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Sonntag, 20. September 2009

Wird alles gut? - 15. n. Trinitatis, 20.09.09, Reihe I

Text: Matthäus 6,25-33

Liebe Gemeinde!

„Alles wird gut“ - Ich würde das Ihnen und Euch so gern versprechen. „Alles wird gut, macht euch keine Sorgen!“ Alles wird gut, für die Schülerinnen und Schüler, die Angst vor der nächsten Klassenarbeit haben. Die Angst davor haben, keinen vernünftigen Abschluss zu kriegen und keine Lehrstelle. Die Angst davor haben, dass auch an ihrer Schule mal jemand durchdreht und Amok läuft. Die Angst davor haben, schief angeschaut zu werden, wenn sie mit Kleidung aus der Kleiderkammer, von C&A oder takko, statt von H&M, New Yorker, Karl Kani und so weiter in die Schule kommen. Die Angst davor haben, von ihrer Clique ausgelacht zu werden, wenn sich herausstellt, dass sie in Wirklichkeit nicht so hart und cool sind, wie sie sich gern geben. Ich würde so gern sagen: „Alles wird gut, macht euch keine Sorgen!“ - Auch den Eltern, die Angst davor haben, dass ihr Kind an falschen Freunden, an Drogen, an schlimmen Erfahrungen zerbricht. Die Angst davor haben, dass ihr Kind vor ihnen stirbt. Die sich entscheiden müssen, ob sie es von dem Geld, das noch zur Verfügung ist, im Winter schön warm haben wollen oder ob sie sich und ihre Kinder gesund ernähren, weil für beides das Geld nicht reicht. „Alles wird gut, macht euch keine Sorgen“ - ich würde es den älteren Menschen gern versprechen. Denen, die Angst davor haben, am Ende allein zu sein. Denen, die Angst vor einem langen und elenden Sterben haben und denen, die Angst davor haben, in einer Welt, die sich immer schneller ändert, nicht mehr mitzukommen. Ich würde das so gern versprechen: „Alles wird gut, sorgt euch nicht, Gott gibt euch, was ihr braucht!“ Und dann fallen mir Gespräche mit Menschen ein, jungen und alten, die mich fragen, warum es sich lohnt, mit Gott im Gebet zu reden und mit ihm zu rechnen, wenn er doch trotz Gebet nicht dafür gesorgt hat, dass der Vater aufhört zu saufen und die Familie zu quälen. Wenn Gott nicht verhindert hat, dass das Kind sich regelmäßig betrinkt und kriminell wird, wenn er das qualvolle Sterben des Ehemanns nicht gemildert hat oder einem die Situation, sich zwischen Heizung und guter Ernährung zu entscheiden, nicht erspart. Man muss gar nicht bis in unterentwickelte Länder gehen, bis hin zu Kindern, die dort immer noch massenhaft verhungern und an vermeidbaren Krankheiten sterben, um Schwierigkeiten zu kriegen, dieses „Sorgt euch nicht, Gott weiß, dass ihr Nahrung, Kleidung und so weiter braucht“, zynisch zu finden. Man findet schon auf dem Richtsberg mehr als genug Gründe dafür, vorsichtig zu sein mit dem Versprechen: „Alles wird gut, sorgt euch nicht!“ „Sorgt euch nicht!“ - Wer das als einen Befehl Jesu versteht, immer fröhlich durchs Leben zu ziehen, wer daraus sogar schließt, dass jemand, der sich Sorgen macht, kein richtiger Christ ist und nicht gut und fest genug an Gott glaubt, der denkt und handelt unmenschlich. Es gibt, Gott sei es geklagt, jede Menge echter Gründe, sich Sorgen zumachen.

Die Frage, vor die uns das, was Jesus hier sagt, stellt, ist nicht die, ob wir als uns Christen Sorgen machen müssen oder dürfen. Die Frage ist vielmehr die, wie wir mit Sorgen und Nöten umgehen. Ob wir uns von ihnen vielleicht im wahrsten Sinn des Wortes auffressen lassen und langsam zugrunde gehen oder ob wir diesem Sog der Angst, der Not und der Sorge etwas entgegensetzen können. Es geht letztlich um die Frage: „Wem gebe ich Macht über mein Leben?“

Dass Jesus mit diesem „Sorgt euch nicht!“ nicht jede Angst und Sorge verbieten will, sondern dass er den Blick auf das lenken will, was Leben wirklich gut macht, zeigt schon der Zusammenhang der Verse. Direkt vor dieser Aufforderung, sich nicht um Kleidung oder Nahrung zu sorgen, steht die Aussage Jesu, dass niemand sowohl Gott als auch dem Mammon, dem Scheingott, dem Götzen des Geldes, dienen kann. Ordne ich mein Leben dem Geld unter? Geht es mir darum, mich durch das, was ich anhabe, besser als andere zu machen? Geht’s drum, mich durch meine Essgewohnheiten als besonders wichtig und wertvoll darzustellen? Weder Schampus, Kaviar und Austern noch der ausschließliche Genuss von Biogemüse, Bioeiern und Biofleisch machen einen zu einem guten Menschen. Weder der Anzug von Boss noch das T-Shirt von Ed Hardy, weder die goldene Uhr noch das schöne eigene Haus geben dem Leben wirklich Sinn. Wer nur nach diesen, manchmal vielleicht ja auch schönen und sinnvollen, Dingen schaut und sein Leben danach ausrichtet, möglichst viel davon für sich zu bekommen, wird wichtiges verpassen. Weil er vorletzten Dingen zu viel Macht einräumt. So verstehe ich Jesus hier. „Trachtet zuerst nach Gottes Reich und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere zufallen“. Nicht Schuld aufrechnen sondern Schuld vergeben, auch für mich selbst damit rechnen, dass mir vergeben werden kann und ich mir nicht alles verdienen muss, Liebe, neben den eigenen Bedürfnissen auch die der anderen wahrnehmen, ja, das kann eine Gelassenheit schaffen, die Freiheit eröffnet. Auch ein Stück Freiheit von der Sorge, zu wenig zu haben, zu kurz zu kommen, zu schlecht zu sein.

Aber für mich geht das, was Jesus will, noch tiefer. Es geht ihm nicht darum, Sorgen zu verbieten, sondern es geht Gott darum, ein Angebot zu machen, Sorgen erträglich werden zu lassen. Sich eben nicht auffressen zu lassen. Weder von den Sorgen um vielleicht manchmal zu wichtig genommene Äußerlichkeiten noch von den wirklich lebenswichtigen Sorgen. „Alle eure Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch!“ Das sagt nicht einer, der mit Mittelstandsbauch satt und zufrieden in die Welt schaut, da geht es nicht um eine Wunschmaschine und einen Zauberer, dem man seine Wünsche anvertrauen soll und der dann schon für Erfüllung sorgt. Sondern da macht einer ein Angebot, der weiß, wie es ist, unten zu sein. Der bespuckt und geschlagen wurde, der das Gefühl kannte, allein, sogar gottverlassen zu sein. Da macht einer ein Angebot, der nicht in höheren Sphären dem Ernst des Lebens und der Härte der Welt entzogen ist, sondern der bis zum letzten auf der Seite der Menschen steht, der Leidenden, der Armen, derer, die zu kurz kommen, derer, die Angst haben. Da ist einer, der weiß wirklich, wie’s mir geht, wenn’s mir schlecht geht, dem kann ich nichts vormachen und der macht mir nichts vor. Gott macht in Jesus nicht das Angebot, Sorgen einfach so wegzuzaubern. Sondern er macht das Angebot, mitzutragen, mitzugehen, nichts unter den Teppich zu kehren, sondern durch ehrliches Anschauen des Lebens Kraft und Hoffnung wachsen zu lassen und so Sorgen loszuwerden oder wenigstens erträglich werden zu lassen.

Es geht darum, Freiheit zum Leben zu gewinnen. Durch Loslassen. Von Sorgen, vielleicht auch manchmal von Menschen. Und auch durch Loslassen von Überforderungen. Manchmal entstehen die ja auch dadurch, dass ich glaube, für alles wirklich selbst verantwortlich sein und sorgen zu müssen. Und das „ich“ meine ich jetzt ganz und gar nicht rhetorisch. Loslassen, weil ich weiß, dass ich abgeben darf. Sorgen, Ängste, Überforderungen. Und dadurch die Freiheit gewinnen, das zu tun, was in meiner Macht steht und für das ich Verantwortung trage. Vielleicht hilft dazu nicht nur mir, sondern auch anderen, die dieses kennen, ein Gebet. „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und Gott, gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Amen.

Samstag, 12. September 2009

Danke für nichts!? - 14. n. Trinitatis, 13.09.2009, Reihe I

Predigttext: Lukas 17,11-19

Liebe Gemeinde!

Dienstag, 8. September, 16.55 Uhr. Seit einer Stunde liegen in Konfer sichtbar Süßigkeiten neben mir auf dem Tisch. Die Stunde geht zu Ende, ich sage den Konfis, warum sie da liegen, dass ich sie ihnen schenken möchte und dass sie sich jetzt was nehmen können. Es ist genug für alle da. Manche nehmen sich gleich zwei Teile, versuchen mit einem Grinsen noch ein drittes Teil zu kriegen. Wenn’s hoch kommt, hat die Hälfte der Konfis „Danke“ gesagt, ein paar weniger sind auf den Grund für das Geschenk eingegangen. Vielleicht hört sich das jetzt so an, als würde ich mich über die Konfis beschweren wollen und sagen: „Ja, ja, die Jugend von heute! Verwöhnte Gören! Früher hätte es das nicht gegeben!“ Aber ich glaube kaum, dass es sehr viel anders gelaufen wäre, wenn ich es mit einer beliebigen Gruppe Erwachsener gemacht hätte. Jugendliche benehmen sich in der Regel so, wie sie es vorgelebt bekommen. Und da leben wir in einer Zeit, in der ich den Eindruck habe, dass Dankbarkeit oft genug als Schwäche ausgelegt wird. „Ich nehme, was ich kriegen kann, steht mir doch irgendwie zu. Und wenn jemand so dumm ist, mir das umsonst oder zu billig zu geben, dann ist das doch sein Problem. Wer schlau ist sieht zu, dass er aus allem das Meiste rausholt!“ Es sind nicht Jugendliche, die zuerst genauso leben. Und es sind nicht nur arme Menschen, die so leben. Bei denen könnte man es ja noch verstehen. Trotz Wirtschaftskrise: Gier und Egoismus spielen immer noch eine große Rolle. Und Dankbarkeit hat in dieser Welt oft wenig Platz. Ich will mich jetzt nicht lang beschweren. Mit ungefähr 50% Dankbarkeit hatte ich im Vergleich zu Jesus ja eine Spitzenquote. Und ich hatte nur ein paar Süßigkeiten. Jesus hat in der Predigtgeschichte, die ich gerade vorgelesen habe, eine Dankbarkeitsquote von 10%. Und das, obwohl er Menschen, die unter einer schweren Krankheit litten, die wegen dieser Krankheit von ihren Familien, ihren Freunden und jeder Arbeitsmöglichkeit ausgeschlossen waren, geheilt und ins Leben zurückgeholt hat. Er hat nicht nur Schokolade verteilt, sondern den Menschen etwas wirklich Lebenswichtiges gegeben: Gesundheit und die Möglichkeit, am ganz normalen Leben teilzunehmen. Und trotzdem kommt nur einer von zehn zurück und sagt Danke. Und was macht Jesus? Er wünscht denen, die nicht zurückgekommen sind, nicht die Pest an den Hals und verflucht sie nicht und beschwert sich nicht lange. Er nimmt das Geschenk nicht zurück. Er lässt die neun ihren Weg gehen und beschäftigt sich mit dem Einen, der zurückgekommen ist.

Mir erzählt diese Geschichte eine Menge von Gott, über das Wesen des Gebens und Schenkens. Gott, der sich ja in Jesus zeigt, ist ein Gott, der Menschen die Möglichkeit zum Leben eröffnen will. In Würde, unabhängig von Almosen, die andere einem zuteilen, leben zu können: diese Möglichkeit bekommen die zehn Kranken durch Jesus geschenkt. Und dieses Geschenk wird eben nicht zurückgenommen. Jesus schenkt nicht, weil er geliebt oder bewundert werden will. Er schenkt nicht, damit sich sein Ruhm oder seine Anerkennung vermehren, sondern weil die Menschen, die ihm begegnen, hier die zehn Aussätzigen, das Geschenk brauchen. Niemand von uns hier im Gottesdienst ist Jesus. Aber im Blick auf dieses Wesen seines Schenkens sind mir mindestens zwei Beobachtungen bis heute wichtig.

Erstens: Wer schenkt, damit er geliebt oder verehrt wird, wer schenkt, um selbst gut da zu stehen, hat eigentlich schon verloren. Das, was Jesus vorlebt und was als gute Grundregel eigentlich in jeder Beziehung bis heute auch unabhängig vom Glauben gültig ist, drückt Joachim Ringelnatz in seinem Gedicht über das Schenken unter anderem so aus: Schenke herzlich und frei. Schenke mit Geist ohne List. Wer schenkt, um sich Liebe zu kaufen oder um gut da zu stehen, muss sich nicht wundern, wenn Dankbarkeit fehlt. Ein Geschenk ist dann ein Geschenk, wenn es nicht um mich, sondern um den anderen geht. Für mich wird das in dem Geschenk „Gesundheit“, das Jesus hier macht, sehr deutlich. Und in der Art und Weise, wie er mit dem nicht abgestatteten Dank umgeht.

Und da ist die zweite Beobachtung, jetzt mehr im Blick auf mich als Pfarrer, auf uns als christliche Gemeinde. Einer von zehn kommt zurück zu Jesus. Einer von zehn dankt Gott. Man gibt sich Mühe. Als Pfarrer. Als Gemeinde. Man möchte einladend und ansteckend sein. Menschen für Gott öffnen und begeistern. Zu Jesus selbst kommt einer von zehn. Und Jesus gibt trotzdem nicht auf. Und in ihm begegnet Gott den Menschen selbst. Wir tun manchmal so, als sei die große Zahl wichtig. Wir lassen uns verführen von anderen, die Erfolg in Massenbewegungen messen. Nicht die große Zahl ist wichtig. Der einzelne Mensch ist es, auf den es ankommt. Für mich ist gerade dieser Teil der Geschichte ein großes Geschenk. Gerade wenn Kirchenleitungen oder amerikanisch geprägte Freikirchen oder Zeitungen, Radio, Fernsehen, Internet nach Wachstumszahlen fragen und hören wollen, dass Gottesdienste immer besser besucht werden, immer mehr Jugendliche aktiv werden oder, oder, oder. Wir sehen dann, dass wir es nicht schaffen. Und vergessen vielleicht hin und wieder, dass nicht wir mit unseren beschränkten Mitteln, nicht wir, die wir auch manchmal daneben liegen und frustriert sind, das Entscheidende sind, sondern dass Martin Luther Recht hatte, wenn er dichtete: „Mit unserer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren. Es streit für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren.“ Nicht die Zahl macht’s, sondern der Mensch. Nicht wir müssen alles machen, sondern wir haben einen, der schon etwas für uns gemacht hat. Und dieser Jesus, auf den wir uns berufen dürfen, steht auch nicht für den 100%-Fetischismus mancher Öffentlichkeitsarbeiter und PR-Strategen.

In der Geschichte stecken noch viel mehr schöne Geschenke. Schon der Anfang ist so ein Geschenk. Und es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog. In Jesus begegnet Gott als einer, der auf Wanderschaft ist. Er begegnet Menschen unterwegs im Leben und ist keiner, der feste Sprechstunden, Orte und Zeiten hat. Gott kommt zu uns Menschen, lange bevor wir uns zu ihm aufmachen. Es ist ein Geschenk, das wahrnehmen zu dürfen.

Auch wenn ich mich oft genug schwer damit tue, dankbar zu sein, weil sich viel zu viel Schlechtes in den Vordergrund drängt. Auch wenn ich mich mit meinem Glauben schwer tue, weil Krankheiten oder erlebtes Unrecht oder tragische persönliche Erfahrungen Zweifel an einem guten Gott aufkommen lassen: obwohl oder vielleicht sogar weil das so ist, darf ich darauf hoffen und vertrauen, dass ich nicht erst alles ausräumen muss, damit ich Gott angenehm und wertvoll genug bin, sondern dass er kommt bevor ich aufgeräumt habe.

Ein weiteres mir wichtiges Geschenk zeigt sich erst auf den zweiten oder dritten Blick. Es ist der Weg, den Jesus hier zurücklegt. Sein Weg führt ihn durch Galiläa und Samarien, er geht auf der Grenze und überschreitet Grenzen. Galiläa galt zur Zeit Jesu als eine Art Bauernland. Da wohnte eben nicht die angesehene Elite, sondern die Hinterwäldler. Und Samarien, noch schlimmer, da wohnten die, deren Glauben ein bisschen anders war, die nicht nur in den Augen der Frommen ihrer Zeit wenig wert waren und denen man nichts Gutes zutraute. Jesus gibt sich mit den Grenzen, die Menschen ziehen, mit denen Menschen sich gegenseitig in Gut und Böse, Wertvoll und Nichtsnutzig einteilen, nicht zufrieden. Er überschreitet Grenzen. Er erregt dadurch Anstoß. Aber erst durch diese Grenzüberschreitung wird das Geschenk „Leben“ erst so richtig deutlich und wertvoll. Es ist eben nicht beschränkt auf die, die schon immer dazugehört haben, auf die, denen man es selbst gern gönnt. Ein Geschenk. Und eine Einladung an die, die im Sinne Jesu leben möchten, sich eben auch nicht mit Grenzen, die Menschen ziehen, zufrieden zu geben, anstößig zu sein und so Menschen zum Leben einzuladen und zu ermutigen.

In Würde gut leben zu können - das Geschenk, das durch Jesus hier gemacht wird. Was hindert daran, dankbar zu sein? Manchmal, Gott sei Dank, eigentlich gar nichts. Dafür ist die Taufe, die wir heute feiern dürfen, ein gutes Zeichen. Auch wenn im Vorfeld nicht alles einfach war und einfach ist: ich habe sie in allen Begegnungen so erlebt, dass nicht die Schwierigkeiten im Vordergrund standen, sondern dass die Dankbarkeit dafür, dass Amelie Teil ihres Lebens geworden ist, ganz oben steht. Und dass trotz aller Traurigkeit, dass ein Mensch, der wirklich wichtig ist, nicht mehr mitfeiern kann, die Gewissheit da ist, dass trotzdem eine Verbundenheit und eine Art mitfeiern da ist, die über das Sichtbare hinausgeht. Eine Gewissheit, dass eben durch die Liebe, die Gott in Jesus hat lebendig sein lassen, Leben mehr ist als das, was wir vor Augen haben. Dass Gott wirklich Leben schenkt, Leben, das unsere Grenzen sprengt. Danke, dass wir heute mit ihnen feiern dürfen.

Es ist der Fremde, der, von dem es keiner erwarten würde, der zurückkehrt und dankt. Ich wünsche uns, dass wir immer wieder zu solchen Fremden werden. Dass wir uns nicht in scheinbare Selbstverständlichkeiten hineinbegeben, sondern uns irritieren lassen. Von Jesus, von Gott, von seinem Geschenk des Lebens.

Amen

Samstag, 5. September 2009

Ran an die Wurzel! - 13. n. Tr., 6.9.09, Reihe I

Text: Lk 10,25-37

Liebe Gemeinde!

Eine Woche später. Wie an jedem Donnerstag war der Samariter auf dieser Strecke unterwegs. Sein Beruf brachte das mit sich. Schon wieder fand er einen Verletzten, fast an der gleichen Stelle. Er wusste, was zu tun war, packte ihn auf sein Maultier, brachte ihn in die Herberge. Wieder eine Woche später, wieder am Donnerstag. Schon wieder lag ein Überfallener am Straßenrand, der Samariter versorgte ihn, brachte ihn in die ihm gut bekannte Herberge und zog weiter. Die darauf folgende Woche. Donnerstag. Verletzter, sich kümmern, in die Herberge bringen, weiter. Wie auch in der nächsten Woche. Diesmal war der Samariter schlau. Er handelte mit dem Herbergsbesitzer einen Geschäftskundenrabatt aus. So ging das über drei Monate weiter. Donnerstag. Verletzter. Herberge. Der Samariter war halt ein guter Mensch. Nach über drei Monaten hatte der Samariter aber genug. Er brachte den Verletzten zwar in die Herberge, ritt dann aber zurück nach Jericho, stellte eine Polizeitruppe zusammen, suchte mit ihnen den Unterschlupf der Straßenräuber, ließ sie festnehmen und verurteilen - und nie wieder hat der Samariter einen verletztes Überfallopfer donnerstags an der Straße zwischen Jerusalem und Jericho gefunden. Hätte ich doch nur früher an der Ursache des Übels angesetzt und nicht nur die Folgen behandelt, dachte er bei sich. Dann hätte ich mir doch schon längst einen neuen Mantel kaufen könne und den Ledersattel, von dem ich schon so lange träume.

Zugegeben, die Fortsetzung ist jetzt frei erfunden. Aber gerade, wenn einem eine Geschichte so vertraut ist wie die vom barmherzigen Samariter schadet es nichts, sie so ein bisschen mit anderen Augen zu sehen. Jesus erzählt hier eine Geschichte, die auch deshalb so bekannt ist, weil sie von einer scheinbaren Selbstverständlichkeit erzählt, die leider so selbstverständlich nicht ist. Ich glaube, Christen, Muslime, Juden, auch Buddhisten, Hindus, vermutlich auch Kommunisten oder Atheisten können sich darin wiederfinden. Wenn einer Hilfe braucht, muss ihm geholfen werden. Punkt. Ich muss nicht lange suchen, wo denn nun einer ist, dem ich helfen sollte und der mir interessant genug sein könnte. Auf meinem alltäglichen Weg durchs Leben habe ich die Chance, für einen anderen zum Nächsten zu werden und ihm zu helfen. Unabhängig von seiner und meiner Religion und Volkszugehörigkeit. Samariter waren für die Menschen im damaligen Israel unerwünschte, fast aussätzige Personen. Und ausgerechnet so einer, dem man nur Übles zutraut, zeigt sich als Mensch unter Menschen. Diejenigen, die ihre Vorstellungen von Gott und Reinheit und Gesetzen über den Mitmenschen stellen, so wie der Priester und der Levit, ein Diener im Tempel, die versagen. Gottes Wille ist die Mitmenschlichkeit, nicht die buchstabengetreue Verehrung. Man kann das heute politisch korrekt prima aktualisieren und betonen, dass Ayse aus der Türkei, Ivan aus Russland, Said aus Palästina oder Anja aus Polen in konkreten Situationen vielleicht eher helfen als Erwin, der Pfarrer oder Gerlinde, die Oberkirchenrätin, die doch fromm sein müssten aber in der Praxis… Praktische Beispiele für die Richtigkeit solcher Unterstellungen ließen sich, Gott sei es geklagt, sicher genügend finden. Und, Gott sei Dank, sicher auch Gegenbeispiele, wo Pfarrerinnen und Kirchenvorsteher, wo Bischöfe und Diakonissen leuchtende Beispiele praktizierter Nächstenliebe sind und Menschen, von denen alle nichts Gutes erwarten, tatsächlich auch nichts Gutes tun. Dieses Bombardement mit Beispielen finde ich langweilig. Liebe zu Gott ohne Liebe zum Nächsten bleibt leer. Und den Nächsten kann und muss ich mir nicht aussuchen, sondern er ist, manchmal buchstäblich, nahe liegend. Er oder sie ist da. Und dadurch, dass ich ihn und seine Anfrage an mich wahr- und ernstnehme, werde ich selbst Nächster. Mitmenschlichkeit macht mich menschlich. Spannender als 1000 Beispiele für die Richtigkeit dessen, was Jesus gesagt hat, zu finden und jedem, der an einem bettelnden Menschen vorbeigeht, ohne ihm was in den Plastikbecher zu legen, ein schlechtes Gewissen zu machen, finde ich die Frage, die die Fortsetzung der Geschichte vom barmherzigen Samariter aufwirft. Erstens: Wie helfe ich wirksam? Und zweitens: muss ich alles Geld für Bedürftige ausgeben oder darf ich auch was behalten und mir einfach was Schönes kaufen?

Zum ersten. Zwei ganz praktische Fragen. Soll ich jedes Mal, wenn Marco meine Hausaufgaben zum Abschreiben will, sie ihm auch geben und ihn bei jeder Arbeit abschreiben lassen? Soll ich jedes Mal, wenn einer der Besoffenen Hartz-IV Empfänger Geld für Brot haben will, weil er Hunger hat und kein Geld mehr, sich welches zu kaufen, ihm welches geben?

Auf die erste Frage würden alle Schüler vermutlich sofort sagen: Ja klar! Auf die zweite Frage würden sicher viele sagen: Nein, der ist doch selbst schuld, wenn er sein Geld versäuft. Wieso der Unterschied? In Not sind doch beide! Ich denke, wenn man, auch im Sinne Jesu, danach fragt: was braucht der andere tatsächlich zum Menschsein?, dann werden die Antworten gar nicht so verschieden sein. Klar, wenn die Gefahr da ist, dass der Abschreiber Ärger mit dem Lehrer kriegt und der es dann nach Hause meldet und zu Hause nicht nur Ärger, sondern Prügel wartet, dann würde ich sagen: Dieses eine Mal ja. Aber das nächste Mal sag vorher Bescheid, dann lernen wir zusammen oder machen die Hausaufgaben zusammen. Ich will dir helfen, dass du es SELBST schaffen kannst. Und wenn der Alkoholiker vor Hunger kurz vorm Zusammenklappen ist, dann kriegt er auch Brot. Aber nicht als Dauerhilfe, sondern ich muss gerade auch bei Suchtkranken NEIN sagen. Ich will dir helfen, von dem, was dich abhängig macht, loszukommen. Ich bin da, wenn du wirklich Hilfe willst und brauchst. Aber ich bin nicht dazu da, dich krank zu halten, weiter krank zu machen und deine Krankheit zu verfestigen. Die Menschlichkeit des anderen sehen und achten heißt auch, in aller Hilfsbedürftigkeit auch die Freiheit und Verantwortung des anderen zu stärken und zu respektieren. Und die eigene Menschlichkeit zu entdecken. Und auch zu den eigenen Grenzen zu stehen. Materielle Grenzen, sicher, Grenzen des Könnens, natürlich, aber auch seelische Grenzen. Wenn ich selbst kaputt gehe, kann ich anderen auch nicht helfen. Das soll keine billige Entschuldigung sein, zu früh zu sagen: das kann ich nicht, das schaff ich nicht. Aber der Samariter hat sich eben auch nur um den einen Verletzten am Wegesrand gekümmert. Und nicht gleichzeitig auch noch um die 150 Waisenkinder in Jericho und die 24 Aussätzigen in einem Dorf bei Bethanien, die 82 unversorgten Alten in einem Jerusalemer Stadtteil und so weiter, die auch an seiner Strecke lagen. Gerade in einer Zeit und in einer Welt, in der man praktisch in Echtzeit von Not rund um die Welt erfährt, ist es erstens wichtig, möglichst viel Not an der Wurzel zu lindern und Hilfe dort dann überflüssig werden zu lassen und sich zweitens nicht durch Allmachts- und Allzuständigkeitsphantasien zu lähmen - ich muss alles, ohne mich geht nichts - sondern sich in der unübersehbaren Fülle auf den einen oder die zwei zu konzentrieren, für die ich wirklich Mensch sein kann und nicht aus einem Überlastungsgefühl heraus letztlich nichts zu machen.

Und wo wir gerade bei den Grenzen sind, sind wir auch bei der zweiten Frage: darf ich mir was Schönes gönnen, wo ich doch auch mit dem Geld anderen helfen könnte? Gerade heute für unsere Gemeinde wichtig. Als Kirchengemeinde haben wir uns schöne neue Paramente, Tücher für Kanzel und Altar gekauft. Von dem Geld hätten bestimmt zwei Menschen in Afrika ein Jahr essen können oder man hätte einem in Bangladesh ein Ausbildungsstipendium geben können. Und gerade heute, bei dem Predigttext, legen wir sie zum ersten Mal auf. Ich mache das ohne schlechtes Gewissen. Liebe deinen Nächsten, sagt nicht nur Jesus, sondern das steht schon im Alten Testament, wie dich selbst. Für mich zeigen die neuen Paramente, dass kirchliche Gemeinschaft auch auf dem Richtsberg wertvoll ist und was Schönes verdient hat. Wir sind nicht weniger wert als die Elisabethkirche oder die Pfarrkirche, sondern wir sind auf unsere eigene Art wichtig und dürfen uns an Schönem freuen. Nur wer ein gesundes Selbstwertgefühl hat, kann beim Aufbau oder beim Wiederfinden eines eigenen Selbstwertgefühls helfen.

Jesus ermuntert uns dazu, das zu werden, was wir in Gottes Augen sind: Mensch für Menschen, Mensch durch Menschen, Mensch mit Menschen. Dazu gebe er uns Mut, Kraft und seinen Segen.

Amen