Liebe Gemeinde!
Du hast es gut, Paulus! Du hast es so richtig gut! Du lässt dich nicht unterkriegen. Egal, was dir an traurigen Dingen passiert: Du hältst den Kopf oben! Immer voller Freude, auch im Gefängnis, auch wenn dir andere mit dem Tod drohen. Arm, ohne Besitz, angefeindet – na und? Du kommst mit allem klar! Du Superheld, du! Nichts haut dich um!
Mir macht Paulus Angst. Wenn er wenigstens sagen würde: „Mir geht’s gut. Ich hab einen tollen Job, ich muss mir finanziell keine Sorgen machen, ich habe viele Freunde, mir will niemand was Böses, ich bin gesund – ich hab keinen Grund, dass es mir schlecht geht. Und dazu glaube ich so fest an Gott, dass ich weiß, er ist für mich da! Meinen glauben hat nichts erschüttert!“ Wenn er wenigstens so was sagen würde, dann könnte ich sagen: „Ja, Mann, das kann ich verstehen! Du hast echt das große Los gezogen. Super, dass es dir gut geht!“ Aber so macht er mir Angst. Paulus macht mir Angst, weil ich mich frage: „Was würde ich eigentlich sagen, wenn es mir so wie ihm gehen würde? Wenn hinter meinem Rücken geredet und gelästert wird, wenn ich wegen meines Glaubens ins Gefängnis müsste, wenn ich Folter, Schläge, Drohungen aushalten müsste, wenn die, in die ich großes Vertrauen hatte, beginnen, sich von mir abzuwenden?“
Das alles ist Paulus passiert. Ihm geht’s gut. Ich glaube nicht, dass es mir gut gehen würde, wenn ich das alles hätte erleben müssen. Vielleicht würde ich, wenn ich das eine oder andere davon erlebt hätte, schon sagen: „Ganz gut!“ wenn mich jemand fragt, wie’s mir so geht. „Ganz gut“, „Normal“, „Passt schon“ – die üblichen Antworten halt auf die Frage, wie’s einem so geht.
Viele sagen, dass diese Antworten gegeben werden, weil’s den anderen ja sowieso nicht interessiert und man nur aus Höflichkeit und weil es üblich ist, so fragt beziehungsweise gefragt wird. Aber ich glaube, dass die Antworten hin und wieder auch Selbstschutz sind. Ich glaube, manchmal ist es die Angst, nicht aufhören zu können, wenn man von seinen Niederlagen und seinen Sorgen erzählt, die einen dazu bringt, oberflächlich zu antworten. Oder die Angst davor, schwach zu wirken. Klar, wenn man wie Paulus sagen kann: „Das macht mir alles nichts aus“, dann kann man das schon offen sagen. Aber was ist, wenn’s einem doch was ausmacht?
Mir machen Leute Angst, denen nichts etwas ausmacht. Mir machen sie Angst, weil ich mich dann noch kleiner, dümmer, schwächer fühle und denke, ich darf noch weniger zeigen, dass nicht alles einfach so an mir vorbeigeht und dass es mir immer wieder auch mal schwer fällt, das Gute zu sehen.
Mir machen aber auch Leute Mut, die mich von dem Wahn befreien, dass ich perfekt sein müsste oder mein Leben perfekt sein müsste, damit es gut ist. Mit machen Leute Mut, die mich auch mal freundlich in den Hintern treten, damit ich ihn hochkriege und nicht im Selbstmitleid hocken bleibe. Mir machen Leute Mut, die mir helfen, die Augen aufzukriegen und zu sehen, dass nicht alles super und perfekt sein muss, damit ich leben kann.
Und da finde ich gerade den Anfang von dem, was ich eben vorgelesen habe, ganz hilfreich. „Als Gottes Mitarbeiter wenden wir uns auch an euch; wir bitten euch: Lasst die Gnade, die Gott euch schenkt, in eurem Leben nicht ohne Auswirkungen bleiben“, schreibt Paulus da. Klar, das kann man als einen Anspruch verstehen, der da wieder mal gestellt wird. Schon wieder muss man was tun. Schon wieder soll man funktionieren.
In der Familie, in der Schule, im Beruf, in der Gemeinde: immer funktionieren, immer was tun. Aber es kann auch mit einem ganz anderen Gewicht gemeint sein. Zuerst ist da mal einer, der bittet. Und das ist ernst gemeint. Es wird nicht befohlen, es wird nicht alternativlos nahegelegt, es wird nicht erwartet. Bitte. Jemanden zu bitten lässt ihm die Freiheit, auch anders zu handeln. Bitten, die ernst gemeint sind, haben die Zielrichtung, den andere zu überzeugen, nicht zu überrumpeln, nicht zu überreden, nicht zu zwingen. Das zweite, das in diesem Anfangssatz steckt, ist die Überzeugung: Gnade – also die Zuwendung Gottes zu diesem Leben, der Willen Gottes, auch dieses Leben zu lieben, der Willen Gottes, diesem Leben Halt und Kraft zu geben, ist schon längst da. Gott hat schon längst zu diesem Leben „Ja“ gesagt. Bevor überhaupt nur der Hauch von einem Anspruch kommt, ist da erst einmal die Zusage: „Unabhängig davon, was ich als Mensch, als einer, der an Gott glaubt und der Jesus traut, von dir, von deiner Situation, von deinem Handeln denke, ist schon ganz, ganz viel da.“ Und dann kommt erst die Zumutung oder der Anspruch: „Mach was aus dem, was du mitbekommen hast!“ Aber eben als Bitte, die einem die Augen öffnen will, und trotzdem die Freiheit lässt, es so oder auch anders zu sehen und zu machen. Ich glaube, dass da eine ganz große Stärke liegt, die auch ganz viel über den Weg Gottes mit uns Menschen sagt. Da geht’s nicht um Drohungen, um gewaltsames Umdrehen von Menschen, um Hinzwingen in eine bestimmte Richtung. Es geht um die Liebe, die Freiheit lässt. Stark ist nicht der, der seine Stärke ausnutzt, oder der die besseren Psycho- und anderen Tricks kennt oder der mehr Geld und Einfluss hat und anderen seinen Willen und seinen Weg aufzwingen lässt. Stark ist der, der andere überzeugen will, weil er selbst überzeugt ist, der einlädt aber nicht daran zu Grunde geht, dass manche die Einladung nicht haben wollen. Stärke liegt nicht darin, andere zu zwingen, sondern anderen Freiheit zu schenken. Das ist Gottes Weg mit uns, den Paulus auch hier deutlich macht. „Lasst die Gnade, die Gott euch schenkt, in eurem Leben nicht ohne Auswirkungen bleiben“ ist kein Aufruf, in hektische Betriebsamkeit zu verfallen und tausend Dinge anzufangen, von denen ich denke, dass sie Gott und meinen Mitmenschen weiterhelfen. Zuallererst heißt das mal: „Nimm dein eigenes Leben an! Steh zu deinem Leben, das auch dann nicht gottverlassen ist, wenn du den Eindruck hast, dass das so sein könnte!“ Wenn ich die Gnade leugne und nicht annehme, dann glaube ich, alles allein machen zu können und zu müssen. Dann lasse ich mich gefangen nehmen und festlegen – auf meine Fehler, auf meine Stärken, auf mein Aussehen, meine Macht, auf das, was ich vor anderen darstellen will, auf die Ansprüche, die andere an mich stellen. Paulus lädt dazu ein, die Sichtweise zu verändern. Keine Zeit der Forderung zu sehen, keine Zeit des Niedergangs oder der Schwäche, sondern in dem, was JETZT ist zu erkennen: „Seht doch: Jetzt ist die Zeit der Gnade! Begreift doch: Heute ist der Tag der Rettung!“ In allem, was jetzt, heute, gerade eben auch schwer ist, was schiefgeht, bist du nicht ohne Zukunft, bist du nicht ohne Liebe. Ich glaube, dass Paulus das den Menschen nahebringen wollte. Aus dieser Liebe heraus und für diese Liebe hat er sich in den Dienst nehmen lassen. In den Dienst im Namen Jesu für die Menschen. Paulus versteht sich nicht als einer, der ein besonderes Amt hätte, das ihn über andere stellt und von dem aus er anderen erzählen könnte, was richtig oder falsch ist. Er versteht sich als einer, der dient und der Gottes Liebe nicht im Weg stehen will, der den Menschen Wege zu Gottes Liebe zeigen möchte. Wir „bemühen uns, ´so zu leben,` dass wir niemand auch nur das geringste Hindernis ´für den Glauben` in den Weg legen; denn der Dienst, ´den Gott uns übertragen hat,` darf auf keinen Fall in Verruf geraten.“ Es geht nicht um persönliche Vorteile, sondern darum, die Menschen zu ermutigen, ihren Weg mit Gott zu gehen. Es geht darum, einzuladen, die Gegenwart, heute, diesen Tag als einen Tag sehen zu können, der zu mir, meinem Leben, meiner Zukunft gehört, weil er von Gott begleitet und gehalten ist, auch wenn nicht alles gut läuft, manches sogar vielleicht ziemlich danebengeht. Eine Einladung, kein Befehl.
Paulus macht mir Angst. Immer noch. Weil ich glaube, dass mir das alles, was er aufzählt, und was ihm wenig auszumachen scheint, ziemlich viel ausmachen würde. Aber er macht mir auch Mut, denn vor meinem Leben, vor der Gegenwart und vor meiner Zukunft kann ich nicht davonlaufen. „Seht doch: Jetzt ist die Zeit der Gnade! Begreift doch: Heute ist der Tag der Rettung!“ Bis heute gilt das. Jeden Tag. Jeden Tag lädt Gott mich ein, mein Leben mit seiner Liebe anzunehmen. Und zu leben. Für mich und andere. Und wenn ich es an diesem Tag nicht schaffe: Es ist nur der erste Tag meiner Zukunft mit Gott. Durch Jesus lässt er diese Liebe, diese Einladung stehen. Jeden Tag. Ich muss dazu nicht Paulus werden. Ich darf Ulrich sein. Und… Und … Amen.
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