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Freitag, 16. August 2013

Sehhilfe - 12. Sonntag n. Tr., 18.08.2013



Liebe Gemeinde!
„Man sieht nur mit dem Herzen gut!“ – dieser Satz aus dem Buch „Der kleine Prinz“ wird so oft zitiert, dass man manchmal fast vergisst, wie erleichternd es ist, auch mit den Augen einigermaßen gut sehen zu können. Ich denke dabei an das, was mir unsere blinde Kirchenvorsteherin, Frau Brandenburger, über die Zeit erzählt hat, in der das Haus, in dem sie wohnt, renoviert wurde. Da war es oft schwer, den Weg zur Bushaltestelle zu finden, weil der normale Weg durch Bauarbeiten versperrt war oder da wurden die Mülleiner umgestellt, weil sie den Bauarbeitern im Weg waren und sie musste immer wieder Menschen finden, die ihr halfen, ihren Hausmüll richtig zu entsorgen. Manches ist leichter, wenn man nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit den Augen sieht. Mehrmals berichtet die Bibel davon, dass Jesus Menschen auch im wörtlichen Sinn die Augen geöffnet hat, so dass sie ihre Umwelt und ihr Leben auch mit den Augen wahrnehmen konnten. So wie in der Geschichte, die ich gerade vorgelesen habe. Aus Scheu davor, falsche Erwartungen zu wecken oder aus Scheu davor, von Wundern zu reden, die naturwissenschaftlich-medizinisch nicht zu erklären sind, wird manchmal ganz schnell über dieses ganz konkrete Öffnen der Augen hinwegerzählt. Es geht in jeder dieser Geschichten um mehr. Es geht darum, dass Menschen erkennen, welche Macht Jesus tatsächlich hat, es geht darum, dass Menschen erkennen, dass mit Jesus die neue, gerechte und gute Wirklichkeit Gottes wenigstens schon angebrochen ist. Es geht, um mit dem kleinen Prinzen zu reden, darum, mit dem Herzen zu sehen und Jesus als Gottes Sohn zu erkennen. Aber diese Geschichten sind mehr als nur symbolische Geschichten vom Auftrag oder der Macht Jesu oder der Wirklichkeit Gottes. Mir erzählen diese Geschichten, in denen Menschen zum Sehen kommen, auch davon, dass die neue Wirklichkeit Gottes, die mit Jesus anbricht, ganz konkrete Lebenserleichterungen bringt. Not wird wirklich gelindert und Menschen werden nicht auf später oder den Himmel vertröstet, sondern erfahren schon in diesem Leben ganz konkret, dass Gott Not nicht egal ist. Wenn wir glauben, dass wir als Christen in der Nachfolge Jesu leben, dann geht es eben auch darum, an ganz konkreter Not nicht vorbei zu gehen. Es kommt darauf an, sehen zu lernen. „Das kann ich doch von selbst“ werden sicher manche denken. Klar, die Sinneseindrücke, die über die Augen ans Gehirn geliefert werden, sind da, wenn organisch alles einigermaßen in Ordnung ist. Aber es kommt eben auch darauf an, die Bilder, die mir die Augen liefern, zu verstehen. Und dazu braucht es manchmal Zeit und Übung. Und auch davon erzählt die Geschichte von der Blindenheilung bei Markus.
Die Geschichte beginnt mit etwas sehr Schönem. Offensichtlich hat der Blinde
Freunde,  die sich um ihn kümmern. Sie bringen ihn zu Jesus, und Jesus soll ihn anrühren. Ganz bestimmt, damit er wieder sehend wird, denn schon vorher erzählt Markus davon, dass Jesus viele Menschen geheilt hat. Sorge um den Freund, Verwandten oder Nachbarn, Vertrauen in die Fähigkeiten von Jesus – ein guter Beginn.
Aber dann kommt der erste kleine Bruch. Jesus führt ihn weg, aus dem Dorf heraus. Zwei Ansatzpunkte, das zu verstehen. Erstens: Jesus geht es nicht um die Sensation. Vielleicht wollten die Freunde oder Verwandten einfach mal bei einem Wunder dabei sein, auch mal sagen können: ich habe es miterlebt! Wenn Jesus Leben heil werden lässt, dann geht es um den, der Hilfe braucht, nicht darum, die Wünsche oder Sehnsüchte anderer zu befriedigen. Zweitens: Sehen zu lernen braucht Abstand. Im doppelten Sinn. Einmal muss ich, um Zusammenhänge sehen zu können, manchmal zurücktreten, mir eine neue und vielleicht ungewohnte Position suchen. Wenn ich zu nah dran bin, fehlt mir die Möglichkeit, etwas zu überblicken. Jesus eröffnet durch das Weggehen die Möglichkeit, Zusammenhänge zu sehen. Und zum anderen eröffnet er dem, der bisher nicht sehen konnte, die Möglichkeit, eigene Seherfahrungen zu machen. Die Freunde oder Verwandten, die dabei waren, hätten ihn möglicherweise mit ihrer Sicht der Dinge auf das hingewiesen, was ihnen selbst sehr wichtig und einleuchtend ist und hätten ihm so die Möglichkeit erschwert, zu eigenen Erfahrungen und Deutungen zu kommen. Jesus schenkt die Möglichkeit, eine eigene Sichtweise zu gewinnen. Für mich ist das auch ein Bild für das Sehen im Glauben. Wir sind im Glauben an Gott, an Jesus als seinen Sohn, oft wie blind. Aber es ist wichtig, dass wir nicht zuallererst und in erster Linie nur die Deutungen übernehmen, die andere uns vorgeben, auch kein Pfarrer oder Theologieprofessor, sondern dass Jesus jeden selbst sehen lässt. Sicher braucht es Möglichkeiten, sich über das Gesehene verständigen zu können und vor allem gibt es Wahrheiten, die da sind. Ein Mensch ist ein Mensch und ein Baum ist ein Baum. So ist es auch im Glauben. Es gibt Wahrheiten, die sind unabhängig von unserer Wahrnehmung. Aber wie wir sie sehen, deuten und für unser Leben annehmen, das kann uns kein anderer abnehmen.
Wie die Heilung dann beschrieben wird, ist auch ungewöhnlich. Nicht durch ein Wort Jesu, sozusagen im Vorbeigehen, sondern durch intensiven Kontakt, Berührung, wie eine Art Behandlung, im Dialog, im Gespräch. Jesus fragt nach. Und zwar nicht, um Bestätigung zu bekommen und gelobt zu werden, sondern es scheint eine echte Frage zu sein. „Siehst du etwas?“ Und die Antwort zeigt ja auch, dass der erste Anlauf noch nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat: „Ich sehe Menschen wie Bäume umhergehen“. Es passt offensichtlich noch nicht ganz, die neue Wirklichkeit ist noch unscharf. Sehen lernen, mit Jesus, auch im Glauben, Glauben lernen, das ist zwar einerseits ein Geschenk, andererseits aber auch in Weg, ein Prozess mit Unschärfen. Mit Jesu Hilfe sieht man nicht auf einmal alles richtig. Oft genug ahnt man mehr, was da ist, als dass man es wirklich erkennt. Jesus ist der, der dabeibleibt und nachfragt. Sehen, Glauben, das ist nicht einfach Zauberei, nicht einfach einen Schalter umlegen – und schon funktioniert es. Das ist ein Weg, ein Gespräch, das muss oft genug nachjustiert werden, bis es passt. Die neue Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht auf den ersten Blick, es braucht den zweiten Blick, um sie sehen zu können. So ist es dann auch hier in der Geschichte. Weder Jesus noch der bis dahin Blinde sind enttäuscht, sondern sie bleiben dabei, Jesus legt die Hände auf – wieder die Zuwendung, der Kontakt, und dann sieht der Mann scharf. Und dann gibt Jesus eine merkwürdige Anweisung: „Geh nicht hinein in das Dorf!“ Schwer zu erklären und zu verstehen, was das bedeuten soll. Aber vielleicht ist es ein Hinweis darauf, dass derjenige, der die neue Wirklichkeit erkennt, die Gott in Jesus geschenkt hat, nicht einfach so weitermachen kann wie bisher. Gott als denjenigen zu erkennen, der Schuld vergibt, der Gerechtigkeit für alle Menschen will, der jedem und nicht nur wenigen Bevorzugten Heil anbietet, der sich den Armen und Bedürftigen besonders zuwendet heißt eben auch, sich von liebgewordenen Verhaltensmustern und bequemen Sicherheiten zu verabschieden. Ich glaube nicht, dass Jesus sagen würde: Christen zuerst! Oder: Deutschland und Deutsche zuerst! Oder: Meine Familie und Freunde zuerst! Ich glaube, dass es ihm entspricht, zu sagen: Der, der in Not ist, zuerst! Und wenn du in Not bist, auch in seelischer Not, weil du dein Leben nicht mehr sehen kannst, dann auch : du zuerst! Aber nicht, weil du Christ oder Deutscher oder Freund oder Teil der Familie bist, sondern weil Jesus sich dem Menschen in Not besonders zuwendet.
Sehen zu lernen, mit den Augen und mit dem Herzen, im wörtlichen Sinn und im Glauben, ist nicht das einmalige Umlegen eines Schalters. Es ist ein Weg, auf den sich Jesus mit uns macht, bei dem er nachfragt, nachjustiert. Ein Prozess, der manchmal auch Abstand zum Gewohnten, zu den Sicherheiten erfordert. Ein Weg, auf dem Gott uns zu eigenen Einsichten kommen lässt und nicht dazu, einfach nur das zu sehen, was andere uns einflüstern oder vor uns schon immer gesehen haben. Ein Weg, der Zeit braucht und die Bereitschaft, ihn zu gehen. Und der uns am Ende nicht dorthin bringt, wo wir vorher waren, sondern uns auf einen neuen Weg bringt. Wohin? Das bleibt in der Geschichte offen, das bleibt in unserem Leben offen. Das, was wir sehen können, ist noch nicht an sein Ende gekommen.

Amen.

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