Liebe
Gemeinde!
„Aber
so schlimm bin ich nicht!“ – Vielleicht hat Simon genau das gedacht, als er
gemerkt hat, wer die namenlose Frau ist, die sich an Jesus klammert, mit ihren
Tränen und teurem Öl seine Füße benetzt und salbt, die ihn küsst und mit den
Haaren wieder trocknet. Eigentlich ein Skandal. Zuerst einmal hat eine Frau in
Männerrunden grundsätzlich nichts zu suchen. Gut, Jesus war da ein bisschen
anders. Von Anfang an waren viele Frauen in seiner Nähe. „Ich bin doch ganz
schön aufgeschlossen, dass ich den zu mir einlade“ – auch so hat Simon
vielleicht gedacht. Seine Freunde hätten Jesus nicht eingeladen. Viel zu
unkonventionell ging der mit den Regeln um. Aber Simon scheint aufgeschlossen
und neugierig zu sein. Er ist Pharisäer, das heißt, dass er es mit seinem
Glauben und mit Gottes Geboten wirklich ernst meint und sich bemüht, danach zu
leben. Jesus stellt manches, was sich als Tradition eingebürgert hat, in Frage.
Jesus befragt jedes Gebot danach, was wohl Gottes Wille dahinter ist. Den
wenigsten Pharisäern gefällt das, aber Simon ist neugierig. Aber das mit der
Frau geht zu weit. Nicht nur, dass eine Frau es wagt, die Männerrunde zu
stören. Nicht nur, dass sie Jesus nicht nur berührt, sondern sogar küsst. Nein,
diese Frau ist unterstes Niveau. So scheint es zumindest bekannt zu sein. Was
sie im Einzelnen gemacht hat, wird nicht erzählt. Aber jeder kennt den
schlechten Ruf. Und Jesus, der Prophet, der müsste das doch erst recht wissen.
Gut, ich habe nicht immer meine Eltern so geliebt, wie sie es verdient hätten.
Vielleicht habe ich auch mal die Unwahrheit gesagt. Und vielleicht war ich auch
mal anderen gegenüber ungerecht zornig. Solche Dinge werden Simon vielleicht
durch den Kopf gegangen sein. Aber so wie die bin ich nicht. Und deshalb
wundert er sich, warum Jesus ausgerechnet die nicht zurückweist. Die namenlose
Frau, von der alle wissen, wie schlimm sie ist.
Ich
glaube, dass so ein bisschen Simon in vielen von uns steckt, auch in mir. Menschen
versuchen oft, sich einzuordnen. Auch dann, wenn es um Gutsein, um Verfehlungen,
um Schuld geht. „Gut, ich war nicht immer lieb, ich hab auch schon mal
im Laden
Lippenstift mitgehen lassen – aber so wie die Monika, die ständig mit
verheirateten Männern rummacht und sich von denen auch noch alles bezahlen
lässt, bin ich nicht!“ „Okay, ich bete eigentlich nur dann, wenn es mir
schlecht geht und gehe normalerweise auch nicht in die Kirche und hab auch
schon mal meine Frau angelogen – aber wenigstens versaufe ich nicht mein ganzes
Geld wie der Joe es tut und ich habe auch noch nie jemanden krankenhausreif
geschlagen und bin auch nicht aus der Kirche ausgetreten, wie der Max!“ „Klar
war ich nicht immer ehrlich bei der Steuer, wer ist das schon – aber so wie der
Uli Hoeneß, der Millionen hinterzogen hat und sich dann noch überall als
Wohltäter hinstellt, bin ich nicht!“
Mit
der kleinen Geschichte, die Jesus hier in der Bibel Simon erzählt, macht er
einen Strich durch alle Rechnungen, wie gut einer im Vergleich mit anderen ist.
Zwei Schuldner, beide sind total pleite und können ihre Schuld nicht
zurückzahlen. Der eine eine Schuld, die vom Geldbetrag her sehr hoch ist – ein
einfacher Arbeiter hätte für den Betrag 20 Monate arbeiten müssen – der andere
eine Schuld, die zwar auch nicht gering ist, gut anderthalb Monatslöhne, aber
doch überschaubar zu sein scheint. Natürlich vermutet Simon, das der erste mit
den großen Schulden den Geldverleiher, der die Schuld erlässt, mehr lieben wird
als der, der eine anscheinend überschaubare Schuld hat. Und Jesus gibt ihm
Recht. So ist das Leben. Der Witz dabei ist aber, dass es im Grunde völlig egal
ist, wie hoch die Schuld ist. Beide sind total pleite, keiner kann die Schulden
zurückzahlen. Die Liebe zu dem, der vergibt, ist kleiner, weil man sich für
weniger pleite hält. Aber am Ende ist doch jeder aus eigener Kraft
zahlungsunfähig. Liebe kann dort wachsen, wo ich mich wirklich als angewiesen
und pleite begreife, wo ich schuld und Schulden nicht miteinander vergleiche,
sondern mich als bedürftig wahrnehme. so bedürftig wie jeden anderen auch. Und
genau das hat die Frau in der Geschichte aus der Bibel geschafft und Simon ist,
wenn es gut geht, erst auf dem Weg dahin. „Ich kann nichts von dem, was ich
durch eigene Schuld verbockt habe, wieder gut machen. Ich kann mein Leben nur
Jesus anvertrauen und darauf vertrauen, dass er mich annimmt und mir hilft,
einen neuen Weg zu gehen“ – das ist der Weg der Frau. Fehler kann kein Mensch
wieder gut machen. Die Lüge hat das Vertrauen zerstört, die Wunde bleibt. Auch
dann, wenn neues Vertrauen wachsen konnte. Das Fremdgehen ist geschehen, es hat
in der Beziehung was bewirkt. Auch dann, wenn es die Beziehung nicht zerstört
hat. Und auch keine Todesstrafe kann einen ermordeten Menschen ins Leben
zurückbringen, nichts kann die Schändung einer Kinderseele ungeschehen machen.
Ich kann, egal wie, Schuld nicht wieder gut machen. Ich bin angewiesen auf Vergebung.
Und selbst scheinbare Kleinigkeiten wie mangelnde Liebe, eine Lästerei oder
Überheblichkeit – ich kann es nicht ungeschehen machen. Der Blick auf die
Schuld der anderen verstellt oft genug den Blick auf die eigene Bedürftigkeit –
ein Thema, das Jesus immer wieder aufgreift.
Die
namenlose Frau in der Geschichte, die bleibt bei sich. Die erkennt, dass sie
aus eigener Kraft nichts ändern kann. Die liebt einfach, die vertraut. Bei
aller Gastfreundschaft bleibt Simon doch berechnend, neugierig, abwartend,
vergleichend. Er ist sozusagen noch nicht reif, wirklich zu lieben, wirklich zu
vertrauen. Jesus fordert von der Frau gar nichts. Kein öffentliches
Schuldbekenntnis, kein Zeugnis darüber, wie verloren ihr Leben vor der Begegnung
mit ihm war. Sie darf einfach da sein, auf ihre Art ihre Liebe zeigen. Und
diese Liebe ermöglicht es ihr, die Vergebung der Schuld wirklich zu erfahren.
Ich finde das bis heute sehr wichtig, auch im Umgang von Kirche und
christlicher Gemeinde mit Schuld. Es kommt nicht darauf an, öffentlich zu
machen, was alles war. Nicht der ist Gott besonders nahe, der laut von ihm
spricht, sondern es darf ein stummes Umarmen, ein einfaches Weinen ohne Worte
sein. Ich muss mich weder vor Jesus noch vor anderen Menschen entblößen, um
Vergebung zu erfahren, sondern die Liebe ist es, die verändert. Die Liebe, die
keine großen Worte braucht.
Man
kann noch sehr, sehr viel und auch noch anderes aus der Geschichte herauslesen,
sagen, erkennen. Zwei Dinge möchte ich heute noch hervorheben. Zum einen das,
was die Frau tut. Sie weint, sie salbt Jesus mit teurem Balsam. Jesus ist der
Messias, der Christus, was auf Deutsch
nichts anderes als „der Gesalbte“ heißt. Salbungen mit Balsamen gehörten zur Einsetzung
eines Königs, eines Herrschers. Es ist kein hoher Würdenträger, kein
Hohepriester oder Adliger, der Jesus sichtbar zu dem macht was er ist, zum Herrn
der Welt, sondern eine Frau mit schlechtem Ruf, die liebt und vertraut. Für
mich ein sehr deutliches Zeichen, das Gott zuallererst auf der Seite der
Bedürftigen ist und das nicht das Ansehen bei den Menschen wichtig und
entscheidend ist. Kirche, Gemeinde in der Nachfolge Jesu hat nicht den Auftrag,
sich mit Politikern oder Mächtigen gut zu stellen, hat nicht den Auftrag,
selbst möglichst groß und mächtig zu werden, sondern lebt dort wo die, die übersehen werden, die
misstrauisch beäugt werden, Liebe erfahren und wo die Liebe, die diese Menschen
geben, willkommen ist.
Zum
anderen ist da die Frage der anderen Teilnehmer des Essens: „Wer ist das
eigentlich? Er vergibt sogar Menschen ihre Schuld!“ Ein Gotteslästerer? Ein
Spinner? Oder begegnen wir in ihm Gott? Wer ist das? Für mich die entscheidende
Frage in Bezug auf Jesus. Bis heute. Bleibt er eine interessante Gestalt in der
Geschichte? Oder ein politisches Vorbild im Kampf für die Armen? Eine
romantische Figur? Oder ein Superheld? Oder begegne ich in ihm wirklich Gott?
Hat er wirklich die Macht, Schuld zu vergeben, weil ich aufhören kann, mich
vergleichen zu müssen, weil ich zugeben kann, dass ich bedürftig bin. Ganz und
gar und nicht nur ein bisschen. Weil ich lieben kann ohne rechnen zu müssen?
„Dein Glauben hat dich gerettet, gehe in Frieden!“ Das sagt Jesus der Frau. Und
was sagt er mir? wo gehe ich hin?
Amen.
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