Text: Philipper 1,15-21
Liebe Gemeinde!
Ungeheuerlich war die Meldung, die am Dienstag in den Nachrichten kam und auch an den folgenden Tagen der vergangenen Woche in den Schlagzeilen war. Zweiundzwanzig Schülerinnen und Schüler und sechs Erwachsene starben bei einem Busunfall in der Schweiz auf der Heimfahrt von einer Skifreizeit. Zweiundzwanzig Leben, die gerade erst begonnen hatten, die selbst noch so viele Pläne und Hoffnungen hatten, die von den Eltern, Geschwistern und Freunden mit so vielen Hoffnungen begleitet wurden einfach ausgelöscht. Und sechs weiter Leben, die allesamt sicher auch noch einiges an Hoffnungen, Liebe und Erwartungen hatten, die in Beziehung zu vielen anderen waren, auch. Zu Recht sind in den Druckausgaben der Lutherbibel manche Verse und Sätze fett gedruckt. Weil sie wichtig sind. Weil sie im Ge-dächtnis hängen bleiben. Auch im Predigttext, den ich eben vorgelesen habe, ist ein Satz fett gedruckt. Welcher das wohl ist, da muss man, glaube ich, gar nicht lang überlegen. „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.“ Sterben als Gewinn? Zu Recht würden mir wahrscheinlich, hoffentlich hätten sie noch die Kraft dazu, die Eltern der tödlich verunglückten Kinder, die Kinder der tödlich verunglückten Lehrer und Busfahrer die Bibel um die Ohren hauen, wenn ich ihnen das vorlesen würde.
„Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“ – wie zynisch hört sich das an, wenn man diesen Vers Menschen vorliest, die mit den unaussprechlichen und unvorstellbaren Schrecken des Todes konfrontiert sind. dieser Satz lässt sich leicht so hören: „Das Leben in der Welt ist nichts wert, gib es weg, es gibt viel Besseres!“ Der Satz lässt sich leicht missbrauchen. Von Fanatikern. Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn - das kann zur gleichen Logik pervertiert werden, wie sie Selbstmordattentäter und andere Fanatiker haben. Es lohnt sich, sein Leben für etwas wegzuwerfen, weil am Ende eine Belohnung wartet. Ganz leicht lässt sich dieser eine Satz, der fett gedruckt ist, missbrauchen und missverstehen. als eine zynische Vertröstung, wenn man Schmerz nicht mit aushalten und mit teilen will. als eine zynische Geringschätzung des Lebens als Geschenk Gottes.
Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn. Ich h-be diesen Satz aber auch ganz anders erlebt. Als einen Trost für einen Schwerkranken, dessen Körper von Krebs zerfressen war, dessen Leben von Schmerzen gezeichnet war und der darauf wartete, dass die Schmerzen endlich ein Ende finden. Als eine Hoffnung einer alt gewordenen Dame, die einfach nur das Gefühl hatte, dass sie ihr Leben hier in dieser Welt gelebt hatte und die sich in ihrem Leben sicher war, dass Gott auch jenseits des Lebens, das sie kannte, mit seiner Liebe für sie da sein wird.
Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn. Ich kann von niemandem verlangen, dass er diesen Satz für gut, wichtig und hilfreich hält. Ich kann ihn anderen nicht als vermeintlichen Trost um die Ohren und Herzen hauen.
Ich kann diesen Satz nur für mich und mein Leben sagen. Wenn ich dazu bereit bin. Und vielleicht wird daraus ja eine Einladung für einen anderen, darüber nachzudenken und eine Wahrheit und Hilfe für das eigene Leben zu entdecken. So kann dieser Satz nicht als eine Aufforderung, Leben gering zu schätzen oder gar wegzuwerfen, missverstanden werden, sondern zu einer Hilfe werden, Leben auch in ganz schweren Zeiten anzunehmen und zu leben. Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn. Das ist keine dogmatische Aussage, die ich auswendig lernen und für wahr halten muss, sondern etwas, das ich im wahrsten Sinn des Wortes nur erleben kann.
Und da bin ich beim biblischen Hintergrund. Paulus hat diesen Satz nicht geschrieben, weil er die Nase voll hatte und sein Leben einfach wegwerfen wollte. Es ging ihm schlecht, keine Frage. Paulus war im Gefängnis. Ihm wurde der Prozess gemacht, weil er Menschen zum Glauben an Jesus führen wollte. Er wurde als Staatsfeind angeklagt und musste mit der Todesstrafe rechnen. Und in dieser Situation erfährt er, dass andere das ausnutzen und ganz anders als er von Jesus erzählen. Sie wollen, dass die Gemeindne sich von dem Weg, den Paulus ihnen gezeigt hat, wegbewegen und sich von Paulus lossagen. Sie waren vielleicht neidisch auf ihn. Menschlich gesehen wäre es sehr verständlich, wenn Paulus gesagt hätte: „Ich hab keine Lust mehr. Lohnt sich doch alles nicht mehr. Ich will nur noch sterben.“ Aber Paulus macht erstmal was ganz anderes. Er freut sich natürlich darüber, dass nicht alle so gegen ihn sind, dass er besucht wird und dass für ihn gebetet wird. Aber er macht die, die anders als er sind, nicht fertig, sondern er sagt sinngemäß: „Ich freue mich zwar nicht über die Art und Weise, wie sie es tun, aber ich freue mich darüber, dass andere von Jesus erzählen. Das ist das Wichtige. Und nicht, ob ich das tue oder jemand anders das vielleicht ganz anders tut.“ Dazu gehört schon ganz schön viel Größe. Wenn einer mich in Frage stellt, vielleicht sogar meine Schwäche ausnutzt, wie bei Paulus hier das Gefängnis, dann wünsche ich ihm, glaube ich, erstmal nichts Gutes. Das Persönliche schiebt sich ganz leicht vor die Sache, um die es geht. Auch bei Christen. Ich finde es schade, dass Christen immer wieder glauben, eigene Gemeinden und eigene Gottesdienste gründen zu müssen und feiern zu müssen, nur weil andere ihnen nicht frei genug oder zu frei beten, weil die Lieder zu altmodisch oder zu modern sind oder weil die einen die Heilungen zu wenig oder den Heiligen Geist zu stark betonen. Wir sagen zwar, als Gemeinden, als Verantwortlich ein den Gemeinden, als Mitglieder in den Gemeinden, dass es uns um Christus geht, aber viel zu oft geht’s ums Rechthaben und darum, sich einfach besser als andere zu fühlen. Die Gelassenheit von Paulus, die Einsicht, dass CHRISTUS unser Leben und nicht die Rechthaberei, würde uns, nicht nur, aber auch in Marburg oft gut tun.
Und diese Gelassenheit führt Paulus dazu, auch in einer ganz schweren Zeit, in der sein Leben wirklich bedroht ist, sagen zu können: Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn. Nicht, weil er sein Leben wegwerfen will oder weil er nicht mehr leben will, sondern weil er für sich weiß und sicher ist: Egal, was ich tue: Christus war und ist in meinem Leben bei mir, gibt mir Halt und Kraft und das wird sich mit dem Tod nicht ändern. Mir kann zwar das Leben genommen werden, aber nicht die Liebe, die Gott in mein Leben gelegt hat. Sterben ist mein Gewinn – nicht weil das Leben nichts wert wäre, sondern weil Jesus gezeigt hat, dass der Tod die Liebe nicht auslöscht und weil sich da die wahre Kraft der Liebe und der Versöhnung und Vergebung zeigt.
Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn – aus dieser Aussage, die auf den ersten Blick erstmals Lebensmüdigkeit auszudrücken scheint, wächst das Gegenteil, nämlich Kraft zum Leben. Weil ich nicht krampfhaft alles festhalten muss, weil ich nicht krampfhaft dafür sorgen muss, dass alles rund wird und Leben nur dann einen Sinn hätte, wenn alles glatt und am besten so, wie ich es will, läuft, sondern weil Christus auch in den dunklen Zeiten und bei den Niederlagen mit seiner Liebe nicht wegläuft und weil der Sinn nicht zerstört wird, wenn ich MEIN Leben aus der Hand geben muss, kann ich kraftvoller und entspannter die Zeit gestalten, die mir als Lebenszeit geschenkt ist und muss nicht das Gefühl haben, Leben wäre nichts wert und müsste weggeworfen werden, wenn was ganz anders läuft, als es in meinen Augen gut ist. So verstehe ich Paulus. Und so wird auch nicht ein zynisches Totschlagargument aus der ganz persönlichen Aussage von Paulus, sondern so kann sie vielleicht in einem ganz persönlichen Leben, das nicht das von Paulus, sondern ein ganz eigenes ist, auch Kraft entfalten.
Und wie ist das mit den Eltern der Eltern und Angehörigen der toten Kinder, mit den Familien und Freunden der toten Lehrer und Busfahrer? Ich kann mir kaum vorstellen, dass etwas anderes als einfach nur dasein, nicht weglaufen, mit aushalten auch nur den Hauch von Trost langsam wachsen lassen kann. Vielleicht kann eine Mutter oder ein Bruder, eine Ehefrau oder ein Sohn oder eine Freundin irgendwann einmal sagen: ich habe gespürt, dass auch da, wo ich dachte, ganz allein zu sein und nur im Dunkeln gehen zu müssen, Christus mit seiner Liebe nicht ganz weg war. Und ich habe gespürt, dass mir die Liebe Kraft gegeben hat, mein Leben mit aller Trauer weiterzuleben und nicht wegzuwerfen. Christus mit seiner Liebe ist mein Leben. Und Sterben ist mein Gewinn, weil ich mein Leben lebe und weiß, dass die Liebe nicht fortgeht, sondern dass ich in Liebe dieses Leben beenden kann und dann in der gleichen Liebe geborgen bin wie die, die ich nicht zurückholen kann und deren Tod eine unaussprechliche Lücke in mein Leben gerissen hat.
Ich weiß nicht, ob das so sein wird. Wie gesagt, Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn kann immer nur ein persönlicher Satz sein. Ich kann dafür beten, dass es so sein möge. Bei anderen, bei mir. Dafür auch, dass nicht der erste Teil des Satzes wegfällt und nur noch der zweite Teil gehört wird. Dafür, dass es auch in schweren Zeiten heißen kann: Sterben ist mein Gewinn. Dann, wenn es soweit ist. Aber bis dahin ist Christus mein LE-BEN. Jetzt. Dafür kann ich beten. In der Hand habe ich es nicht. Bei anderen nicht. Und auch nicht bei mir selbst.
Amen.
Predigten und Gedanken aus der Thomaskirche auf dem Richtsberg in Marburg
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