Beliebte Posts

Samstag, 19. November 2011

Lebensmüde oder Lebensmunter? _ Totensonntag, 20.11.11, Reihe IV (statt III)

Text: Phil 1,21-26 (Gedenktag der Entschlafenen, nicht Ewigkeitssonntag)

Liebe Gemeinde!


„Sterben ist für mich ein Gewinn“ – Was muss in einem Menschen vorgehen, damit er so etwas sagen kann? Denken lässt sich da ganz viel. Das könnte ein religiös durchgedrehter Attentäter sagen, der darauf hofft, dass er von zweiundsiebzig Jungfrauen im Paradies bedient wird, wenn er sich und andere in die Luft sprengt. Viel alltäglicher und viel trauriger wird dieser Satz aber, wenn ihn schwer kranke Menschen sagen, die vor lauter Schmerzen nicht mehr ein und aus wissen und einfach genug davon haben. Oder, für mich noch viel trauriger, wenn oft schon ganz junge Menschen keine Lust mehr haben, es mit dem Leben aufzunehmen. Manchmal ist das Gefühl da, das alles schief geht. Beziehungen, Freundschaften, Liebe – all das geht vielleicht gerade kaputt. In der Schule oder im Beruf ist das Gefühl da, das alles, was man anpackt, nur noch danebengeht und nichts mehr klappt. Das Gefühl, das jeder an einem zerrt, jeder was von einem will und man gar nicht mehr weiß, wohin. „Sterben ist für mich ein Gewinn“ – da habe ich endlich meine Ruhe. Und dann werden die anderen schon sehen, was sie angerichtet haben! Ein ganz trauriges Gefühl, ein ganz trauriger Satz. Auch dann, wenn er von älteren und alten Menschen gesprochen wird, die müde geworden sind, weil sie schon so viele Abschiede haben hinnehmen müssen. Abschiede von lieben Menschen, die ihnen hier fehlen. Abschiede auch von manchen Fähigkeiten, die man früher vielleicht noch hatte und die das Alter genommen hat. „Sterben ist für mich ein Gewinn“ – Was soll ich eigentlich noch hier! Es gibt in jedem Leben Zeiten, da scheint es nur noch eine große Last zu sein, die man irgendwie loswerden will. Und vielleicht erwartet oder erhofft man sich dann, dass einem der Glauben an Gott, auch wenn er ganz fern zu sein scheint, dass einem die Bibel oder Gespräche mit einem Pfarrer oder anderen Menschen, von denen man hofft und denkt, dass wenigstens sie auf Gott vertrauen, dem Leben trauen und sich nicht unterkriegen lassen, aus einem solchen Loch wieder raushilft. Die Bibel, der Glauben, Jesus und auch sein Bodenpersonal – das soll doch für Hoffnung, für Leben, für ein gutes Leben stehen!

Und dann findet sich ausgerechnet in diesem Buch der Hoffnung der Satz: „Sterben ist mein Gewinn!“ Paulus hat diesen Satz geschrieben. Er schreibt ihn in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi im heutigen Griechen-land. Er schreibt ihn aus dem Gefängnis, in dem er zu Unrecht sitzt und in dem er nicht weiß, ob ihn nicht viel-leicht ein hartes, vielleicht sogar ein Todesurteil erwartet. „Ich habe es satt, ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, gut, wenn alles endlich zu Ende ist!“ Wenn man nur diesen Satz hätte und nur wüsste, dass er aus dem Gefängnis geschrieben ist, dann könnte man glauben, dass Paulus genau so etwas meint. Aber dieser Satz ist nicht das einzige, was er aus dem Gefängnis schrieb. Er schreibt diesen Satz nicht für sich allein, sondern
er schreibt in seiner eigenen, manchmal etwas komplizierten Sprache: Phil 1,21-26: Christus ist mein Leben und Ster-ben ist mein Gewinn.22 Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; und so weiß ich nicht, was ich wählen soll. 23 Denn es setzt mir beides hart zu: Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; 24 aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen. 25 Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben, 26 damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme.



Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn – manchmal wird dieser Satz ganz falsch verstanden. So, als wollte Paulus als Christ nichts mehr mit der Welt, mit dem Leben hier zu tun haben und als sollten alle Christen sich lieber auf das Leben im Jenseits nach dem Tod konzentrieren. Aber Paulus schreibt das so gar nicht. Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn – weil ich weiß, dass Jesus in meinem Leben schon da ist, weil ich weiß, dass er den Tod besiegt hat und mich auch dann nicht verlässt, wenn das Leben hier ein Ende hat, muss ich keine Angst vor dem Tod haben und kann mich dem Leben stellen. Das ist für ihn die Pointe. Paulus kann loslassen. Das ist das Entscheidende. Er klammert sich nicht an das Elend, das er gerade erlebt. Er klammert sich nicht an ein Bild von einem irgendwie tollen Leben, dass er haben müsste, damit alles einen Sinn hat. Er kann sagen: auch wenn ich loslasse, gewinne ich und falle nicht in ein großes Loch. Mit Jesus, mit Christus, da habe ich das ganze Leben gewonnen. Natürlich gibt es ein Leben, das besser ist, ohne Leid, voller Gerechtigkeit, ein Leben, für das Jesus mit seiner Auferstehung steht. Und natürlich wäre ich da viel lieber als im Gefängnis. Aber weil ich glauben darf, dass Christus wirklich mein Leben ist, kann und will ich eigentlich jetzt, in dieser Welt, noch viel mehr machen. „Im Fleisch bleiben“ das hört sich ja merkwürdig an. Aber Paulus meint damit nichts anderes, als das er in diesem Leben mit seinen Widersprüchen, mit seinen Schwierigkeiten und Nöten bleibt. Er läuft nicht vor dem Leben weg. Was Paulus der Gemeinde in Philip-pi mit den Worten, die, glaube ich, nicht nur für Konfis seltsam klingen, schreibt, ist die Hoffnung mit seinem Leben, mit seinem Glauben, mit seiner Hoffnung andere motivieren zu können, in dieser Welt zu leben. Als Christ zu leben. Und das heißt auch, die Augen davor nicht zu-zumachen, dass mein Leben immer auch mit dem Leben anderer verbunden ist. Dass ich auch mit dem, was mir vielleicht schwer fällt, anderen etwas geben kann. Viel-leicht irritiert manchen die Selbstsicherheit, mit der Pau-lus hier von sich spricht. Paulus schreibt ja, dass er zur Förderung und zur Freude im Glauben sein Leben behal-ten will, 26 damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme.

Es könnte so missverstanden werden, als wollte Paulus noch angesehener und berühmter werden und vielleicht bei Gott Pluspunkte sammeln. Aber das, was Paulus hier erkennt, ist eigentlich etwas, was jeder von sich sagen kann: mit meinem Leben kann ich dir, kann ich anderen helfen, ein Stück von der Liebe Gottes zu entdecken. Im Alltag sind wir es gewohnt, dass es darum geht, toll auszusehen, ganz vorne zu stehen. Toll sind die Berühmtheiten, die im Fernsehen auftauchen, die viele Treffer bei Google, viele Likes bei facebook oder Follower bei Twitter haben. Der eigene Ruhm, die eigene Macht, das soll alles überstrahlen, das Ego gestreichelt werden. Paulus geht es nicht um diese Art von Ego-Ruhm. Ihm geht es darum, dass er mit dem, was er hat, wie er lebt, andere dazu bringen kann, zu Christus zu kommen. Nicht damit Paulus gut da steht, noch nicht ein-mal, damit Jesus größer würde, er ist ja schon so groß, dass es nicht größer ginge, sondern damit anderen geholfen wird. Loslassen um zu gewinnen.

Wir leben in einer Kultur des Festhaltens. Das, was wir kennen, würden wir gern ewig weiterhaben. Wenn es gut ist. Und wenn wir etwas als schwer erleben, dann fehlt uns oft die Perspektive, die gute Aussicht. Dann wird Sterben zum Gewinn. Nicht, weil ich weiß, dass der Tod nicht das letzte Wort spricht, sondern weil ich alles einfach satt habe. Christus der ist mein Leben – zu dieser Einsicht, dass es einen Grund gibt, jetzt zu leben und Schwierigkeiten auszuhalten, kann ich niemanden zwingen. Ich kann einladen. Und ich darf hoffen, dass in Zeiten, in denen ich nur noch den zweiten Teil Sterben ist mein Gewinn hören kann oder hören will, jemand da sein wird, der mich, wie Paulus vor langer Zeit die Menschen in Philippi, zum Leben anstiftet. Indem er mir Mut macht, loszulassen. Vorstellungen von einem guten Leben, die unrealistisch sind. Vorstellungen davon, dass schon in dieser Welt ein Leben ohne Sorgen und Schmerzen möglich wäre. Vorstellungen davon, dass ich mich durch Geld, durch Macht, durch Berühmtheit, gute Noten oder dicke Autos selbst erlösen könnte und dass das alles der Sinn wäre, den dieses Leben hätte. Wir leben nicht in einer vollkommenen Welt. Wir leben in einer Welt, in der Schmerz, Unrecht, Trauer, Wut und Versagen ihren Platz haben. Wir dürfen aber die Hoff-nung haben, dass das alles ein Ende haben wird. In Christus, in einem Leben, das bei ihm sein wird. Gebe Gott, dass wir daraus Mut und Kraft schöpfen, nicht vor diesem Leben, vor dieser Welt davonlaufen, sondern dass in der Zeit, in der wir in der Welt, die wir kennen, mitei-nander leben Christus, der ist mein Leben der entscheidende Satz ist und erst dann, wenn wir dieses Leben wirklich loslassen müssen, Sterben ist mein Gewinn zur großen Hoffnung wird. Amen.

Keine Kommentare: