Predigttext: 2. Korinther 5,1-10
Liebe Gemeinde!
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land?“ „Herr Pfarrer, sie sind der Schönste hier!“ Nein, so geht’s nicht zu, morgens bei mir im Bad, wenn ich zum Rasieren in den Spiegel schaue. Ich bin mal mehr, mal weniger zufrieden mit dem, was mir da entgegenschaut. Der Schönste war ich nie und werde ich nie sein, aber das Gefühl, dass mein Körper eine Hütte sei, die möglichst bald abgebrochen werden müsste, wie Paulus es hier in der Bibel schreibt, habe ich auch sehr selten. Und Sie? Und Ihr? Wahrscheinlich geht es den meisten wie mir. Es gibt Tage, da fühle ich mich in meiner Haut richtig wohl, aber es gibt auch Tage, da kann ich Paulus gut verstehen, wenn er schreibt, dass unser Leib, unser Leben hier auf der Welt bestenfalls eine Hütte ist, die doch bald mal abgebrochen werden müsste um etwas Schönerem, Besseren Platz zu machen. Wie kommt Paulus eigentlich dazu, so negativ über dieses Leben zu schreiben? Wahrscheinlich war er, als er diesen Brief geschrieben hat, ziemlich krank. Er spürte, dass das alles nicht mehr so klappt. Das, was er will und vorhat, macht sein Körper nicht mehr so mit. Er ist sich sicher, dass Gott noch viel mehr und viel Größeres für ihn hat als diesen kranken Körper und deshalb hofft er, dass Gott ihn endlich von diesem abbruchreifen Äußeren befreit und zu sich nach Hause holt. Ich frage mich manchmal, ob das nicht gefährlich ist, wenn ich Paulus hier Recht gebe. Immer wieder in meinem Leben bin ich Menschen begegnet, die ihren Körper nicht leiden konnten und dadurch krank wurden. Menschen, die sich selbst deshalb vernichten wollten. Ich denke an mehrere sehr gute Bekannte, die durch Magersucht oder Ess-Brech-Sucht aus dieser, wie sie dachten, abbruchreifen Hütte raus wollten und auch an welche, die durch Schmerzen, durch Ritzen ihren Körper bestrafen und manchmal auch vernichten wollten. Was kann ich da sagen, was nicht billig oder falsch oder verantwortungslos wäre? Und dann denke ich an Menschen wie meine Patentante, die mehr als 25 Jahre unvorstellbare Schmerzen durch eine Krankheit hatte, die sich immer weniger bewegen konnte, die in ihren letzten Lebensjahren, bei klarem Verstand, praktisch nichts mehr allein machen konnte. Mehr als nur einmal hatte sie den Wunsch geäußert, dass sie diesen kranken Körper und damit ihr Leben endlich loswerden möchte. Was kann ich da sagen, was nicht billig oder falsch oder verantwortungslos wäre? Und ich denke auch an die vielen Gespräche, mit Menschen, die in Krankenhäusern und Altersheimen andere betreuen und pflegen, mit Gesunden und Kranken in jedem Alter, nicht zuletzt auch mit meinen Eltern, wie krank ein Körper sein darf oder sein muss, damit man ihn nicht mehr am Leben erhält und sterben lässt. Unser Körper ist sterblich. Darf man daran Lust haben? Darf man Lust haben, den Körper einfach aufzugeben, zu sterben?
Paulus macht in seinem Brief etwas ganz Wichtiges. Er redet nicht alles schlecht, sagt nicht: „Ich nehme jetzt Gift oder bringe mich auf andere Weise um, hat ja sowieso alles keinen Zweck mehr“. So eine Haltung zieht einen tatsächlich immer weiter runter, so dass am Ende das Wegwerfen von Leben als sogar christlich gebotene Haltung erscheint. Paulus redet nichts schön. Aber er lässt sich auch nicht immer tiefer ziehen. Für ihn spielt die Hoffnung eine wichtige Rolle. Die Hoffnung, dass die Einschränkungen und Krankheiten und Schwierigkeiten nicht alles sind, sondern dass sie zeitlich begrenzt sind. Und dass schon jetzt Grund da ist, sich auf das zu freuen, was Gott an Leben bereithält, wenn unser Leben, und damit auch unser Verstand und unsere Vorstellungskraft, an ein Ende gekommen sind. Was mir dabei wichtig ist, dass Paulus weder dazu aufruft, sein Leben einfach so wegzuwerfen, weil es ja nichts wert sei, noch einfach so vor sich hin zu leben und sich um nichts zu kümmern, weil angesichts der Heimat, die Gott den Menschen bei sich schenkt, alles jetzt in dieser Welt egal wäre.
Paulus sagt, so verstehe ich ihn, dass wir Menschen bei aller berechtigten Vorfreude auf das, was mal sein wird, nun mal hier und jetzt leben und für genau dieses Leben hier und jetzt Verantwortung haben. Egal, ob wir daheim, das heißt bei Gott, oder in der Fremde, das heißt hier in dieser Welt, sind: es geht darum verantwortungsvoll und richtig zu leben. „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.“ Gott entlässt uns Menschen nicht aus der Verantwortung für unser Leben. Lebe jetzt und lebe verantwortlich, es ist nicht egal, was du machst, wie du lebst.
Wie passt das denn zu der Botschaft von Jesus, dass er gerade für die Menschen gekommen ist, die Schuld auf sich geladen haben? Wie passt das denn zu dem, was Paulus selber im Römerbrief schreibt, dass kein Mensch durch seien Taten gut und gerecht wird? Wie passt das denn zu der, wie ich finde, richtigen Einsicht von Martin Luther, dass nicht die Werke, sondern der Glauben und Gottes Gnade allein zählen?
Es passt dadurch dazu, dass Liebe, Vergebung und Gnade keine Einbahnstrasse sind. Es sind Angebote, die Gott für ein gutes Leben macht. Angebote, zu denen ich mich verhalten kann und verhalten muss. Liebe, Vergebung, beides entlässt mich nicht aus meiner Verantwortung für das Leben, auch für mein Leben. Im Gegenteil, es stellt mich auch vor die Zeiten und Gegebenheiten in meinem Leben, wo ich lieblos war und vielleicht auch bin, wo ich Vergebung nötig habe, wo ich anderen nicht vergeben konnte.
Gott hat uns nicht ein billiges Rundum-Sorglos-Paket für unser Leben gepackt, einmal erhalten und ausgepackt, schon ist immer für alle Zeiten alles gut. Nein, Gott traut uns Menschen eine Menge zu. Er traut uns zu, dass wir die Kraft haben, Verantwortung zu übernehmen.
Gerade in diesen Tagen wird das für mich noch einmal deutlich. Vor 90 Jahren ging der erste Weltkrieg zu Ende, vor 70 Jahren haben in Deutschland, auch hier in Marburg, die Synagogen gebrannt. Nur sehr, sehr wenige Christen haben unter Gefahr für ihr eigenes Leben Partei ergriffen und denen, die allein wegen ihres Glaubens verfolgt und vernichtet wurden, geholfen. Und heute, am Volkstrauertag, wird überall an die Opfer des Krieges und des Nationalsozialismus erinnert. Jetzt kann natürlich der Einwand kommen: Was sollen die ganzen alten Geschichten? Viele, die heute hier Gottesdienst mitfeiern, waren in dieser Zeit noch gar nicht auf der Welt als Juden in Deutschland verfolgt wurden oder der 2. Weltkrieg ausbrach, andere waren Kinder oder Jugendliche. Und viele unter uns lebten in dieser Zeit in Russland und haben selbst unter lebensbedrohlicher Verfolgung gelitten. Praktisch niemand, der heute hier Gottesdienst feiert, könnte auch nur theoretisch persönlich verantwortlich sein.
Verantwortung für das Leben zu haben, im Sinne der Liebe Gottes zu uns, das heißt auch, sich der Frage zu stellen, wie ich mit dem umgehe, was ich weiß. Sage ich „Was soll’s, geht mich nichts an! Ich war zu jung, hab nicht hier gelebt, war noch nicht auf der Welt, also muss mich das gar nicht berühren!“? Oder kann ich sagen: „Dafür bin ich zwar nicht verantwortlich. Aber ich kann da, wo ich hier und heute bin, Verantwortung dafür übernehmen, dass Menschen nicht mehr wegen ihrer Religion ihr Menschsein abgesprochen wird. Ich kann mich dafür einsetzen, dass Menschen nicht mehr wegen ihres Glaubens, der anders ist als der der Mehrheit, lächerlich gemacht werden, abgestempelt werden, dass ihnen ihr Menschsein abgesprochen wird.“ Es geht nicht darum, Schuld auf sich zu laden für eine Vergangenheit, für die ich nichts kann. Es geht darum, Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen und nicht so zu tun, als ginge mich alles nichts an. Ich habe Verantwortung - aber ich kann sie tragen, weil Gott mir immer wieder mit Liebe begegnet, auch da, wo ich der Verantwortung nicht gerecht werde. Ich kann und darf umkehren, neu anfangen. Ich kann und darf Fehler und Schuld bereuen und den Versuch starten, Dinge in meinem Leben, mein Leben überhaupt anders und besser zu machen. Für mich gehört dazu auch, dass ich mit dem, was Paulus über sein krankes Leben sagt, nämlich dass er den Wunsch hat, diese armselige Hütte Körper zu verlassen, vorsichtig umgehe. Wenn ich mich dazu verleiten lasse, den Schluss zu ziehen, dass dann das Leben hier in dieser Welt sowieso nichts wert ist, dann muss ich aufpassen, dass ich nicht anfange, Leben in lebenswertes und vor allem lebensunwertes Leben einzuteilen. Es gibt kein Leben, dass es nicht wert wäre, gelebt zu werden. Auch mein eigenes Leben ist es wert, gelebt und nicht weggeworfen zu werden. Mir darf dabei auch manches schwer sein, gerade wenn ich Einschränkungen durch Krankheit erfahre, wenn ich mit anderen Menschen traurige Erfahrungen mache. Ich darf Angst und Zweifel haben, und eben gerade die Hoffnung, dass Gott nicht meine Zweifel auslacht, sondern mir helfen will, sie zu überwinden. Ich darf sterben wollen, wenn’s dran ist - und muss nicht sinnlos aus Forscherdrang weiterleben müssen. Ich muss nicht alles tun, damit mein Körper äußerlich nach den Maßstäben von - ja, von wem denn, von den Machern von Playboy oder Men’s Health?, durch Operationen oder so super wird. Aber ich darf mich drauf freuen und hoffen, dass noch was anderes kommt. „Wir werden auch an dieses Ziel gelangen, denn Gott selbst hat in uns die Voraussetzung dafür geschaffen: Er hat uns ja schon als Anzahlung auf das ewige Leben seinen Geist gegeben. Deshalb bin ich in jeder Lage zuversichtlich. Ich weiß zwar: Solange ich in diesem Körper lebe, bin ich vom Herrn getrennt. Wir leben ja noch in der Zeit des Glaubens, noch nicht in der Zeit des Schauens. So schreibt Paulus. Diese Zeit wird kommen. Freuen wir uns drauf. Amen.
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