Text: Epheser 4,22-32
Liebe Gemeinde!
Komm rein! Macht es dir bequem! Zieh die Jacke aus, du musst nicht gleich wieder los. Du darfst einfach da sein. Erfrisch dich! Leg ab! Die Jacke, die Schuhe – voll vom Alltagsstaub. Leg ab – deine Traurigkeit, deine Sorgen. Fühl dich wie zu Hause. Und falls du dich zu Hause im Moment gar nicht gut fühlst – hier darfst du Pause davon machen. Leg ab, was dir im Moment Sorgen macht. Mach Pause vom Alltag. Erhole dich, erfrische dich, werde neu! Du bist willkommen!
Ich wünsche mir, dass Menschen – du, sie – so bei uns im Gottesdienst sitzen. Oder sonst in die Gemeinde kommen. Ich wünsche mir, dass ich so hier vorne stehe und predige. Nicht, weil ich muss oder dafür bezahlt werde. Sondern weil da einer oder zwei oder mehr sind, der sagt, die denken: „Schön, dass du davon erzählst, was du glaubst. Das hilft mir, selbst zu denken und regt mich an zu glauben.“ Ich wünsche mir, dass ich so hier vorne stehe, weil ich selber etwas geschenkt kriege, für mich, für meinen Glauben, für mein Leben, wenn ich meine Gedanken sortiere und sage und andere angeregt werden, mir ihre Fragen zu sagen, ihre Gedanken. Oder weil sie einfach kommen und neugierig sind. Und ich wünsche mir, dass Menschen da sind, die so kommen. Nicht, weil sie es müssen, sondern weil sie sagen: da ist mal eine Stunde in der Woche, in der ich einfach da sein kann. In der ich mit anderen da sein kann, ohne gleich reden oder irgendwas machen zu müssen. In der ich Zeit habe. In der ich loswerden kann, was meinen Alltag manchmal schwer macht. In der ich ablegen kann. Ich wünsche mir, dass es so ist. Frommer Wunsch – oder Wirklichkeit? Vielleicht nicht immer und vielleicht nicht bei jedem Wirklichkeit. Aber ich hoffe, dass Gottesdienste, Predigten, Gebet, die Art, wie wir hier auf dem Richtsberg Gottes Wort sagen und miteinander leben, dazu einlädt, sich zu erfrischen und neu, gestärkt zu werden. Das liegt nicht nur und nicht zuerst in meiner, deiner, ihrer Hand.
Menschen hören, sehen, fühlen ganz unterschiedlich. Es kann sein, dass Menschen aus der Gemeinde in Ephesus vor 2000 Jahren genauso wie Menschen heute den Bibel-abschnitt, den ich eben vorgelesen habe, vor allem so hö-ren: „Wenn du ein Christ sein willst, dann musst du dich nach folgenden Regeln richten“ - und dann kommen ja ganz viele einzelne Sachen wie nicht lügen, nicht stehlen, kein dummes Zeug reden und einiges mehr. Und mancher hört das vielleicht bis heute auch so: bevor du zu Gott kommst, musst du – und denkt dann bei sich, das schaffe ich sowieso nicht, dann gehöre ich halt nicht dazu. Aber am Anfang steht kein „Du musst“, das mir erstmal ganz viel auflegt, was ich vielleicht im Moment gar nicht alles tragen kann, sondern ein „Du darfst“ – ablegen, was los werden. „Legt den alten Menschen ab“ – gib ab, was Leben schwer macht.
Klar, auch das Ablegen von dem, was Leben schwer macht, kann zur Leistungsschau werden. „Bekenne doch endlich, was du schon alles falsch gemacht hast, posaune es raus, dass es jeder hören kann!“ Druck wird gemacht, sich sozusagen öffentlich auszuziehen. Manche ziehen sich aber auch gern aus und erzählen gleich allen ungefragt, wie schlecht sie waren und was sie alles Böses gemacht haben, um dann vielleicht allen zu zeigen, wie viel vom neuen Menschen sie schon angezogen haben und um richtig gut da zu stehen. Und es gibt sicher auch den Druck, der so aussehen kann: „Jetzt erzähl doch endlich, was dir auf dem Herzen liegt, sprich es aus, dann geht es dir besser. Mir kannst du doch alles sagen!“ Ablegen als Leistungsschau, die sich von den Selbstdarstellungen, die es sonst in der Welt gibt, nicht unterscheidet. Germany’s next Topchrist, Hessens nächster Superpfarrer, Marburgs Topgemeinde. Nein danke! Leistungsschau, das passt nicht zum Glauben. Die Botschaft, die Gott uns in Jesus geschenkt hat, heißt nicht: „Du musst dir alles erkämpfen und verdienen und vor anderen an der Spitze stehen.“ Sie heißt: „Für dich bin ich da. Dir gilt meine Liebe. Du darfst da sein!“ Vielleicht lädt ja ein Gottesdienst, in dem ich einfach denken, glauben, da sein darf, in dem ich nichts laut ausplaudern muss, sondern mit Gott und mit mir selbst ins Reine kommen darf, in der ich meinen Alltag ablegen darf, auch dazu ein, das, was mir im Alltag Leben schwer macht, auch an eigener Schuld, auszusprechen und abzulegen. Vor Gott und vor Menschen, die mir das Gefühl geben, dass ich ihnen vertrauen kann. Ablegen dürfen, was im Alltag Leben schwer macht – mit dieser Einladung fängt der Predigttext heute an. Und wenn da in der Übersetzung von Martin Luther, aus der ich eben vorgelesen habe, „erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn“ steht, dann führt das ein wenig in die Irre. Wörtlich steht in der Sprache, in der Paulus oder ein Schüler von ihm diesen Brief geschrieben hat, lasst euch erneuern. Die neuen Kleider, die wir anziehen können, wenn wir die Kleider, die uns den Alltag schwer machen, abgelegt haben, sind ein Geschenk. Jesus schenkt sie uns. Gott. Er macht uns neu. Nicht wir selbst. Gott lässt uns nicht nackt da stehen. Er nutzt unsere Alltagsschwächen, unsere Ehrlichkeit beim Ablegen nicht aus. Eine Erfah-rung, die im Alltag Menschen untereinander leider nicht immer machen. Wer da Schwächen zugibt, wird oft genug bloßgestellt. Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Lasst auch im Alltag die Geschenke Gottes sichtbar sein, trennt nicht künstlich zwischen einem Glauben für besondere Zeiten und dem Alltag, in dem angeblich un-umstößliche Gesetzte gelten. In dem das Recht des Stär-keren gilt. In dem der gilt, der keine Schwächen zeigt. In dem Menschen ganz schnell in Schubladen gesteckt und durch Vorurteile festgelegt werden. Macht es anders, gebt etwas von dem, was euch geschenkt ist, weiter. Ja, so kann man das hören und verstehen, was hier im Epheser-brief steht. Wenn wir hoffentlich nicht dem Missverständnis unterliegen, dass wir dadurch perfekt würden oder eine perfekte Welt schaffen könnten. Was mir an diesem Stück aus der Bibel so gut gefällt, ist der herrlich realistische Blick, den es für unseren Alltag hat. Auch die neuen Kleider, die Gott uns bereitlegt, werden im Alltag schmutzig. Auch noch so gute Gemeinden und Christen sind alles andere als vollkommen. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst kein faules, dummes Geschwätz aus eurem Mund gehen; Bitterkeit, Zorn, Geschrei, Lästerung sei fern von euch. Der Apostel müsste das nicht schreiben, wenn die Leute perfekt gewesen wären. Die Frage ist doch nicht, ob ich als Christ zum Beispiel zornig sein darf oder nicht, die Frage ist, wie ich damit umgehe. Lasst die Sonne nicht untergehen über eurem Zorn. Lass dich nicht auffressen davon, bringe es wieder ins Reine – bei diesem Satz muss ich immer an meine Oma denken, die mir das wirklich für mein Leben mitgegeben hat. Seid aber unter euch freundlich und herzlich und – jetzt kommt das für mich Entscheidende - vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus. Ja, da wird deutlich, wie schnell der Alltag den neuen Menschen, die neu angezogenen Kleider wieder mit Staub belegt. Vergebung, das braucht oft mehr als nur einen Tag. Das braucht manchmal mehr Zeit, als uns lieb ist. Und das braucht immer auch von beiden Seiten die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Und damit es Vergebung werden kann und kein bloßes unter den Teppich kehren aus Bequemlichkeit wird, braucht es manchmal auch, dass die Schwere der Verletzung und der Enttäuschung erst mal eingestanden wird und ein Satz wie „Der andere hat mir so weh getan, das sich mir wünschen würde, er wäre gar nicht mehr da“ erst mal ausgesprochen werden kann. Ja, auch das darf ich sagen, ablegen und abgeben. Nur so kann ich erneuert werden. Nur wenn der Hass raus darf, der Zorn, kann Platz werden für die Liebe. Ja, unser neuer Mensch, unsere neuen Kleider werden im Alltag schmutzig, unansehnlicher. Aber wir dürfen kommen, wiederkommen, ablegen und uns immer wieder neue holen. Ich wünsche mir, dass ich nicht nur davon rede, sondern dass auch tue. Und ich wünsche mir, dass sich Menschen erfrischen lassen, gern ablegen, sich erholen, gestärkt in den Alltag gehen. Mit neuen Kleidern. Immer wieder.
Amen
Predigten und Gedanken aus der Thomaskirche auf dem Richtsberg in Marburg
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Sonntag, 10. Oktober 2010
Ankommen - Ablegen - Auftanken - Anfangen - 19. Sonntag n. Tr., Reihe II, 10.10.2010
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