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Samstag, 5. November 2011

Dämonen raus - Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 6.11.2011, Reihe III

Text: Lukas 11,13-24 (Übersetzung: Basisbibel)

Liebe Gemeinde!


Wer hat eigentlich verstanden, was ich da gerade vorgelesen habe? Ich meine jetzt nicht nur die einzelnen Wörter und nicht nur die Frage, ob ich laut und deutlich genug gesprochen habe. Ich meine eher den Sinn, den Inhalt. Ich habe die Bibelstelle in den letzten Tagen oft gelesen. Laut und leise, aber es ist mir nicht leicht gefallen, das, was da steht, wirklich zu verstehen. Dämonen und Beelzebul, der Oberste der Dämonen, ein bewaffneter Starker und ein Stummer, der von einem Dämon besessen ist, der ausgetrieben wird – für mich passt das nicht richtig in meine Welt, in mein Leben im Jahr 2011. Für mich passt das in eine Zeit vor vielen hundert Jahren, in der die Medizin und die Wissenschaft ihre Erklärungslücken, die unglaublich groß waren, mit Geisterwesen gefüllt haben. Aber heute ist die Welt doch anders. Dämonen, Satan, Beelzebul, Krankheit als Besessenheit – das ist 2011 nicht zu verstehen. Das ist nicht normal.

Und dann kam mir der Gedanke, dass vielleicht gerade dieses Nichtverstehen, dieses Unnormale der Schlüssel dazu ist, das, was Jesus hier auch für heute noch sagen will, besser zu verstehen. Schon wieder so ein verrückter und unverständlicher Satz vom Pfarrer. Leben ist oft ganz schön normal. Gott sei Dank. Da passiert nicht immer viel Aufregendes, da ist, Gott sei Dank, nicht immer gleich eine schlimme Krankheit am Start. Aber trotz allem wissenschaftlichen Fortschritt, gerade in der Medizin, trotz allem, was wir mit Hilfe der Wissenschaft erklären können, gibt es im Leben immer etwas, das unbeherrschbar und unverfügbar ist. Es gibt Angst, die auch alle menschliche Kunst, die alles menschliche Handeln nicht besiegen kann. Es gibt Böses, Schlimmes, das sich nicht einfach weg reden, leugnen lässt. Böses, Schlimmes, wo unsere Vernunft und Normalität und Kunst an ein Ende kommen. Zwei, drei alltägliche Beispiele.

Die Wissenschaft kann erklären, was eine Krankheit mit dem Körper macht, oft genug auch, wo sie herkommt. Und viele Krankheiten können geheilt werden. Aber oft genug können wir gar nicht anders, als von Krankheiten als „Schicksalsschlag“, als „Prüfung“, als „Katastrophe“ zu reden. Weil Normalität durchbrochen wird, weil Angst da ist, weil wir eben merken, dass wir nicht alles im Griff haben.

Wir wissen, wie sich Alkoholismus auf die Familie aus-wirkt, wir haben oft genug mehr als nur eine Ahnung davon, warum ein Mensch gewalttätig oder kriminell wird. Aber wir haben Angst davor, solchen Menschen zu begegnen oder selbst so zu sein oder zu werden. Und wir wissen ganz genau, dass auch alle menschliche Kunst und Redegewandtheit einen Alkoholiker nicht von der Flasche bringt und dass alles Wegsperren und psychologische Betreuen aus einem Gewalttäter oder Straftäter nicht unbedingt einen Menschen macht, der für andere keine Bedrohung mehr ist.

Dämon, Satan, Beelzebul, diese persönlichen Benennun-gen sind ein Versuch, dieses Böse, was da ist, durch Namensgebung ein Stück weit in seiner Macht zu be-schränken, weil ich ja einen Namen dafür habe und es nicht so ganz unbekannt ist. Im Jahr 2011 finde ich die Vorstellung einer personalisierten, gegengöttlichen, bö-sen Geisterwelt nicht mehr hilfreich. Gott sei Dank ha-ben wir zum Beispiel gelernt, in Menschen, die stumm sind, nicht mehr böse Geister am Werk zu sehen.

Was aber, trotz aller Entgeisterung der Welt, geblieben ist, ist die Angst vor dem, was Menschen nie in den Griff kriegen können. Das Böse, das den normalen, glatten Alltag durchbricht und schwer macht. Mir hilft es, hier eben nicht persönliche Wesen am Werk zu sehen,
sondern Ängste, Verstrickungen, Machtlosigkeit, aus der wir als Menschen uns nicht selbst befreien können.

Und da setzt Jesus an. Das, was er tut, befreit die Men-schen. Er befreit den Stummen aus seiner Isolation. Vielleicht auch aus der Angst, was falsch gemacht zu haben und bestraft worden zu sein und aus der Angst, von anderen ausgenutzt zu werden, weil er sich nicht mitteilen kann. Jesus befreit, die Mächte, die Verstrickungen, die Leben schwer machen, haben plötzlich keine Macht mehr.

Aber die Menschen um ihn herum können oder wollen diese Befreiung nicht sehen. Die einen sagen: „Der ist doch in dem System von Angst und Bösem geblieben. Er treibt das Böse durch noch Böseres aus!“ Die anderen sehen in ihm nur eine Art Superzauberer. Denen reicht nicht, dass ein Stummer frei wird, um zu reden und frei Kontakte knüpfen zu können, die wollen Sensationen, „Zeichen vom Himmel“ – am besten sollen Sonne und Mond still stehen!

In der Diskussion beziehungsweise in dem, was als Ant-wort von Jesus bei Lukas überliefert ist, und was mich und vielleicht auch einige hier im Gottesdienst beim Zuhören beziehungsweise Lesen total schwindlig gemacht hat, macht Jesus klar, dass diese Sicht totaler Unsinn ist. Wenn die Macht der Angst, die Macht des Bösen gebrochen werden soll, dann geht das nur durch das Gegenteil davon. Solange ein System von Angst, Bösem und Unterdrückung sich immer wieder selbst stabilisieren kann, wird es immer stärker. Trauriges Beispiel: Kinder, die regelmäßig geschlagen werden und in Angst davor leben, sich anderen zu öffnen, die vielleicht helfen können, werden sehr viel öfter gewalttätig als andere. Vergewaltiger und vor allem Männer, die Kinder missbrauchen, haben sehr häufig genau das früher auch bei sich selbst als Opfer erlebt.

Die Macht der Angst, Böses kann nur durch die Liebe selbst besiegt werden. Dort, wo Menschen Befreiung von Angst erleben, von mit Worten und mit der Vernunft kaum oder gar nicht zu beschreibenden schlimmen Erfahrungen, wo Menschen vom Bösen befreit werden, da ist das, was die Bibel überhaupt und Jesus hier bei Lukas „Reich Gottes“ nennt, schon da. „Wenn mir der Finger Gottes hilft, Dämonen auszutreiben, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen!“ So sagt er es hier. Wie gesagt, Dämonen muss man nicht als personalisierte Geister verstehen, sondern als Macht der Angst, als unverfügbar Schlimmes und Böses, als Verstrickung in Kräfte, die dem Leben schaden.

Das ist eben nicht nur was, was vor langer Zeit funktio-nierte, als Jesus in dieser Welt sichtbar war. Noch mal zu den Beispielen Alkohol oder Gewalt, Straftat und Ge-fängnis: Medizinische und psychologische Behandlung ist für einen Alkoholiker wirklich notwendig. Aber wenn er nicht wirklich Liebe erfährt, wenn er nicht für sich annehmen kann, dass er der Liebe auch wert ist und dass Vergebung möglich ist, wird er ziemlich wahrscheinlich immer wieder rückfällig werden.

Und ein Gefängnisaufenthalt allein oder harte Arbeit im Knast ändert auch erst mal keinen Menschen. Die Befreiung von der Vorstellung, nur durch Gewalt oder durch das Ausnutzen von anderen was wert zu sein und was zu gelten, die Befreiung zu Liebe muss dazu kommen.

Und diese Befreiung schenkt Jesus. Die Begegnung mit ihm ist etwas, das frei macht. Frei von der Angst. Deshalb ist es auch wichtig, wenn man an Gott glaubt, wenn man anderen vom Glauben erzählen will, dass man nicht neue Ängste schürt oder Menschen unfrei lässt, indem man ihnen Angst vor Dämonen einredet. Die Begegnung mit Jesus, der Glauben an Gott befreit. Das ist die große Botschaft dieser schweren Geschichte. Der Schlusssatz „Wer nicht für mich, ist gegen mich und nicht mit mir sammelt, treibt auseinander“, hört sich erst mal sehr hart und wenig befreiend an. Weil er so fordernd daher kommt. Aber er fasst doch genau diese Befreiung zusammen. Wer nicht für mich, Jesus, ist -Wer die Befreiung verleugnet, wer andere in Ängsten halten will, wer glaubt, nur im System des Bösen das Böse in Schach halten zu können – der ist gegen mich: der wird die Liebe nicht annehmen können, der wird die Freiheit nicht entdecken und der wird anderen Freiheit nicht gewähren können. Es geht um die Freiheit zum Le-ben, es geht um die Liebe, die die Macht der Angst bricht. Gebe Gott, dass wir diese Freiheit, sein Reich, schon jetzt und hier bei uns spüren und dass unsere Angst und unsere Verstrickung in Verhältnisse, die dem Leben nicht dienen, gelöst wird.

Amen.

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