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Sonntag, 20. Juni 2010

Kann denn alles Sünde sein? - 3. Sonntag n. Trinitatis, 20.06.2010, Reihe II

Text: 1. Tim 1,12-17


Liebe Gemeinde!
„Herr Kling-Böhm, sie trinken doch auch Bier, wenn sie Fußball gucken, oder?“ Wenn ich ehrlich bin, trinke ich zwar nicht immer Bier beim Fußball, aber ich trinke Bier auch dann, wenn ich nicht Fußball schaue. „Herr Kling-Böhm, sie haben doch auch eine Frau und hatten Sie davor auch eine Freundin?“ Ja, hatte ich. „Herr Kling-Böhm, sie benutzen doch auch manchmal Schimpfwörter, oder?“ Wenn ich ehrlich bin, rutscht mir schon mal ein Wort, das ich besser nicht gesagt hätte, raus, wenn ich mich wirklich ärgere oder wenn ich bei einem Spiel der Eintracht im Stadion in Frankfurt sitze. Das alles und noch viel mehr sind beliebte Fragen meiner Schülerinnen und Schüler. Und meistens enden diese Gespräche dann, wenn ich ehrlich antworte, mit der Feststellung: „Aber sie sind doch Pfarrer! Als Pfarrer darf man doch nicht sündigen!“ Jetzt könnte ich natürlich einen Vers aus der Bibel zu Hilfe nehmen, den ich eben vorgelesen habe. Paulus schreibt ja: Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. In einer moderneren Übersetzung steht da: Was ich sage, ist wahr und glaubwürdig: Christus Jesus kam in die Welt, um Sünder zu retten – und ich bin der Schlimmste von allen. Aber Gott hatte Erbarmen mit mir, damit Jesus Christus mich als leuchtendes Beispiel für seine unendliche Geduld gebrauchen konnte. So bin ich ein Vorbild für alle, die an ihn glauben und das ewige Leben erhalten werden. Ja, es ist richtig: Jesus führt auch die Menschen zu Gott, die in ihrem Leben nicht gerade alles richtig gemacht haben oder alles richtig machen. Um durch Jesus zu Gott zu kommen, muss ich kein perfekter, fehlerloser Mensch sein. Aber ich finde die Fragen der Schülerinnen und Schüler, die aussprechen, was Erwachsene vielleicht manchmal nur denken, nicht deshalb wichtig, weil ich dann mit Bibelsprüchen glänzen kann und mich als tolles Vorbild hinstelle, weil ich vielleicht auch Dinge getan habe oder tue, die nicht in Ordnung waren oder sind und trotzdem auf die Liebe Gottes vertraue. Das ist nicht der entscheidende Punkt. Viel wichtiger sind für mich andere Beobachtungen und Fragen: Ist das, was Schülerinnen und Schüler, und, wie gesagt, sicher auch viele Erwachsene, als Sünde verstehen, so, wie es in ihren Fragen deutlich wird, tatsächlich Sünde? Was ist eigent-lich Sünde? Eine andere wichtige Frage, die für mich hin-ter den Fragen steckt, ist dann die: Brauche ich perfekte, oder wenigstens fast perfekte Vorbilder, die stellvertre-tend für mich alles oder fast alles richtig machen, weil ich es sowieso nicht schaffe oder gar nicht erst schaffen will? Und hinter allem steckt die große Frage, auf die für mich die Verse, die heute als Predigttext da sind, eine Antwort geben: Ist Gott eigentlich auch für mich da, kann er mit mir etwas anfangen, auch wenn ich nicht gerade perfekt bin und immer wieder an den Ansprüchen von dem, was eigentlich gut und richtig ist, scheitere?

Ich möchte gern mit der ersten Frage anfangen. Was ist eigentlich Sünde? Nicht zufällig macht sich das auch am Thema Alkohol fest. Ich glaube schon, dass viele Jugendliche in ihrem Alltag, manchmal auch in ihrer nächsten Umgebung, erleben, wie schlimm Alkohol sein kann. Es ist keine Sünde, Alkohol zu trinken. Jesus selbst hat das getan. Er hat, so erzählt es das Johannesevangelium, bei einer Hochzeit dafür gesorgt, dass der Weinvorrat nicht zu Ende ging und von manchen Anhängern von Johannes dem Täufer, alles Antialkoholiker, wurde er als Weinsäufer beschimpft. Es ist nicht schlimm und keine Sünde, Alkohol zu trinken. Aber alle Hemmungen zu verlieren und Frauen und Kinder im Rausch zu verprügeln, im Rausch andere anzupöbeln und sie aufs übelste zu beleidigen oder gar bewusst andere betrunken zu machen, um sie zu bestehlen oder um Sex mit ihnen zu haben, das ist etwas ganz anderes. Hier wird für mich ein Aspekt von dem, was Sünde ist sichtbar: Sünde ist es, die eigene Mitmenschlichkeit zu verleugnen und zu verlieren und dem anderen sein Menschsein abzusprechen. Wo Menschen gequält, erniedrigt, ausgenutzt werden, da wird gesündigt. Ganz klar. Der Mensch ist nicht Ware, nicht Ding, sondern im anderen Menschen haben wir ein Bild Gottes vor Augen. Jeder Mensch hat Würde. Und wo diese Würde mit Füßen getreten wird, wird auch Gott mit Füßen getreten. Und da bin ich beim anderen Punkt von dem, was Sünde ist. Paulus, der hier in dem Brief von sich schreibt, dass er Sünder ist, hat sicher nicht im Suff Kinder verprügelt oder anderes gemacht. Aber er hat ganz verbissen nur auf sich und seine eigen Meinung geschaut. Er hat Christen verfolgt, wollte dafür sorgen, dass sie umgebracht werden, weil sie nicht in sein Weltbild passten. Er hat gedacht, er wäre fromm und würde alles für Gott tun, hat dabei aber Gott aus den Augen verloren. Er hat nur sich selbst, nur seine eigene Meinung vom Glauben gelten lassen und ist blind für die Liebe geworden. Er hat seine Meinung mit Gottes Meinung gleichgesetzt. Und das ist der andere Teil der Sünde. Der große Egoismus, der nur sich selbst sieht und Gott dadurch leugnet, dass sich als Menschen nicht mit seinen Grenzen wahrnimmt. Der große Egoismus, der allen Platz auf dieser Welt nur für sich selbst, die eigene Denk- und Lebensweise in Anspruch nimmt. Manchmal ist es die bewusste Abkehr von Gott, die den Menschen an Gottes Stelle setzt. manchmal wird aber, wie bei Paulus, als er noch Saulus war, auch, zwar behauptet, im Namen Gottes zu handeln. Aber letztlich geht es nur um die Durchsetzung eigener Interessen. Sünde ist es, die eigenen Grenzen nicht zu sehen und dem Mitmenschen seine Mitmenschlichkeit abzusprechen. Insofern können Schimpfwörter schon ein Ausdruck von Sünde sein. Dann, wenn durch sie Menschen lächerlich gemacht werden oder so getan wird, als wären sie weniger wert. Und insofern sind auch Wirtschaftsverhältnisse, in denen Menschen dadurch reich werden, dass sie die Schwäche und die Armut anderer ausnutzen, Ausdruck von Sünde. Sünde ist nicht das zuviel getrunkene Bier, nicht das eine Schimpfwort in der Hitze des Gefechts, sondern eine Lebenseinstellung, die sich selbst egoistisch in den Mittelpunkt stellt, die eigene Bedürftigkeit leugnet und die Bedürftigkeit des anderen mit Füßen tritt.

Damit bin ich bei der Frage, ob ich perfekte Vorbilder brauche. Nein, kann ich nur sagen. Perfekte Vorbilder wird keiner finden. Und man kann sein Leben ja auch nicht stellvertretend von anderen leben lassen und die Verantwortung abgeben. Wenn ich sage, der Pfarrer, der Lehrer, der Papst, die Eltern oder wer auch immer, der soll perfekt sein, ich als Kind, als einfacher Mensch kann das ja nicht, dann mache ich mir was vor. Entscheidend ist nicht nur, dass ich sehe, was gut und was böse ist. Entscheidend ist, dass ich bereit bin, da, wo ich stehe, mich auch den Fehlern, die ich mache, zu stellen, und nicht nach bequemen Ausreden zu suchen. Eine bequeme und beliebte Ausrede ist: ich kann halt nicht anders. Außerdem sind die anderen, die meine Vorbilder sein sollten, ja auch nicht besser. Ausrede, sonst nichts. Deinen Fehler machst du selber. Deine Schuld lädst du selber auf dich. Das Schimpfwort sprichst du. Die Prügel teilst du aus. Den Beifall für Ungerechtigkeit hast du ge-klatscht. Das andere nicht umkehren, ist deren Sache. Dort, wo es an dir liegt, musst du umkehren. Und du kannst es auch. Und dort, wo es an mir liegt, muss ich umkehren. Und ich kann das hoffentlich auch. Die andere bequeme Ausrede, nicht umzukehren, ist die, das Gott ja sowieso vergibt. Also muss ich auch nichts ändern. Wer so denkt, bleibt in der Schuld und in der Sünde gefangen, weil er die Liebe gar nicht annehmen kann. Weil er immer in seiner Selbstliebe gefangen bleibt und gar nicht sehen will, dass Liebe auch zu neuem Verhalten führt. Die Liebe Gottes macht niemanden zu einem perfekten Menschen. Keinen Pfarrer, keinen Bischof oder Bischöfin, keinen Papst. Aber die Liebe hilft, Schuld zu sehen, einzugestehen und ein neues, von der Liebe gelenktes Verhalten, wenigstens in Angriff zu nehmen. auch wenn es immer wieder Rückschritte geben wird. „Weiter so“ geht in der Liebe nicht. Neuanfang, das ist das Geschenk der Liebe Gottes, der Gnade, des Glaubens, von dem Paulus hier in seinem Brief erzählt.

Ist Gott eigentlich auch für mich da, kann er mit mir et-was anfangen, auch wenn ich nicht gerade perfekt bin und immer wieder an den Ansprüchen von dem, was eigentlich gut und richtig ist, scheitere? Diese Frage beantwortet Paulus in seinem Brief an Timotheus mit „Ja“. Und dieses Ja Gottes lässt Paulus zum Vorbild werden. Nicht, weil er besser wäre als andere, sondern weil er sich seiner Vergangenheit, seiner Schuld stellt und sie nicht verleugnet. Weil er aber aus der Liebe Gottes auch die Kraft zur Umkehr bezieht. Immer wieder neu. Denn auch dort, wo ein Neuanfang gewagt wird, wird es Rückschritte geben. Fehler, Schuld. Paulus stellt sich dem. Und wir? Gebe Gott, dass uns seine Liebe Mut macht, umzukehren, neu anzufangen, einander zum Leben zu helfen.

Amen

Sonntag, 6. Juni 2010

100% Liebe - was will man mehr! - 1. nach Trinitatis, Reihe II, 06.06.2010

Text: 1. Joh 4,16b-21

Liebe Gemeinde!
Sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht… das darf doch nicht wahr sein, das muss ich nochmal probieren. Oder vielleicht ist Blütenblätterzupfen doch von vorgestern. Vielleicht sollte ich „Love – Leerzeichen – Uli - Leerzeichen – Silke“ als SMS an 83333 schicken, kostet ja nur 4,99 im Top-Abo und das muss es mir doch wert sein, genau zu wissen, zu wie viel Prozent meine Liebste und ich zusammenpassen. Oder vielleicht doch ein Horoskop, das mir Sicherheit verschafft? Furcht ist nicht in der Liebe? – Von wegen! Wer liebt, gibt viel von sich preis. Wer liebt, wird verletzlich, öffnet sich. Und deshalb tut enttäuschte, kaputtgegangene Liebe auch mehr weh als vieles andere. Schmerzen hat niemand gern. Und wenn ich mir Sicherheit verschaffen kann, warum sollte ich dann das Risiko, verletzt zu werden eingehen? 4,99 ist da doch nicht zu viel verlangt! Nein, ich will nichts lächerlich machen. Nicht die Sehnsucht junger Menschen nach Sicherheit in der Liebe. Und auch nicht diese Verse aus der Bibel, zu denen dieses alltägliche Spiel mit der Liebe so gar nicht passt. Natürlich erzählen diese Verse aus der Bibel nicht von einer alltäglichen Zweierbeziehung. Oder vielleicht doch? „Love – Leer-zeichen – Gott – Leerzeichen – Uli“ oder Dorothee oder Lisa oder Marcel oder… - wenn der erste Johannesbrief es ernst meint, dann brauchen wir das nicht per SMS an 83333 zu senden und 4,99 auszugeben, dann dürfen wir glauben, hoffen, wissen: da kommen 100% raus, das passt optimal. Aber trotzdem gibt es Momente im Leben, in denen ich mich frage: Liebt Gott mich wirklich? Liebe ich Gott wirklich? Je stärker Liebe wirklich ist, desto stärker spüre ich auch, was ihr eigentlich alles im Weg steht. Je mehr Liebe da ist, desto mehr wird die Lieblosigkeit auch spürbar. Liebe macht nicht blind. Liebe schärft die Sinne für das, was da ist. Verliebt sein macht blind. Verliebt sein, das den anderen besitzen will und das alles ausblendet, was den anderen stören könnte oder am anderen stört. Verliebt sein, dass sich zuerst an einem romantischen Bild vom anderen, von der Beziehung zueinander leiten lässt und das alles ausblendet, was nicht in dieses romantische Bild passt. Wenn aus Verliebt sein Liebe wird, dann öffnet sie die Augen für die Wirklichkeit und hilft, auch das, was nicht ins rosarote Bild passt, zu sehen und damit umzugehen. Verliebt sein lässt mich MEIN Bild vom anderen sehen, Liebe den anderen selbst. Und da ist sie wieder, die Furcht. Die Furcht, die Menschen seit ewigen Zeiten zu allen Möglichkeiten Tricks, sich scheinbare Sicherheit zu verschaffen, greifen lässt. Die Furcht, dass mein Gegenüber mich nicht mehr liebenswert findet, wenn das Verliebt sein aufhört, das Bild verschwindet und die Wahrheit ans Licht kommt. Die Furcht, dass ich die Wahrheit nicht aushalte, wenn mir die Liebe die Augen für den anderen geöffnet hat. Und da bin ich dann wieder in der Bibel, ganz bei der Liebe Gottes.

Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht rechnet mit Strafe. So kann man zuerst und eigentlich tatsächlich nur von der Liebe reden, mit der Gott uns Menschen liebt. Die Liebe, die in Jesus nicht nur sichtbar geworden ist, sondern die von ihm mit Leben gefüllt wurde. In Jesus, in der Art und Weise, wie er Menschen begegnet ist, begegnet Gott selbst. Jesus war nicht nur ein netter Prophet oder ein guter Lehrer. Sondern er ist Gottes Mensch gewordene Liebe. Diese vollkommene Liebe will unsere Furcht vor dem Versagen, vor Strafe vertreiben. Jesus hat gezeigt, dass die Liebe Gottes keine Belohnung für ein immer richtiges Verhalten ist. Jesus ist zu den Menschen gegangen, die alles andere als fromm und liebenswert waren. Zu denen, die als Betrüger, als Prostituierte, als Zweifler schon vieles im Leben falsch gemacht haben. Er hat denen, die von sich wussten, dass so vieles in ihrem Leben nicht gut gelaufen ist, gezeigt, dass sie im wahrsten Sinn des Wortes liebenswert, der Liebe wert sind. Obwohl es ihre eigene Schuld war, obwohl sie ihre Fehler nicht auf andere, auf die Umstände, auf die Gesellschaft abschieben konnten. Es geht nicht um Überheblichkeit, nicht darum, dass die so geliebten nun plötzlich absolut fehlerlos und besser als andere wären. Es geht um die Erkenntnis, dass ich ehrlich sein darf, dass ich mich nicht besser als ich bin machen muss, damit ich geliebt werde. Und hier wird für mich die Liebe Gottes, die Furcht vertreibt, ganz praktisch im Alltag umsetzbar und erfahrbar. Das, was ich am Anfang so lang erzählt habe, die Furcht, enttäuscht zu werden oder auch andere zu enttäuschen, ist ja nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die, dass ich doch auch im Alltag spüren kann: Liebe nimmt mir die Furcht. Auch wenn ich eine Abfuhr riskiere: Wenn ich jemanden wirklich liebe, werde ich ihm das sagen. Und natürlich gibt es keine Garantie, dass eine Ehe, eine Beziehung ein Leben lang hält. Und in jeder Beziehung, Ehe, Partnerschaft und auch und gerade in der Liebe zwischen Eltern und Kindern, wird es Momente geben, in denen man sich gegenseitig richtig weh tut und wirklich auch aneinander schuldig wird. Und sicher gibt es auch manchmal Beziehungen, in denen wirklich Liebe da war, die an ein Ende kommen. Das weiß ich und sehe ich. Aber Liebe macht Mut, sich nicht von der Furcht, dass etwas kaputtgeht, sondern von der Hoffnung, dass Umkehr und Neuanfang möglich sind, leiten zu lassen. Sonst wäre, glaube ich, keine Ehe mehr da, die nicht geschieden wäre. Sonst würden, glaube ich, alle Kinder ihre Eltern verlassen oder umgekehrt alle Eltern ihre Kinder auf die Straße setzen. Die Liebe, die sich aus der Liebe Gottes stark machen lassen kann, macht uns nicht blind, sondern lässt uns in der Wirklichkeit, mit der Wirklichkeit leben und sie lässt aus der Wirklichkeit Gutes entstehen. Sicherheit gibt es nicht. Es kann schief gehen. Aber auch dann, wenn es schief geht, bleibt uns die Liebe, mit der Gott uns neu zum Leben anstiften will. Für mich verliert so auch der Satz „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ seinen Schrecken. Wenn ich ihn so verstehen müsste, dass Gott mich nicht mehr liebt, sobald ich etwas nicht Liebenswertes tue, dann müsste ich durchdrehen, dann wäre ich schon lange wirklich Gott fern. In der Liebe bleiben heißt auch und gerade bei Gott: der Beziehung immer wieder eine neue Chance geben. Sich dem Leben stellen und mit dem Leben und am Leben wachsen. Gott ist nicht der tote, starre Gott, der ein für allemal unveränderlich bleibt. Er offenbart sich Mose mit den Worten: „Ich werde der sein, der ich sein werde“ – das heißt: ich bin der Lebendige. Du kannst mich nicht wie ein Bild festhalten, ich bin lebendig. in der Liebe bleiben heißt: eine Beziehung nicht in Gesetzen und Regeln und Bildern erstarren zu lassen, sondern dem Leben mit seinen Veränderungen eine Chance zu geben. Und von da aus wird deutlich, was hier in diesem Brief ganz wichtig ist. die Liebe, mit der Gott Menschen liebt, ist mehr als eine bloße Zweierkiste. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht? Für mich ein Schlüsselsatz. Dort, wo ich Menschen Leben möglich mache, dort liebe ich Gott. Liebe heißt, den anderen wirklich Mensch sein lassen. Das kann ich auf verschiedene Art. Und das ändert sich auch. Weil Liebe eben im Leben spielt und nicht zwischen Buchdeckeln oder auf Bildern oder in filmen. Liebe muss nicht, kann aber mit Bauchkribbeln und Schmetterlingen verbunden sein. Den anderen Mensch sein lassen, das kann heißen, ihm zu zeigen, wie besonders er für mich ist und wie sehr ich ein Leben mit ihm schätze. Das kann aber auch heißen, dem anderen einen gerechten Lohn für seine Arbeit zu bezahlen und ihn nicht auszubeuten. Den Bedürftigen nicht im Elend zu lassen. Oder dem schwierigen Jugendlichen zu helfen, Auswege und einen Platz im Leben zu finden. Liebe kann auch heißen, den anderen nicht mit Schimpfwörtern klein zu machen. Liebe heißt: den anderen Mensch sein lassen. Dazu braucht es kein Kribbeln im Bauch. Es braucht die offenen Augen, das offene Herz, die Bereitschaft, sich auch enttäuschen zu lassen. Wer Sicherheit sucht, wird die Liebe verlieren. Wer loslassen kann, wird sie finden und gewinnen. Gottes Liebe ist deshalb so groß, weil Gott losgelassen hat. Das Bild vom perfekten Menschen, der alle Gebote und Regeln halten und erfüllen muss, um zu ihm kommen zu dürfen. Gott hat sich dem Menschen, dem Leben ganz zugewendet. Im Menschen Jesus Christus. Und weil das so ist, dürfen wir uns auch von unseren Bildern verabschieden. Und lieben. Und leben.

Amen