Liebe
Gemeinde!
Moment,
darf ich mal? Ich hab nicht so viel! Schon weit vor der Kasse ruft die Frau das
durch den Laden. Und bevor überhaupt jemand antworten kann, hat sie sich an der
Kasse schon vorgedrängelt. Ich hab’s echt eilig, mein Bus geht gleich!
Lautstark macht sie sich bemerkbar, schon wieder einen Platz weiter vorn
ergattert. Und dann steht das schüchterne Mädchen an der Kasse, in der Hand nur
eine Dose Cola und einen Beutel Gummibären, sie ist still, hat gerade schon den
alten Herrn mit den Krücken vorgelassen. Und eh sie sich’s versieht ist die
laute Dränglerin, die auf dem Recht, ihren Bus zu kriegen, besteht, auch noch
vor ihr. Mit fast vollem Korb. Mist, denkt das Mädchen. Jetzt komme ich nach
der Pause doch zu spät in die Schule und krieg schon wieder Ärger mit Frau
Schulze. Aber sie sagt nichts. Die Lauten kommen voran, die Drängler, die keine
Rücksicht auf Verlust nehmen. Wer leise ist, zurücksteckt, vielleicht auch
tatsächlich noch für andere, die kaum noch stehen können, Platz macht, wer
Menschen in Not hilft und nicht vorbeigeht, wenn’s einem selber nichts bringt,
der kommt nicht vorwärts. Der bleibt hintendran, nicht nur an der
Supermarktkasse. Der wird geknechtet, der bleibt Knecht. So ist das Bild, so
wird’s immer wieder erzählt und deshalb scheint es immer zu einem gängigen
Lebensmuster zu werden, dass sich jeder das, von dem er glaubt, dass es ihm
oder hr zustehen müsste, nimmt. Ohne Rücksicht auf Verluste eben. Soll doch jeder
selber für sich sorgen. Und wenn dabei einer, der sowieso schon leidet,
untergeht – selber Schuld. Ich zuerst – an der Supermarktkasse genauso wie im
Umgang zum Beispiel mit Flüchtlingen aus Syrien. Millionen sind auf der Flucht.
Der arme Libanon hat über 1 Million Flüchtlinge aufgenommen. Und das reiche
Deutschland lässt sich dafür feiern, dass es maximal 10.00 Menschen aufnehmen
will. Ich zuerst – auch im Umgang mit Menschen, die noch gar nicht da sind. Mit
Rumänen und Bulgaren, denen erst einmal pauschal unterstellt wird, nur auf
deutsche Sozialleistungen aus zu sein. Ich bin kein Romantiker, der glaubt, das
deutsche Sozialsystem sei unendlich belastbar oder der glaubt, dass das
Miteinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen mit sehr unterschiedlichen
Bildungsvoraussetzungen spannungsfrei möglich ist, wenn alle sich nur Mühe
geben. Nein. Es gibt Probleme, es wird welche geben und Menschen sollen
tatsächlich auch Verantwortung für sich und ihr Leben übernehmen und das, was
sie können, auch selbst in die Hand nehmen. Aber das ist immer unterschiedlich
viel und es geschieht mit ganz unterschiedlichen Begabungen oder
Voraussetzungen. Ich bin kein Romantiker, ich bin Christ. Und als Christ höre
ich auch das, was ein Prophet, dem der Name Jesaja gegeben wurde, als Gottes
Wort weitergibt.
Von
Gottes Knecht ist da die Rede, von dem, der von Gott gehalten wird , der Gottes
Geist hat, der auserwählt ist und der das Recht zu den Völkern bringt, gerade
auch zu den Menschen, die Gott gar nicht kennen. Knecht – das hört sich im
Deutschen so abschätzig an. Knecht – das ist einer mit wenig oder keinen
Rechten, einer der ganz
und gar abhängig ist. Aber in der Originalsprache des
Propheten, im hebräischen, da ist das ein wenig anders. Das Wort, das der
Prophet hier im Auftrag Gottes benutzt, das zeigt auch eine ganz besondere Nähe
und ein besonderes Vertrauensverhältnis an. Eine Art Stellvertreterschaft. Das
ist auch der, der stellvertretend für seinen Herrn handelt, der Ministerpräsident
des Königs zum Beispiel. Knecht drückt hier keine Geringschätzung aus, sondern
eine abhängige Nähe, ein besonderes Verhältnis. Ich glaube, dass es heute schon
allein eine Leistung ist, so etwas zulassen zu können und von dem manchmal sehr
hohen Ross, immer Herr über alles sein zu wollen oder sein zu müssen,
runterzukommen. Ich bin eben nicht Herr über alles, kann und muss nicht alles bestimmen
und alles muss nicht nach meiner Pfeife tanzen. Ich bin in Beziehung. Auch in
Abhängigkeit. Von dem, dem ich mein Leben verdanke. Von dem, der mir Liebe
schenkt. Von Gott.
Kluge
Menschen haben lange gerätselt – und tun das bis heute – wer wohl dieser Knecht
sein könnte. Ob das der Prophet selbst ist. Oder das Volk Israel. Oder ob Jesus
gemeint wäre. Bis heute haben das auch die klügsten unter den Wissenschaftlern
nicht wirklich rausbekommen. Ich denke, dass diese Schwierigkeit der genauen
Bestimmung vielleicht wirklich gottgewollt ist. Das, was hier in diesen Worten
des Propheten von Gott weitergegeben wird, ist ja nicht nur irgendein
historische Weisheit, sondern etwas, das für konkretes Leben wichtig war – und
bis heute wichtig ist. Die entscheidende Frage, warum wir in Gottesdiensten bis
heute darüber hören oder predigen ist doch die: was hat das mit meinem, mit
unserem Leben zu tun? Und das erste ist für mich tatsächlich die Hochachtung
des Knechtseins: wenn wir alle bloß Herren wären – im Sinne von
Alleinbestimmer -, dann wären
Beziehungen praktisch unmöglich. Ich lebe dann auf meiner Insel, muss meine
Herrschaft gegen jeden Anspruch an mein Leben verteidigen, Liebe und Beziehung
wird unmöglich, weil Liebe und Beziehung auch heißt, auf andere einzugehen und
anderen etwas vom eigenen Leben abzugeben. Sicher finden wir etwas davon beim
Propheten und auch im Volk Israel. Und als Christ kann ich das ganz bestimmt
auch auf Jesus beziehen. Aber es hat sich damit eben nicht erledigt.
Das
Zweite, was wichtig ist, ist der Auftrag, den dieser Knecht hat, der im Auftrag
von Gott da ist und handelt: Er wird das Recht unter alle Völker bringen.
Natürlich sind hier die biblischen Gebote gemeint. Aber wie fasst Jesus denn
dieses Recht zusammen? „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich
selbst.“ Die Liebe zu Gott kann nicht losgelöst vom Umgang miteinander und mit
sich selbst gesehen werden. Das Recht, von dem hier die Rede ist, ist kein
großes Gesetzbuch – es steht nämlich interessanterweise nicht das Wort „Thora“
da, das für den aufgeschriebenen Teil der Gebote steht. Das Recht, das zu den
Menschen aller Völker gebracht werden soll, ist das Recht auf ein
verlässliches, sicheres Miteinander ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung. Und da
frage ich mich schon, ob wir als Christen in einem reichen, sicheren Land
tatsächlich für dieses Recht stehen, ob wir uns als Knechte Gottes auch in die
Pflicht nehmen lassen. Spielen nicht auch Nationalität, Volkszugehörigkeit,
Religionszugehörigkeit, manchmal auch der Stadtteil, in dem man lebt, eine viel
zu große Rolle? Tragen wir das Recht tatsächlich auch zu denen, die ganz anders
sind, leben, denken, glauben oder nur zu denen, die so sind wie wir? Der Knecht
Gottes öffnet die Beziehung für alle.
Und
als Drittes sind wir da, wo ich mit den Beispielen am Anfang der Predigt war.
Bei den Dränglern, die lautstark ihr Recht einfordern und sich nehmen, was sie
kriegen können. Er wird nicht schreien
noch rufen, seine Stimme wird man nicht hören in den Gassen. Das geknickte Rohr
wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Keiner,
der sich aufdrängt. Nicht der, der schreit und laut ist, hat Recht, sondern
der, der wahrnimmt, wo Leben geknickt ist, zu verlöschen droht. Er nutzt
Schwächen nicht aus. Gibt nicht noch einen drauf, da, wo andere schon am Boden
liegen. Ein völliger Gegenentwurf zu einer Welt, in der nur noch wahrgenommen
wird, was laut und schrill und unterhaltsam und in 15-30 Sekunden zusammenfassbar
in den Medien verbreitet wird. Für mich als Christ, der sich auf diesen Gott
beruft, der sich auf diesen Knecht beruft und vielleicht auch in manchem Züge
dieses Knechtes haben kann, dass nicht die Mega-Event-Gemeinde das ist, was
besonders gottgefällig wäre, sondern dass da Gott wirklich begegnet, wo
geknickte und fast verlöschende Existenzen spüren, dass sie sein dürfen, wo sie
ernstgenommen werden, wo niemand übertönt oder überschrien wird, wo angeboten
und nicht aufgedrängt wird,. Nicht irgendwelche Heilungswunder zeugen von der Gegenwart
des Geistes, sondern manchmal ist es gerade die Ruhe, in der Gott wirklich
begegnet, die Ruhe, in der Menschen spüren: hier darf ich sein. Hier muss ich anderen
nichts vorspielen, hier darf ich auch dann sein, wenn ich fast am Ende bin.
Auch mit meinem Glauben vielleicht fast am Ende bin. Hier muss ich nicht laut
oder stark sein. Das geknickte Rohr wird
er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen – für
mich ist das einer der schönsten Sätze der Bibel. Und dann: In Treue trägt er, der Knecht Gottes, das
Recht hinaus. Für mich wunderbar,
aus zwei Gründen. Das Recht wird hinausgetragen – zu den Menschen. Gemeinde
Gottes lebt von diesem zu den Menschen Gehen. Gemeinde Gottes fordert nichts
von den Menschen, sondern bringt ihnen etwas, geht zu ihnen. Dient ihnen. Und
das tut der Knecht in Treue – nicht willkürlich, nicht für die, die sich vordrängeln,
nicht heute so, morgen wieder anders, sondern so, dass auch die leisen, die
freundlichen und rücksichtsvollen, die sonst übersehenen und an den Rand
gedrängten Existenzen merken: Gottes Recht, Gottes Liebe, Gottes Güte gilt mir.
Und der Drängler, der sich etwas nehmen will, wird am Ende nicht der sein, der
mehr bekommt. Gebe Gott, dass wir spüren können, dass das wahr ist.
Amen.
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