und nachfragt. Sehen, Glauben, das ist
nicht einfach Zauberei, nicht einfach einen Schalter umlegen – und schon
funktioniert es. Das ist ein Weg, ein Gespräch, das muss oft genug nachjustiert
werden, bis es passt. Die neue Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht auf
den ersten Blick, es braucht den zweiten Blick, um sie sehen zu können. So ist
es dann auch hier in der Geschichte. Weder Jesus noch der bis dahin Blinde sind
enttäuscht, sondern sie bleiben dabei, Jesus legt die Hände auf – wieder die
Zuwendung, der Kontakt, und dann sieht der Mann scharf. Und dann gibt Jesus
eine merkwürdige Anweisung: „Geh nicht hinein in das Dorf!“ Schwer zu erklären
und zu verstehen, was das bedeuten soll. Aber vielleicht ist es ein Hinweis
darauf, dass derjenige, der die neue Wirklichkeit erkennt, die Gott in Jesus
geschenkt hat, nicht einfach so weitermachen kann wie bisher. Gott als
denjenigen zu erkennen, der Schuld vergibt, der Gerechtigkeit für alle Menschen
will, der jedem und nicht nur wenigen Bevorzugten Heil anbietet, der sich den
Armen und Bedürftigen besonders zuwendet heißt eben auch, sich von
liebgewordenen Verhaltensmustern und bequemen Sicherheiten zu verabschieden.
Ich glaube nicht, dass Jesus sagen würde: Christen zuerst! Oder: Deutschland
und Deutsche zuerst! Oder: Meine Familie und Freunde zuerst! Ich glaube, dass
es ihm entspricht, zu sagen: Der, der in Not ist, zuerst! Und wenn du in Not
bist, auch in seelischer Not, weil du dein Leben nicht mehr sehen kannst, dann
auch : du zuerst! Aber nicht, weil du Christ oder Deutscher oder Freund oder
Teil der Familie bist, sondern weil Jesus sich dem Menschen in Not besonders
zuwendet.
Sehen
zu lernen, mit den Augen und mit dem Herzen, im wörtlichen Sinn und im Glauben,
ist nicht das einmalige Umlegen eines Schalters. Es ist ein Weg, auf den sich
Jesus mit uns macht, bei dem er nachfragt, nachjustiert. Ein Prozess, der
manchmal auch Abstand zum Gewohnten, zu den Sicherheiten erfordert. Ein Weg,
auf dem Gott uns zu eigenen Einsichten kommen lässt und nicht dazu, einfach nur
das zu sehen, was andere uns einflüstern oder vor uns schon immer gesehen
haben. Ein Weg, der Zeit braucht und die Bereitschaft, ihn zu gehen. Und der uns
am Ende nicht dorthin bringt, wo wir vorher waren, sondern uns auf einen neuen
Weg bringt. Wohin? Das bleibt in der Geschichte offen, das bleibt in unserem
Leben offen. Das, was wir sehen können, ist noch nicht an sein Ende gekommen.
Amen.
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