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Samstag, 5. September 2009

Ran an die Wurzel! - 13. n. Tr., 6.9.09, Reihe I

Text: Lk 10,25-37

Liebe Gemeinde!

Eine Woche später. Wie an jedem Donnerstag war der Samariter auf dieser Strecke unterwegs. Sein Beruf brachte das mit sich. Schon wieder fand er einen Verletzten, fast an der gleichen Stelle. Er wusste, was zu tun war, packte ihn auf sein Maultier, brachte ihn in die Herberge. Wieder eine Woche später, wieder am Donnerstag. Schon wieder lag ein Überfallener am Straßenrand, der Samariter versorgte ihn, brachte ihn in die ihm gut bekannte Herberge und zog weiter. Die darauf folgende Woche. Donnerstag. Verletzter, sich kümmern, in die Herberge bringen, weiter. Wie auch in der nächsten Woche. Diesmal war der Samariter schlau. Er handelte mit dem Herbergsbesitzer einen Geschäftskundenrabatt aus. So ging das über drei Monate weiter. Donnerstag. Verletzter. Herberge. Der Samariter war halt ein guter Mensch. Nach über drei Monaten hatte der Samariter aber genug. Er brachte den Verletzten zwar in die Herberge, ritt dann aber zurück nach Jericho, stellte eine Polizeitruppe zusammen, suchte mit ihnen den Unterschlupf der Straßenräuber, ließ sie festnehmen und verurteilen - und nie wieder hat der Samariter einen verletztes Überfallopfer donnerstags an der Straße zwischen Jerusalem und Jericho gefunden. Hätte ich doch nur früher an der Ursache des Übels angesetzt und nicht nur die Folgen behandelt, dachte er bei sich. Dann hätte ich mir doch schon längst einen neuen Mantel kaufen könne und den Ledersattel, von dem ich schon so lange träume.

Zugegeben, die Fortsetzung ist jetzt frei erfunden. Aber gerade, wenn einem eine Geschichte so vertraut ist wie die vom barmherzigen Samariter schadet es nichts, sie so ein bisschen mit anderen Augen zu sehen. Jesus erzählt hier eine Geschichte, die auch deshalb so bekannt ist, weil sie von einer scheinbaren Selbstverständlichkeit erzählt, die leider so selbstverständlich nicht ist. Ich glaube, Christen, Muslime, Juden, auch Buddhisten, Hindus, vermutlich auch Kommunisten oder Atheisten können sich darin wiederfinden. Wenn einer Hilfe braucht, muss ihm geholfen werden. Punkt. Ich muss nicht lange suchen, wo denn nun einer ist, dem ich helfen sollte und der mir interessant genug sein könnte. Auf meinem alltäglichen Weg durchs Leben habe ich die Chance, für einen anderen zum Nächsten zu werden und ihm zu helfen. Unabhängig von seiner und meiner Religion und Volkszugehörigkeit. Samariter waren für die Menschen im damaligen Israel unerwünschte, fast aussätzige Personen. Und ausgerechnet so einer, dem man nur Übles zutraut, zeigt sich als Mensch unter Menschen. Diejenigen, die ihre Vorstellungen von Gott und Reinheit und Gesetzen über den Mitmenschen stellen, so wie der Priester und der Levit, ein Diener im Tempel, die versagen. Gottes Wille ist die Mitmenschlichkeit, nicht die buchstabengetreue Verehrung. Man kann das heute politisch korrekt prima aktualisieren und betonen, dass Ayse aus der Türkei, Ivan aus Russland, Said aus Palästina oder Anja aus Polen in konkreten Situationen vielleicht eher helfen als Erwin, der Pfarrer oder Gerlinde, die Oberkirchenrätin, die doch fromm sein müssten aber in der Praxis… Praktische Beispiele für die Richtigkeit solcher Unterstellungen ließen sich, Gott sei es geklagt, sicher genügend finden. Und, Gott sei Dank, sicher auch Gegenbeispiele, wo Pfarrerinnen und Kirchenvorsteher, wo Bischöfe und Diakonissen leuchtende Beispiele praktizierter Nächstenliebe sind und Menschen, von denen alle nichts Gutes erwarten, tatsächlich auch nichts Gutes tun. Dieses Bombardement mit Beispielen finde ich langweilig. Liebe zu Gott ohne Liebe zum Nächsten bleibt leer. Und den Nächsten kann und muss ich mir nicht aussuchen, sondern er ist, manchmal buchstäblich, nahe liegend. Er oder sie ist da. Und dadurch, dass ich ihn und seine Anfrage an mich wahr- und ernstnehme, werde ich selbst Nächster. Mitmenschlichkeit macht mich menschlich. Spannender als 1000 Beispiele für die Richtigkeit dessen, was Jesus gesagt hat, zu finden und jedem, der an einem bettelnden Menschen vorbeigeht, ohne ihm was in den Plastikbecher zu legen, ein schlechtes Gewissen zu machen, finde ich die Frage, die die Fortsetzung der Geschichte vom barmherzigen Samariter aufwirft. Erstens: Wie helfe ich wirksam? Und zweitens: muss ich alles Geld für Bedürftige ausgeben oder darf ich auch was behalten und mir einfach was Schönes kaufen?

Zum ersten. Zwei ganz praktische Fragen. Soll ich jedes Mal, wenn Marco meine Hausaufgaben zum Abschreiben will, sie ihm auch geben und ihn bei jeder Arbeit abschreiben lassen? Soll ich jedes Mal, wenn einer der Besoffenen Hartz-IV Empfänger Geld für Brot haben will, weil er Hunger hat und kein Geld mehr, sich welches zu kaufen, ihm welches geben?

Auf die erste Frage würden alle Schüler vermutlich sofort sagen: Ja klar! Auf die zweite Frage würden sicher viele sagen: Nein, der ist doch selbst schuld, wenn er sein Geld versäuft. Wieso der Unterschied? In Not sind doch beide! Ich denke, wenn man, auch im Sinne Jesu, danach fragt: was braucht der andere tatsächlich zum Menschsein?, dann werden die Antworten gar nicht so verschieden sein. Klar, wenn die Gefahr da ist, dass der Abschreiber Ärger mit dem Lehrer kriegt und der es dann nach Hause meldet und zu Hause nicht nur Ärger, sondern Prügel wartet, dann würde ich sagen: Dieses eine Mal ja. Aber das nächste Mal sag vorher Bescheid, dann lernen wir zusammen oder machen die Hausaufgaben zusammen. Ich will dir helfen, dass du es SELBST schaffen kannst. Und wenn der Alkoholiker vor Hunger kurz vorm Zusammenklappen ist, dann kriegt er auch Brot. Aber nicht als Dauerhilfe, sondern ich muss gerade auch bei Suchtkranken NEIN sagen. Ich will dir helfen, von dem, was dich abhängig macht, loszukommen. Ich bin da, wenn du wirklich Hilfe willst und brauchst. Aber ich bin nicht dazu da, dich krank zu halten, weiter krank zu machen und deine Krankheit zu verfestigen. Die Menschlichkeit des anderen sehen und achten heißt auch, in aller Hilfsbedürftigkeit auch die Freiheit und Verantwortung des anderen zu stärken und zu respektieren. Und die eigene Menschlichkeit zu entdecken. Und auch zu den eigenen Grenzen zu stehen. Materielle Grenzen, sicher, Grenzen des Könnens, natürlich, aber auch seelische Grenzen. Wenn ich selbst kaputt gehe, kann ich anderen auch nicht helfen. Das soll keine billige Entschuldigung sein, zu früh zu sagen: das kann ich nicht, das schaff ich nicht. Aber der Samariter hat sich eben auch nur um den einen Verletzten am Wegesrand gekümmert. Und nicht gleichzeitig auch noch um die 150 Waisenkinder in Jericho und die 24 Aussätzigen in einem Dorf bei Bethanien, die 82 unversorgten Alten in einem Jerusalemer Stadtteil und so weiter, die auch an seiner Strecke lagen. Gerade in einer Zeit und in einer Welt, in der man praktisch in Echtzeit von Not rund um die Welt erfährt, ist es erstens wichtig, möglichst viel Not an der Wurzel zu lindern und Hilfe dort dann überflüssig werden zu lassen und sich zweitens nicht durch Allmachts- und Allzuständigkeitsphantasien zu lähmen - ich muss alles, ohne mich geht nichts - sondern sich in der unübersehbaren Fülle auf den einen oder die zwei zu konzentrieren, für die ich wirklich Mensch sein kann und nicht aus einem Überlastungsgefühl heraus letztlich nichts zu machen.

Und wo wir gerade bei den Grenzen sind, sind wir auch bei der zweiten Frage: darf ich mir was Schönes gönnen, wo ich doch auch mit dem Geld anderen helfen könnte? Gerade heute für unsere Gemeinde wichtig. Als Kirchengemeinde haben wir uns schöne neue Paramente, Tücher für Kanzel und Altar gekauft. Von dem Geld hätten bestimmt zwei Menschen in Afrika ein Jahr essen können oder man hätte einem in Bangladesh ein Ausbildungsstipendium geben können. Und gerade heute, bei dem Predigttext, legen wir sie zum ersten Mal auf. Ich mache das ohne schlechtes Gewissen. Liebe deinen Nächsten, sagt nicht nur Jesus, sondern das steht schon im Alten Testament, wie dich selbst. Für mich zeigen die neuen Paramente, dass kirchliche Gemeinschaft auch auf dem Richtsberg wertvoll ist und was Schönes verdient hat. Wir sind nicht weniger wert als die Elisabethkirche oder die Pfarrkirche, sondern wir sind auf unsere eigene Art wichtig und dürfen uns an Schönem freuen. Nur wer ein gesundes Selbstwertgefühl hat, kann beim Aufbau oder beim Wiederfinden eines eigenen Selbstwertgefühls helfen.

Jesus ermuntert uns dazu, das zu werden, was wir in Gottes Augen sind: Mensch für Menschen, Mensch durch Menschen, Mensch mit Menschen. Dazu gebe er uns Mut, Kraft und seinen Segen.

Amen

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