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Freitag, 13. Juni 2008

Ist Christsein unmenschlich? 4. Sonntag n. Trinitatis, Reihe VI

Text: Römer 12,17-21

Liebe Gemeinde!
Ein Mann verlässt seine Familie. Die Frau muss sehen, wie sie die zwei Kinder durchbringt, Unterhalt kommt nur selten an. Frau und Kinder waren dem Mann zu anstrengend, er hat sich eine jüngere Freundin gesucht. Die Geburtstage der Kinder vergisst er meistens. Und wenn er mal anruft, ist er meist besoffen und beschimpft die Exfrau und die Kinder. Die Kinder gehen ihren Weg, kriegen einen Job, verdienen Geld. Der Mann hat einen Unfall. Im Suff. Er wird zum Pflegefall, die Freundin verlässt ihn, Hintern abwischen, das ist nicht ihr Ding. Der Pflegedienst findet die Telefonnummer der Kinder, ruft an: „Ihr Vater braucht dringend Hilfe. Und außerdem reicht das Geld nicht. Als Verwandte ersten Grades sind sie zur Hilfe verpflichtet.“ Wie weiter? „Der Alte hat sich nie um uns gekümmert, lassen sie uns in Ruhe, soll er doch verrecken! Wenn wir was zahlen, dann nur über das Gericht!“ Oder: „Wir kommen, schauen es uns an und wenn’s nötig wird, helfen wir.“ Was ist menschlich? Was ist christlich?

Zwei Schüler, 8. Klasse. Der eine mobbt und prügelt den anderen. Der, der gemobbt wird, verliert die Lust an der Schule. Irgendwie schafft er doch seinen Abschluss, kriegt eine Lehrstelle. Und in der neuen Umgebung blüht er auf, wird nach einer Zeit mitverantwortlich für die Auswahl der Bewerber um Hilfsarbeiten. Der andere rutscht ab, schlägt sich irgendwie mit Diebstählen durch. Er ist oft vor Gericht, der Richter gibt ihm noch eine Chance: „Wenn sie eine feste Arbeit finden, kriegen sie Bewährung, sonst geht’s in den Knast.“ Er hat zig Absagen. Seine letzte Chance ist die Firma, in der ausgerechnet sein altes Opfer über die Einstellung von Hilfsarbeitern entscheidet. Pech gehabt? Oder kriegt er die Chance? Was ist menschlich? Was ist christlich?

Klar, menschlich sehr verständlich ist es, den Vater links liegen zu lassen und dem Mobber den Job nicht zu geben. Aber ist das auch christlich? Der Römerbrief, und nicht nur er, legt ja nahe, dass ein christliches Verhalten anders aussieht. „Wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen, wenn ihn dürstet, gib ihm zu trinken“ - erhalte die Lebensmöglichkeiten deines Feindes! Und „Rächt euch nicht selbst, überlasst das Gott“. Paulus beruft sich dabei erstmal gar nicht auf Jesus, sondern macht durch Zitate aus dem Alten Testament deutlich, dass es auch vor Jesus nicht nur nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zuging. Unmöglich, so zu reagieren? Die menschliche Sehnsucht nach scheinbar gerechter Vergeltung und Rache ist da. Auch bei mir. Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich Menschen, die mir übel mitgespielt haben, mit einer solchen Größe begegne. Ist Christsein also unmenschlich? Wird da was von uns Menschen verlangt, was wir gar nicht leisten können?

Man könnte diesen Eindruck manchmal haben. Vor allem dann, wenn man das, was Paulus hier und an anderen Stellen schreibt, und das, was Jesus an vielen Stellen in den Evangelien über den menschlichen Umgang miteinander sagt, als Katalog nimmt, den man abarbeiten muss, um ein guter Mensch und ein guter Christ zu sein. Wir können einen solchen Katalog an guten Taten gar nicht abarbeiten. Ganz schnell werden wir merken: heute hatte ich aber doch schlechte Gedanken über jemanden, der mir übel mitgespielt hat. Heute habe ich aber doch jemanden geärgert oder hab irgendwo, wo ich hätte helfen können, nicht geholfen. Heute habe ich geschwindelt oder gar gelogen. Wir werden scheitern, wenn wir Glauben und Christsein als eine Art Abarbeiten von Forderungen verstehen, bei der am Ende geprüft wird, wie viel richtiges und wie viel falsches Verhalten da war. Das Gute am christlichen Glauben ist, dass er keinen Druck aufbauen will und das Leben als Testfall sieht, den man bestehen muss oder eben nicht, sondern dass er Druck aus dem Leben nehmen will und das Leben als Ernstfall sieht, in dem man auch die Erfahrung von Scheitern macht und wissen darf, dass auch das Scheitern nicht dazu führen muss, aus dem Bereich des Guten hinauszufallen. In Jesus Christus hat Gott deutlich gemacht, dass Vergebung, Neuanfang, Umkehr von falschen, lebensfeindlichen Wegen seine Geschenke an uns sind.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ Das ist für mich der wichtigste Satz aus unserem Predigttext und auch ein wirklich wichtiger Satz über die Stärke und die Möglichkeiten, die der Glauben an Jesus Christus eröffnet.

Lass dich nicht vom Bösen überwinden - es gibt das Böse. Nicht als Teufel in Person, der mit Gott um die Seelen der Menschen kämpft und als Gegenspieler Gottes Macht über uns hätte. Aber als menschliche Wahrheit, als Energie und Antrieb, die sich immer wieder in einzelnen bösen Taten zeigt. Wie schlimm und folgenreich für andere die bösen Taten im Einzelnen sind, das kann sehr unterschiedlich sein. Das Böse ist gar nicht zuallererst der Mord oder solche Beispiele wie zu Beginn der Predigt. Das Böse kann manchmal sehr banal sein. Für mich beginnt das Böse da, wo ich in einem Spiel bewusst schummle. „Sollen sich die anderen doch an die Regeln halten, wenn’s keiner merkt und ich davon einen Vorteil habe, ist es doch gut!“ Das schadet dem andern ja nicht wirklich, aber auch da zeigt sich eben, dass ich den anderen nicht ernst und nicht wichtig nehme, dass ich nur mich und meinen Vorteil im Auge habe. Das Böse zu tun, das ist oft der leichtere Weg. Es ist anstrengender, fair zu spielen und notfalls eben auch den anderen gewinnen zu lassen. Es ist anstrengend, nicht mitzumachen, wenn über andere gelästert wird und man am Ende noch in Verdacht gerät, den, über den gelästert wird, nett zu finden. Es ist anstrengend, die Augen und den Mund auf zu machen, wenn Menschen gewalttätig werden. Augen zu, Ohren zu, Klappe halten - notfalls mitmachen, mitbetrügen, den eigenen Vorteil um fast jeden Preis suchen - das ist viel leichter. Es kostet Kraft, eben weil es nicht als der Normalfall angesehen wird. Du bist doch blöd, dass du bei der Steuererklärung ehrlich bist, dass du in der Pizzeria sagst, wenn dir ein Getränk nicht berechnet wurde, wenn … - Kleinigkeiten, sicher. Aber das Böse beginnt da, wo nur ich selbst und mein Vorteil im Mittelpunkt steht - und wo der Mitmensch und Gott dadurch verloren werden.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ Es geht darum, sich nicht vor dem Bösen wegzuducken, sich vom Bösen überrollen zu lassen, sondern sich in den Weg zu stellen, aufzustehen gegen die Macht des Bösen. Aufstehen kostet mehr Kraft als Sitzenbleiben. Und, wie schon gesagt, keiner von uns ist immer nur gut. Paulus ist Realist. Er glaubt nicht, dass wir von allein genug Kraft hätten, immer nur gut zu sein. Das wird schon da deutlich, wo er schreibt: „Ist’s möglich, haltet mit allen Frieden, jedenfalls soweit es an euch selber liegt.“ Es geht nicht um den Frieden und das Stillhalten um jeden Preis. Und es ist auch im Blick, dass selbst beim besten Willen die eigenen Kräfte, gut zu sein und Frieden zu halten, schnell zu Ende gehen. Wir können nur deshalb gut sein und dem Bösen widerstehen, weil wir am Guten Selbst, an Gott, an Jesus Anteil haben. In Jesus hat Gott den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von Rache durchbrochen. Er hat auf jede Rache verzichtet und sich auch denen zugewendet, die schuldig sind und es nicht verdient haben. Und so wird es möglich, umzukehren. Wenn ich immer noch eins draufsetzen muss, wenn ich jede Beleidigung mit einer Gegenbeleidigung beantworte - wann soll dann Frieden einkehren? Gott geht in Jesus den anderen Weg. Und er nimmt uns, sichtbar durch die Taufe, mit hinein in diese Kraft des Guten. Nicht so, dass Getaufte plötzlich die perfekten Menschen wären. Ob jemand sich anständig verhält oder nicht, ist keine Frage des Getauftseins. Aber die Taufe macht greifbar, dass man zum Bereich des Guten gehört. Dass Gott auch bei mir auf Vergeltung und Rache verzichtet und dass ich auch dann umkehren kann, wenn ich alles andere als gottgefällig lebe. Die Taufe verliere ich nicht. Die Verbindung zu Jesus, zum Guten bleibt. Niemand weiß, was im Lauf eines Lebens passiert. Karina, die wir heute getauft haben, wird vielleicht auch in ihrem Leben Zeiten erleben, in denen Das Böse mächtig ist und sie fast überrollt. Aber trotzdem behält sie ihren Teil am Guten, der ihr die Kraft geben will, aufzustehen und das Böse zu überwinden. Du musst dich nicht überrollen lassen, du kannst aufstehen. Jederzeit. Du, Karina, du Anna, du, Michelle, du, Jaqueline, du, Johann, Herr Dorn, Frau Surkau, Frau Zimmermann, Ulrich Kling-Böhm. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem - du kannst das, weil du zu mir, zu Gott, gehörst. Ich wünsche uns allen, dass wir erleben, wie stark wir sind. Nicht dadurch, dass wir andere klein machen. Sondern dadurch, dass wir mit Gottes Hilfe anderen helfen zu entdecken, dass Stärke gerade darin liegt, dem anderen Menschen zu helfen, Lebensmöglichkeiten zu entdecken. So, wie Gott uns in Jesus Leben dadurch geschenkt hat, dass er auf Gewalt, auf Rache verzichtet hat und so uns alle, die wir nicht nur gut sind, zum Leben befreit hat.

Amen.

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