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Samstag, 3. März 2012

Ich hab keine Lust mehr! - Reminiszere, 04.03.2012, Reihe IV

Text: Jesaja 5,1-7
Liebe Gemeinde!



Ich hab keine Lust mehr! In jedem Spätwinter werden mühsam Blumen vorgezogen. Die ersten Salatpflänzchen werden aufs Frühbeet vorbereitet und der Garten wird frühjahrsfit gemacht. Und noch ein bisschen mehr als unbedingt nötig. Gepflanzt wird, gegossen, Unkraut und Schädlinge werden bekämpft. Viel Liebe und Mühe wird reingesteckt. Und was kommt dabei raus? Nichts!!! Die blöden Blumen blühen nicht richtig, das Gemüse bleibt mickrig. Es lohnt sich nicht. Soll alles doch verwildern, mir egal. Ich hab keine Lust mehr! Wer ein bisschen Garten hatte oder Garten hat, kennt vielleicht genau diesen Frust. Er ist da, aber relativ harmlos, solange es um Pflanzen und Ernte geht.


Ich hab keine Lust mehr. Jeden Tag neu der Versuch, als Lehrer freundlich zu den Schülern zu sein. Geduld und Verständnis zu haben, wenn sie mal mies drauf sind. Ihnen zu helfen, wenn sie was nicht verstehen. Immer wieder und wieder. Telefonate mit Eltern, Besprechungen mit allen möglichen Leuten, Kontakte aufbauen, um Hilfen für die besonders Schwachen anbieten zu können. Und der Dank: Jeden Tag das gleiche Chaos in der Klasse, Respekt ist ein Fremdwort, Hausaufgaben werden nicht gemacht, Vorstellungsgespräche, die organisiert wurden, gar nicht besucht, jeder macht, was er will. Es reicht. Sollen die doch sehen, wo sie bleiben. Was interessiert mich ihr späterer Arbeitsplatz, was interessiert mich ihre Zukunft. Sollen die doch machen, was sie wollen, ich will meine Ruhe.


Ich hab keine Lust mehr. Immer wieder decke ich meine Freundin, wenn sie keine Hausaufgaben hat, Schule schwänzt, Liebeskummer hat. Ich helfe ihr immer wieder. Und der Dank? So bald Leute auftauchen, die scheinbar cooler als ich sind, lässt sie mich links liegen, kennt mich nicht mehr, bis sie wieder heulend ankommt. Soll sie doch sehen, wo sie bleibt! Soll sie doch verrecken. Ich hab keine Lust mehr.


Ich hab keine Lust mehr. Immer wieder habe ich es hin-genommen, dass mein Mann es mit der Treue nicht so genau nimmt. Ja, er liebt mich, er braucht mich, er ver-lässt mich nicht. Sagt er immer wieder. Aber er tut mir weh. Jedes Mal. Und erst recht, wenn er trinkt und sich nicht unter Kontrolle hat. Wenn er mich lächerlich macht und sich lächerlich benimmt. Tausendmal hat er Besse-rung versprochen. Und nichts hat‘s genützt. Ich habe kei-ne Lust mehr!


Wenn’s um MEHR als Pflanzen geht, wenn’s um Men-schen geht, um Liebe, um Zeit und Kraft, die in Bezie-hungen investiert wird, um Enttäuschungen, um Schuld, dann ist dieser Frust alles andere als harmlos.


Ich glaube, dass ganz viele diese Gefühle kennen. Zum Teil als diejenigen, die frustriert und enttäuscht wurden. „Ja, hör auf, du hast genug getan, überlass das alles mal sich selbst, wenn der oder die oder das es nicht anders kann und will, dann ist eben Ende der Fahnenstange! Sollen die doch sehen, wo sie bleiben und kaputtgehen.“ Ein Urteil, dem sich viele, ich oft genug auch, anschließen können. Und wie ist das auf der anderen Seite? Wenn man nicht enttäuscht wurde, sondern enttäuscht hat?
Wenn man das Gute, das man hätte tun können, nicht getan hat, sondern, im Gegenteil, aus Faulheit, Bequemlichkeit oder Berechnung einfach das Falsche gemacht hat? Merkt doch keiner, hat doch keine Konsequenzen!


Im ersten Moment ein ganz alter Text, den ich eben aus der Bibel, vom Propheten Jesaja vorgelesen habe. Keiner von uns kennt sich mit Weinbergen aus, glaube ich. Längst nicht alle haben einen Garten. Und Männer aus Jerusalem und Juda sind wir sowieso nicht. Keiner von uns. Im ersten Moment also: abschalten, langweilig, anderen Text suchen. Und im zweiten Moment? Im zweiten Moment ist das nichts, was weit über 2500 Jahre alt und in einem fernen Land zu Hause ist, sondern etwas, das ganz viel über unsere Wirklichkeit sagt.


Es ist ein ehrliches Stück aus der Bibel. Nichts, wo gleich der Joker „Liebe“ rausgeholt wird – und alles wird gut. Es ist ein Stück aus der Bibel, das den Opfern Hoffnung macht. Rechtsbruch und Schlechtigkeit, fehlende Gerechtigkeit, werden sich nicht auszahlen. Vor 2700 Jahren so aktuell wie heute. Hoffnung für die Opfer. Nicht der trinkende Ehemann, der seiner Frau die Selbstachtung nimmt, nicht die prügelnden Eltern, die ihr Kind verletzen und demütigen, nicht Geschäftemacher, die durch teure Kredite den Armen das letzte bisschen Geld noch aus der Tasche ziehen, nicht die einflussreichen Wirtschaftsleute, die sich Gesetze nach ihren Wünschen machen lassen, nicht wir Verbraucher aus den reichen Ländern, die wird durch unser Verbrauchsverhalten auf Kosten der Menschen in vielen Ländern Afrikas und Asiens leben, nicht die Wahlbetrüger, nicht die Erpresser, die wehrlosen Fünft- und Sechstklässlern Smartphones und Geld abziehen, werden am Ende ungeschoren durchkommen, sondern solches Verhalten führt dazu, das alles verwüstet wird und sie, wir, selbst am Ende nackt und schutzlos dastehen. Der Prophet Jesaja macht den Menschen hier nicht weis, dass sie nur mehr Gutes tun müssten und die Welt dann heil würde. Dazu ist das Leben zu kompliziert, dazu sind wir Menschen viel zu kompliziert und zu wenig berechenbar. Gott steht kompromisslos auf der Seite der Opfer von Rechtlosigkeit, Profitgier, Machtgeilheit, Schlechtigkeit. Und das Verhalten der Täter bleibt nicht ohne Konsequenzen. Eine Gesellschaft, die sich von Gerechtigkeit verabschiedet, wird kaputtgehen. Vor diese Konsequenz stellt der Text nicht nur die Menschen vor ewigen Zeiten – damals hat es sich im Nachhinein als wahr erwiesen. Das Land Israel, in dem Jesaja die Menschen im Auftrag Gottes gewarnt hat, ist für Jahrhunderte nach einem Krieg von der Landkarte verschwunden. Haben wir heute gelernt? Wenn die Sorge um die Kranken und die Einrichtung von Kran-kenhäusern nicht mehr als gemeinsame Aufgabe der Ge-sellschaft, nämlich aller verstanden wird, in der es nicht um Gewinn, sondern um Sorge für Menschen in Not geht, wenn ich mir anschaue, dass das Geld, das wir alle einzahlen, um Kranken eine gute Behandlung zu ermögli-chen, nicht mehr als ein gemeinsamer Topf verstanden wird, sondern wenn Kliniken wie hier in Marburg ver-kauft werden, damit wenige Eigentümer einer Kapitalge-sellschaft Gewinn machen und das Ganze auch noch auf dem Rücken der Kranken und dem Rücken der Menschen, die sich um Kranke kümmern, ausgetragen wird, dann sehe ich die verwüstete Gesellschaft, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist und in der sich keiner mehr auf den anderen verlassen kann und Angst haben muss, in Not zu geraten, eine Gesellschaft, in der es sich nicht mehr zu leben lohnt, nicht mehr so weit entfernt.


Aber wir sollten uns davor hüten, bloß von uns weg auf die Lahnberge oder sonstwohin zu zeigen. Klar, es gibt eindeutig Täter und es gibt eindeutig Opfer. Aber die allermeisten von uns kennen beide Seiten. Es ist nicht die eine einzige böse Tat, um die es geht. Es geht um die Unfähigkeit, der Liebe wirklich gerecht zu werden und als Mensch aus sich heraus Freiheit so zu leben, dass kein anderer in seinem Menschsein und seiner Freiheit verletzt wird.


Ich stelle mir vor, dass die Bürger von Jerusalem und die Männer aus Juda nicht einfach furchtbar böse Menschen waren. Oft sicher gedankenlos, oft egoistisch. Meistens bequem. Ich hab keine Lust mehr! Das hätte, damals wie heute, sicher nicht nur ein Ausruf frustriertere und erfolgloser Arbeiter, Lehrer, Freunde sein können. Sondern auch ein Eingeständnis der Mühen, die es macht, sich mit den Folgen von dem auseinanderzusetzen, was aus dem eigenen Handeln oder Nichthandeln entsteht. An Unrecht, an Unfreiheit, an Schuld.


Jesaja spricht kein Urteil über die Menschen in Jerusalem und Juda. Gott auch erstmal nicht. Was da steht, ist erstmal das Aufdecken und die Erkenntnis von Schuld. Ich glaube, dass es wichtig ist, das auch auszuhalten. Eben nicht zu schnell den Joker „Liebe“ oder „Vergebung“ oder „Jesus“ zu ziehen und alles gut sein oder gut werden zu lassen. Schuld und Versagen muss mit allen Konsequenzen auch mal ausgesprochen und ausgehalten werden. Und trotzdem sind diese Verse aus dem Buch Jesaja nicht ohne Hoffnung. Einmal nicht ohne Hoffnung für die Opfer. Aber auch nicht ohne Hoffnung für die Täter. Die Hoffnung besteht darin, dass vor allem Anspruch auf Ernte die Mühe des Weinbergbesitzers steht – Gottes Liebe zu seinem Volk, zu dem durch Jesus auch wir gehören. Das ist die Überschrift. Und am Ende steht da wörtlich, dass an diesen Menschen Gottes Herz hängt. Martin Luther übersetzt nicht ganz richtig, wenn er „hing“ schreibt. Die Liebe bleibt, trotz aller Schuld und Enttäuschung. Gottes Liebe ist – hoffentlich – anders als unsere Liebe. „Ich hab keine Lust mehr!“ – Ob das das letzte Wort ist? Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass es nicht so ist. Und Jesus, Gottes Angebot zur Versöhnung, macht mir Mut zu hoffen. Aber was aus der Liebe wird, das kann ich nicht sagen. Das liegt an dem, der die Liebe schenkt.


Amen.

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