Text: 1. Tim 1,12-17
Liebe Gemeinde!
„Herr Kling-Böhm, sie trinken doch auch Bier, wenn sie Fußball gucken, oder?“ Wenn ich ehrlich bin, trinke ich zwar nicht immer Bier beim Fußball, aber ich trinke Bier auch dann, wenn ich nicht Fußball schaue. „Herr Kling-Böhm, sie haben doch auch eine Frau und hatten Sie davor auch eine Freundin?“ Ja, hatte ich. „Herr Kling-Böhm, sie benutzen doch auch manchmal Schimpfwörter, oder?“ Wenn ich ehrlich bin, rutscht mir schon mal ein Wort, das ich besser nicht gesagt hätte, raus, wenn ich mich wirklich ärgere oder wenn ich bei einem Spiel der Eintracht im Stadion in Frankfurt sitze. Das alles und noch viel mehr sind beliebte Fragen meiner Schülerinnen und Schüler. Und meistens enden diese Gespräche dann, wenn ich ehrlich antworte, mit der Feststellung: „Aber sie sind doch Pfarrer! Als Pfarrer darf man doch nicht sündigen!“ Jetzt könnte ich natürlich einen Vers aus der Bibel zu Hilfe nehmen, den ich eben vorgelesen habe. Paulus schreibt ja: Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. In einer moderneren Übersetzung steht da: Was ich sage, ist wahr und glaubwürdig: Christus Jesus kam in die Welt, um Sünder zu retten – und ich bin der Schlimmste von allen. Aber Gott hatte Erbarmen mit mir, damit Jesus Christus mich als leuchtendes Beispiel für seine unendliche Geduld gebrauchen konnte. So bin ich ein Vorbild für alle, die an ihn glauben und das ewige Leben erhalten werden. Ja, es ist richtig: Jesus führt auch die Menschen zu Gott, die in ihrem Leben nicht gerade alles richtig gemacht haben oder alles richtig machen. Um durch Jesus zu Gott zu kommen, muss ich kein perfekter, fehlerloser Mensch sein. Aber ich finde die Fragen der Schülerinnen und Schüler, die aussprechen, was Erwachsene vielleicht manchmal nur denken, nicht deshalb wichtig, weil ich dann mit Bibelsprüchen glänzen kann und mich als tolles Vorbild hinstelle, weil ich vielleicht auch Dinge getan habe oder tue, die nicht in Ordnung waren oder sind und trotzdem auf die Liebe Gottes vertraue. Das ist nicht der entscheidende Punkt. Viel wichtiger sind für mich andere Beobachtungen und Fragen: Ist das, was Schülerinnen und Schüler, und, wie gesagt, sicher auch viele Erwachsene, als Sünde verstehen, so, wie es in ihren Fragen deutlich wird, tatsächlich Sünde? Was ist eigent-lich Sünde? Eine andere wichtige Frage, die für mich hin-ter den Fragen steckt, ist dann die: Brauche ich perfekte, oder wenigstens fast perfekte Vorbilder, die stellvertre-tend für mich alles oder fast alles richtig machen, weil ich es sowieso nicht schaffe oder gar nicht erst schaffen will? Und hinter allem steckt die große Frage, auf die für mich die Verse, die heute als Predigttext da sind, eine Antwort geben: Ist Gott eigentlich auch für mich da, kann er mit mir etwas anfangen, auch wenn ich nicht gerade perfekt bin und immer wieder an den Ansprüchen von dem, was eigentlich gut und richtig ist, scheitere?
Ich möchte gern mit der ersten Frage anfangen. Was ist eigentlich Sünde? Nicht zufällig macht sich das auch am Thema Alkohol fest. Ich glaube schon, dass viele Jugendliche in ihrem Alltag, manchmal auch in ihrer nächsten Umgebung, erleben, wie schlimm Alkohol sein kann. Es ist keine Sünde, Alkohol zu trinken. Jesus selbst hat das getan. Er hat, so erzählt es das Johannesevangelium, bei einer Hochzeit dafür gesorgt, dass der Weinvorrat nicht zu Ende ging und von manchen Anhängern von Johannes dem Täufer, alles Antialkoholiker, wurde er als Weinsäufer beschimpft. Es ist nicht schlimm und keine Sünde, Alkohol zu trinken. Aber alle Hemmungen zu verlieren und Frauen und Kinder im Rausch zu verprügeln, im Rausch andere anzupöbeln und sie aufs übelste zu beleidigen oder gar bewusst andere betrunken zu machen, um sie zu bestehlen oder um Sex mit ihnen zu haben, das ist etwas ganz anderes. Hier wird für mich ein Aspekt von dem, was Sünde ist sichtbar: Sünde ist es, die eigene Mitmenschlichkeit zu verleugnen und zu verlieren und dem anderen sein Menschsein abzusprechen. Wo Menschen gequält, erniedrigt, ausgenutzt werden, da wird gesündigt. Ganz klar. Der Mensch ist nicht Ware, nicht Ding, sondern im anderen Menschen haben wir ein Bild Gottes vor Augen. Jeder Mensch hat Würde. Und wo diese Würde mit Füßen getreten wird, wird auch Gott mit Füßen getreten. Und da bin ich beim anderen Punkt von dem, was Sünde ist. Paulus, der hier in dem Brief von sich schreibt, dass er Sünder ist, hat sicher nicht im Suff Kinder verprügelt oder anderes gemacht. Aber er hat ganz verbissen nur auf sich und seine eigen Meinung geschaut. Er hat Christen verfolgt, wollte dafür sorgen, dass sie umgebracht werden, weil sie nicht in sein Weltbild passten. Er hat gedacht, er wäre fromm und würde alles für Gott tun, hat dabei aber Gott aus den Augen verloren. Er hat nur sich selbst, nur seine eigene Meinung vom Glauben gelten lassen und ist blind für die Liebe geworden. Er hat seine Meinung mit Gottes Meinung gleichgesetzt. Und das ist der andere Teil der Sünde. Der große Egoismus, der nur sich selbst sieht und Gott dadurch leugnet, dass sich als Menschen nicht mit seinen Grenzen wahrnimmt. Der große Egoismus, der allen Platz auf dieser Welt nur für sich selbst, die eigene Denk- und Lebensweise in Anspruch nimmt. Manchmal ist es die bewusste Abkehr von Gott, die den Menschen an Gottes Stelle setzt. manchmal wird aber, wie bei Paulus, als er noch Saulus war, auch, zwar behauptet, im Namen Gottes zu handeln. Aber letztlich geht es nur um die Durchsetzung eigener Interessen. Sünde ist es, die eigenen Grenzen nicht zu sehen und dem Mitmenschen seine Mitmenschlichkeit abzusprechen. Insofern können Schimpfwörter schon ein Ausdruck von Sünde sein. Dann, wenn durch sie Menschen lächerlich gemacht werden oder so getan wird, als wären sie weniger wert. Und insofern sind auch Wirtschaftsverhältnisse, in denen Menschen dadurch reich werden, dass sie die Schwäche und die Armut anderer ausnutzen, Ausdruck von Sünde. Sünde ist nicht das zuviel getrunkene Bier, nicht das eine Schimpfwort in der Hitze des Gefechts, sondern eine Lebenseinstellung, die sich selbst egoistisch in den Mittelpunkt stellt, die eigene Bedürftigkeit leugnet und die Bedürftigkeit des anderen mit Füßen tritt.
Damit bin ich bei der Frage, ob ich perfekte Vorbilder brauche. Nein, kann ich nur sagen. Perfekte Vorbilder wird keiner finden. Und man kann sein Leben ja auch nicht stellvertretend von anderen leben lassen und die Verantwortung abgeben. Wenn ich sage, der Pfarrer, der Lehrer, der Papst, die Eltern oder wer auch immer, der soll perfekt sein, ich als Kind, als einfacher Mensch kann das ja nicht, dann mache ich mir was vor. Entscheidend ist nicht nur, dass ich sehe, was gut und was böse ist. Entscheidend ist, dass ich bereit bin, da, wo ich stehe, mich auch den Fehlern, die ich mache, zu stellen, und nicht nach bequemen Ausreden zu suchen. Eine bequeme und beliebte Ausrede ist: ich kann halt nicht anders. Außerdem sind die anderen, die meine Vorbilder sein sollten, ja auch nicht besser. Ausrede, sonst nichts. Deinen Fehler machst du selber. Deine Schuld lädst du selber auf dich. Das Schimpfwort sprichst du. Die Prügel teilst du aus. Den Beifall für Ungerechtigkeit hast du ge-klatscht. Das andere nicht umkehren, ist deren Sache. Dort, wo es an dir liegt, musst du umkehren. Und du kannst es auch. Und dort, wo es an mir liegt, muss ich umkehren. Und ich kann das hoffentlich auch. Die andere bequeme Ausrede, nicht umzukehren, ist die, das Gott ja sowieso vergibt. Also muss ich auch nichts ändern. Wer so denkt, bleibt in der Schuld und in der Sünde gefangen, weil er die Liebe gar nicht annehmen kann. Weil er immer in seiner Selbstliebe gefangen bleibt und gar nicht sehen will, dass Liebe auch zu neuem Verhalten führt. Die Liebe Gottes macht niemanden zu einem perfekten Menschen. Keinen Pfarrer, keinen Bischof oder Bischöfin, keinen Papst. Aber die Liebe hilft, Schuld zu sehen, einzugestehen und ein neues, von der Liebe gelenktes Verhalten, wenigstens in Angriff zu nehmen. auch wenn es immer wieder Rückschritte geben wird. „Weiter so“ geht in der Liebe nicht. Neuanfang, das ist das Geschenk der Liebe Gottes, der Gnade, des Glaubens, von dem Paulus hier in seinem Brief erzählt.
Ist Gott eigentlich auch für mich da, kann er mit mir et-was anfangen, auch wenn ich nicht gerade perfekt bin und immer wieder an den Ansprüchen von dem, was eigentlich gut und richtig ist, scheitere? Diese Frage beantwortet Paulus in seinem Brief an Timotheus mit „Ja“. Und dieses Ja Gottes lässt Paulus zum Vorbild werden. Nicht, weil er besser wäre als andere, sondern weil er sich seiner Vergangenheit, seiner Schuld stellt und sie nicht verleugnet. Weil er aber aus der Liebe Gottes auch die Kraft zur Umkehr bezieht. Immer wieder neu. Denn auch dort, wo ein Neuanfang gewagt wird, wird es Rückschritte geben. Fehler, Schuld. Paulus stellt sich dem. Und wir? Gebe Gott, dass uns seine Liebe Mut macht, umzukehren, neu anzufangen, einander zum Leben zu helfen.
Amen
Predigten und Gedanken aus der Thomaskirche auf dem Richtsberg in Marburg
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