Reihe VI,Text: Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32
Liebe Gemeinde!
Kommt Adolf Hitler in den Himmel? Oder Josef Stalin? Die größten Massenmörder des letzten Jahrhunderts - beide waren getauft. Sie haben in ihrem Leben und durch ihre Taten Gott verhöhnt. Juden, entschiedene Christen, Menschen mit anderer politischer Einstellung, Menschen mit anderer nationaler Zugehörigkeit, Kranke - sie wurden auf deren Befehl und mit deren Zustimmung millionenfach umgebracht. Unsagbares Leid kam über Millionen von Menschen. Die ganze Welt wurde in Brand gesetzt. Solche Verbrecher verdienen nichts als ewige Verdammnis. Für immer sollen sie in der Hölle schmoren. Das ist wenigstens ein bisschen gerecht gegenüber dem unsagbaren Leid, das sie verantwortet haben. Auch wenn das natürlich nicht wieder gutgemacht werden kann.
Und was wäre, wenn sie im letzten Moment ihres Lebens das Schreckliche und Böse, das sie getan haben, eingesehen hätten? Wenn sie aus vollem Herzen Gott um Vergebung gebeten hätten? Gilt auch für sie, was der Prophet Ezechiel hier in Gottes Namen sagt: „Wenn der Gottlose sich bekehrt von allen seinen Sünden, so soll er am Leben bleiben. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tod der Gottlosen, sprich Gott, der Herr, und nicht vielmehr, dass er umkehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“ Und wenn Albert Schweitzer, der für die Menschen in Afrika so viel Gutes getan hat, der sich für Arme, für Kranke mit seinem ganzen Leben eingesetzt hat, wenn dieser Mann, der seine Kraft auch aus seinem Glauben gezogen hat, angesichts des Todes an Gott verzweifelt wäre und mit Gott gebrochen hätte und gesagt hätte: „Gott, du lässt es immer noch zu, dass Millionen Menschen unschuldig sterben, an Krankheiten, die vermeidbar sind und an Hunger, mit dir will ich nichts mehr zu tun haben!“ -Würde für ihn dann auch gelten, was Ezechiel sagt: „Wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit, sollte der leben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung, die er getan hat, soll er sterben.“ Sollte Albert Schweitzer in der Hölle schmoren, während Hitler und Stalin im Himmel frohlocken? Mein Verstand und mein Herz sagen mir, dass das nicht sein kann und sein darf. Und dass es auch nicht so ist oder sein wird. Das wäre ungerecht!
Natürlich kann man das Beispiel übertreiben finden. Aber manchmal wird erst durch scheinbare Übertreibungen sichtbar, was alles an Konsequenzen mit gemeint sein kann, wenn man große Begriffe wie „Gerechtigkeit“ benutzt und sie mit Gott in Verbindung bringt. Wir glauben, wir wüssten, was gerecht ist - aber am Ende stehen wir immer wieder vor unseren Grenzen. So geht es mir auch mit den Worten des Propheten Ezechiel, die für heute als Predigttext vorgesehen sind. „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern werden die Zähne stumpf!“ Dieses Sprichwort gab es in der Zeit des Propheten unter den Menschen im Volk Israel. Kinder leiden unter den Fehlern der Eltern. Und das ist ungerecht! Bis heute ist das ja ein aktuelles Thema. Ich möchte gern wissen, was die Generation der Menschen, die wir jetzt als kleine Kinder taufen, mal über den hemmungslosen Rohstoffverbrauch meiner Generation sagen wird. Meiner Generation ist vieles in den Schoß gefallen. Unsere Eltern und Großeltern sind mit dem Krieg und seinen schrecklichen Folgen groß geworden. Sie haben das Fundament für die Möglichkeiten und den Wohlstand gelegt, von dem wir profitieren. Die meisten von uns, die wir jetzt so zwischen 40 und 50 sind mussten viel weniger hart arbeiten als die Generation vor uns. Ist es gerecht, dass wir vor allem die Segnungen genossen haben und genießen?
Es ist nicht im Sinn der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wenn Kinder für die Schuld ihrer Eltern büßen müssen - und umgekehrt natürlich auch. Schuld vor Gott ist etwas, was einzeln angesehen wird. Und ob jemand vor Gott gerecht oder schuldig ist, dass entscheidet sich am Einzelnen selbst, nicht an seiner Familie, nicht an seinem Volk. So macht es der Prophet Ezechiel deutlich. Ein eigentlich ganz modernes Verständnis von Schuld und Gerechtigkeit. Etwas, was unserem Streben nach Selbstverantwortung, nach Freiheit des Einzelnen entspricht. Gott ist gerecht, wenn er jeden für sich ansieht und beurteilt, ich glaube diesen Satz würden wir sofort unterschreiben. Und doch widerspricht schon dieser Satz unserem Alltagsverhalten und unserer Alltagserfahrung. Erstens möchten wir dann, wenn wir irgendwo schuldig geworden sind, doch ganz gern die Umstände berücksichtigt wissen. Da haben die Eltern in der Erziehung was falsch gemacht, da hat man sich auf falsche Freunde verlassen, falschen Experten vertraut, da waren es die Triebe, das Wetter, das politische System…- ganz egal. Vor Gericht werden solche Umstände nicht ausgeblendet, besonders nicht im Jugendstrafrecht. Schuld ist man ja nie allein. Vielleicht ein bisschen. Aber die anderen haben doch…! Aber die Umstände waren doch…! Es ist doch ungerecht, wenn ich büßen muss! Ich bin zwar schuld, aber…!
So gerecht sich das anhört, wenn jede Schuld individuell, persönlich betrachtet wird - es ist sehr unbequem, die Konsequenzen zu tragen. Weil plötzlich alles, worauf man etwas schieben könnte, weg gebrochen ist.
Zweitens erleben wir es ja sehr wohl, dass die Herkunft, die Familie, die Volksgruppe eine Rolle spielt und Schuld nicht nur persönlich betrachtet, sondern vererbt wird. Der Vater sitzt im Knast - da muss man bei der Familie doch vorsichtig sein! Muslime, die haben doch ein Familienbild, das in unsere Welt nicht passt, sind doch selber Schuld, wenn sie nicht Lehrerin werden können, sollen sie halt das Kopftuch abnehmen! Ob aus einem Arbeiterkind ein guter Gelehrter wird - da muss man mal abwarten! Wir verhaften Menschen sehr wohl bei ihrer Herkunft. Und wir werden als Kirche oder als Deutsche sehr wohl bei unserer Herkunft verhaftet. Da treten Leute aus der evangelischen Kirche aus, weil sie mit dem Papst unzufrieden sind, da müssen die Kreuzzüge vor knapp 1000 Jahren bis heute für Christenhass herhalten. Und auch als Deutscher des Geburtsjahrgangs 1965, dessen Eltern zu jung sind, um in irgendeiner Form bei Jungvolk oder HJ mitgemacht zu haben, wird man manchmal damit konfrontiert, dass man nicht so einfach aus der Verantwortung für den 2. Weltkrieg und die Judenvernichtung entlassen wird. Ist das gerecht? Nein, ist es nicht. Zumindest meiner Meinung nach nicht. Mir zeigt es, gerade im Blick auf die Worte Ezechiels, dass wir Menschen einander nie wirklich gerecht werden können. Nach Gerechtigkeit streben, das können und sollen wir. Aber wirklich gerecht sein? Vielleicht ist das wirklich eine Eigenschaft, die allein Gott zukommt.
Und wie ist das denn mit unserer Schuld? So schön und gerecht es ist, wenn Gott uns nicht für fremde Fehler, für die Fehler unserer Eltern und Großeltern, unserer Kinder oder der Menschen mit der gleichen Religion oder aus dem gleichen Volk verantwortlich macht - das stellt uns nur noch härter vor unsere eigene Schuld und Ungerechtigkeit. Weil wir ja nichts mehr abschieben können. Gibt es, außer leugnen oder verdrängen, noch eine andere Aussicht, die uns das aushalten und leben lässt?
Ja, ich finde, dass in den prophetischen Worten eine gute Aussicht steckt. „Kehrt um, so werdet ihr leben!“ Schon hier, lange vor Jesus, wird dem Aufrechnen von Schuld und guten Taten der Garaus gemacht. Wir sind verantwortlich für das, was wir tun und lassen. Jeder für sich. Aber für eine Umkehr von falschen Wegen gibt es kein „zu spät“. Das macht Ezechiel hier in Gottes Namen klar. Gott ist kein Bilanzbuchhalter, der Gutes und Schlechtes gegeneinander aufrechnet, und dann, wenn mehr Gutes übrig bleibt, Menschen zum ewigen Leben vorsieht und wenn mehr Schlechtes da ist, Menschen die ewige Verdammnis androht. Ist das gerecht? Nein, aber es ist zu meinen Gunsten! Ich muss nicht ständig Buch führen, nach Bösem in meinem Leben fahnden und versuchen, das auszugleichen. Es lässt sich nicht ausgleichen. Auch noch so viele gute Taten können eine böse Tat nicht ungeschehen machen. Aber ich darf umkehren. So lange ich lebe. Für mich persönlich ein Segen - aber ärgerlich, wenn ich an Hitler oder Stalin denke. Aber ich kann auch solchen teuflischen Gestalten nicht die Möglichkeit, umzukehren absprechen. Ob sie sie genutzt haben? Das weiß nur Gott!
Vielleicht kann man hier auch noch mal deutlich sehen, dass es ein Unterschied ist, ob Gott den Menschen vergibt oder ob ich einem Menschen, der an mir schuldig geworden ist, vergeben kann. Es geht hier gar nicht drum, dass ich alles und jedem vergeben muss. Ich kann verstehen, wenn Eltern dem Mörder ihrer Kinder, wenn Juden Nazis, wenn Vertreibungsopfer Stalin nicht vergeben können. Aber ich kann Gott nicht meinen Willen aufzwingen und ich, verordnen, diesen Menschen die Tür zur Umkehr zuzuschlagen. Ich bin nicht Gott - das ist ein Segen, wenn ich auf Vergebung für mich hoffen darf, auch wenn ich mich schwer damit tue, zu vergeben. Das darf nicht zur billigen Entschuldigung werden, in der Art: „Ich muss ja nie vergeben, aber mir wird vergeben!“ Es ist nur eine Einladung, die eigenen Grenzen nicht zu Gottes Grenzen zu machen. Umkehr zum Leben, Gerechtigkeit, die nicht aufrechnet, sondern die in der Hinwendung zum Leben besteht - für uns steht hier nicht nur Ezechiel, sondern Jesus Christus ein. Gottes Sohn, der uns immer wieder neue Chancen, neue Wege öffnet. Amen.
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