1.
Samuel 2, 20:
Saul
sprach zu David: Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn mit
Frieden seinen Weg gehen? Der HERR vergelte dir Gutes für das, was du heute an
mir getan hast!
Liebe
Gemeinde!
Zwei
Männer sind, im wahrsten Sinn des Wortes, zu Todfeinden geworden. Der eine,
formal noch der Herrscher und Inhaber der Macht, klammert sich mit aller Gewalt
an das, was er nicht mehr halten kann. Und wie das so ist. Je mehr seine Macht
in Frage gestellt wird, desto härter und brutaler reagiert er. Seinen
Herausforderer will er töten. Der andere, jung, aufstrebend, zunächst noch
Freund des Machthabers, hat die Zeichen der Zeit erkannt, wird, darauf deutet
alles hin, die Macht bekommen. Er steht in der Gefahr, getötet zu werden. Er
stellt eine große Bedrohung für den Machthaber dar, der sich an das, was er
hat, klammert. Und dann ergibt sich die Möglichkeit, den alten Machthaber
loszuwerden. Er, der junge, aufstrebende hat es in der Hand, seinen Todfeind
ein für allemal zu beseitigen. Und was macht er? Er lässt ihm das Leben. Er
nutzt seine Macht nicht aus, er sinnt nicht auf Rache, er erweist sich gnädig.
So ist es, nicht in der Ukraine in diesen Tagen, nicht in Südafrika zu Zeiten,
als die Apartheid zu Ende ging, sondern im Alten Israel lange, lange vor
unserer Zeit. Saul und David machen sich das Leben zur Hölle mit ihren Macht-
und Verteidigungsansprüchen. Und David bricht, zumindest für einen Moment, aus
der Spirale der Gewalt aus. Und in dieser Situation lesen wir eben den Satz in
der Bibel, den ich eben vorgelesen habe. Vielleicht kann die Generation meiner
Großväter, die den zweiten Weltkrieg als Soldaten miterlebt haben, so ein wenig
ermessen, was diese Entscheidung von David bedeutet. Dem Feind, der einem
selbst ans Leben will, das Leben zu schenken. Wahrscheinlich können Menschen in
viel zu vielen Ländern der Erde, in denen Menschen wegen ihrer Religion oder
ihrer Volkszugehörigkeit um ihr Leben fürchten müssen, oder Menschen in Ländern,
in denen sich Mächtige mit Gewalt an ihre Macht klammern, wie Syrien oder der
Ukraine, ein wenig ermessen, was das bedeutet, dem Feind, der das eigene Leben
bedroht, Leben zu schenken, auch wenn man die Macht hat, es auszulöschen. Für
die aller, allermeisten, die heute hier mitfeiern, ist das aber wohl, Gott sei
Dank, keine Frage auf Leben und Tod.
Aber
trotzdem ist es eine wichtige Frage: Wie gehe ich mit der Macht um, die mir
über andere gegeben ist? Macht ist erst einmal nichts Böses. Viel zu oft wird
Macht mit Gewalt gleichgesetzt. Oder Machtmissbrauch wird gleich mitgedacht
oder mit vermutet. Dabei ist Macht eigentlich erst einmal eine Grundgegebenheit
unseres Menschseins. Mit einem Lächeln, einem freundlichen Wort hat jeder von
uns tatsächlich die Macht, das Leben eines anderen, der ihm begegnet, erst
einmal, und sei es nur für wenige Minuten, schöner, lebenswerter zu gestalten. Was
sich so banal anhört, auch im Umkehrschluss, dass wir mit mieser Laune oder einer
schnell mal nebenbei rausgerutschten Beleidigung die Macht haben, einen anderen
niederzudrücken, hat für mich viel tiefere Schichten.
Vor
gut einer Woche habe ich Folgendes erlebt, dass nur auf den ersten Blick nichts
mit Saul und David und Feindesliebe und Macht zu tun hat, auf den zweiten Blick
aber ganz viel zeigen kann: Da sind zwei Frauen beim Mittagessen in der
Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose. Beide häufig da. Die eine schüchtern,
zurückhaltend, schon älter, hat lange gebraucht, bis sie ihre
Hilfsbedürftigkeit zugeben konnte, sich öffnen konnte. Die andere, eher raumfordernd,
laut, ebenfalls mit vielen Problemen und einer schwierigen Lebensgeschichte,
lässt durch offene und verdeckt verteilte Spitzen immer wieder deutlich werden,
dass in ihren Augen die ältere Dame da nichts verloren hat und wenn sie schon
da ist, sie gefälligst den Mund halten und sich anpassen soll. Was ist hier
richtig, was ist hier diakonisches Handeln? Mitleid zu haben mit den Frauen und
ihrer schweren Lebensgeschichte, zu beschwichtigen, zu sagen: „Ach, das muss
man ja verstehen, die können ja auch nichts dafür, die wurden ja auch vom leben
oder von anderen schlecht behandelt?“ Ich bin dankbar, dass die Mitarbeitenden
in der Tagesaufenthaltsstätte sich nicht von dieser Form von Mitleid leiten lassen.
Sie arbeiten mit ihrer Macht, die sei haben, durch ihre Ausbildung, ihre
Kompetenz, auch ihre relative materielle Sicherheit. Sie verstecken ihre Macht
nicht. Und sie arbeiten mit der lauten, stichelnden Frau. Sie machen sich mit
ihr auf den Weg, damit sie lernen kann, anderen Raum zu geben, anderen das
Leben zu gönnen und leichter zu machen, weil sie selbst erfahren kann, dass sie
ernstgenommen wird und Raum hat. Sie helfen ihr, ihre Macht zu entdecken und
bewusst und verantwortungsvoll damit umzugehen. Ein mühsamer, langer Weg mit
manchen Rückschlägen. Aber ein richtiger Weg. Diakonisches Handeln ist für mich
auch ein Handeln, das Menschen hilft, die ihnen eigene, von Gott gegebene Würde
und Macht zu entdecken, wahrzunehmen, verantwortungsvoll damit umzugehen. Wie
gehen Menschen miteinander um? Das ist für mich eine ganz zentrale Frage. Für
mich ist das, was in der Geschichte von Saul und David als Gottes Wille deutlich
wird und was sich dann in den Worten Jesu: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen,
die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch
beleidigen.“ zeigt, keine fromme pazifistische Überforderung. Für mich heißt
das ganz einfach: Leben fördern und nicht Leben nehmen ist GottesWille für den
Umgang von Menschen untereinander. Frieden, sozialer Frieden genauso wie
Frieden als gewaltfreies Miteinander, hat am ehesten dort eine Chance, wo
Menschen nicht um ihr Lebensrecht kämpfen müssen, sondern wo sie sich
angenommen und aufgehoben wissen – in aller Unterschiedlichkeit. Auch in der
Unterschiedlichkeit der Gaben und Möglichkeiten. Keiner muss alles könne und
alles haben. Dem andere helfen, die Verantwortung und Macht, die er hat, zu entdecken
und wahrzunehmen, das ist Diakonie – es geht eben nicht darum, anderen
Verantwortung abzunehmen, auch wenn das manchmal der einfachere Weg zu sein
scheint. Gott schenkt uns Menschen Verantwortung, füreinander, für das Leben.
Diakonisches Handeln, eben nicht nur von Profis in Institutionen, Vereinen,
Verbänden, sondern von jedem, der sich in der Nachfolge Jesu weiß, in Gemeinden
und überall, heißt auch dazwischen zu gehen, wo dies schwer oder unmöglich
gemacht wird. Und insofern gehört zu diesem diakonischen Umgang miteinander
auch so etwas wie das Bewusstsein, die eigene Macht immer auch zu begrenzen und
den Anspruch zu haben, sich überflüssig zu machen. Loslassen können, den
anderen ein eigener Mensch sein lassen zu können – auch das ist ein Handeln im
sinne Gottes, im Auftrag Jesu. Es geht in der Liebe, von der Jesus spricht,
nicht um das große Gefühl, sondern darum, im anderen das Du mit eigenem Wert
und eigenem Weg und eigenem Recht zu sehen. Menschen zu helfen, sich
gegenseitig auf Augenhöhe zu begegnen – ich glaube, dass das ein
wesentlicher Auftrag ist, wenn wir unser
Tun und Lassen in der Verantwortung vor Gott geschehen lassen. Und für mich
liegt ein Anfang auch da, wo wir voneinander reden. Nicht erst da, wo wir mit
der Waffe in der Hand anderen Leben nehmen oder Leben lassen können. Wie reden wir voneinander? In den letzten
Wochen bin ich, manchmal auch mit leicht spöttischem Unterton, öfter mal las
„Chef“ angeredet worden. Gewöhnungsbedürftig. Aber tatsächlich bin ich auch
der, der Verantwortung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, der im Rahmen
des rechtlich Möglichen Entscheidungen treffen kann, die andere ausführen.
Macht wird dann schwierig, wenn sie verschleiert wird. Offenheit und
Transparenz gehören dazu. Und da bin ich eher Chef als Freund. Und wie reden
wir von den Menschen, die uns begegnen, die uns und unsere Angebote
beanspruchen? Kunden? Klienten? Mandanten? Wenn wir nicht aus dem Blick
verlieren, dass es sich in allem, was wir tun, um ein Miteinander von Menschen
handelt, die sich um Gottes Willen auf Augenhöhe begegnen, dann ist es
vielleicht sogar manchmal gut, distanzierter zu reden, weil Menschen auch das
Recht haben, weniger von uns zu wollen, als wir ihnen zu geben bereit sind.
Einfach nur einen Rat und nicht unsere ganze Liebe. Die bekommen sie
hoffentlich dann woanders, die bekommen sie sicher von Gott. Es reicht,
einander das Leben zu gönnen, zum Leben zu helfen. Keiner von uns ist
allmächtig. Auch nicht in Bezug auf seine Liebesfähigkeit. Wir sind
erlösungsbedürftig. Wir dürfen uns und die, die uns anvertraut sind, Gott und
seiner Liebe anvertrauen. Unsere Macht ist begrenzt. Aber sie ist da. Und damit
auch unsere Verantwortung. Füreinander. Gott sei Dank.
Amen
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