Liebe Gemeinde!
Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind von meinen Eltern zur Strafe wirklich geschlagen worden zu sein. Gott sei Dank! Bis auf eine einzige Ausnahme, an die ich mich noch gut erinnere. Was der Anlass war, weiß ich gar nicht mehr so genau, aber meine Mutter schimpfte mich nach allen Regeln der Kunst aus. Es war ein Vormittag, kurz vor dem Mittagessen, wohl in den Schulferien. Sie schimpfte und steigerte sich immer mehr hinein und ich fing an zu lachen. Je mehr sie schimpfte, desto mehr musste ich lachen. Sie konnte sich dann nicht mehr anders helfen, als den Kochlöffel zu nehmen. Mein Hinterteil war stabiler als der Löffel.
Dieses Erlebnis, das schon mehr als dreißig Jahre zurückliegt, hat in mir Skepsis geweckt. Die Skepsis, dass Wut und Zorn, und wenn sie auch noch so berechtigt sind, wirklich etwas ändern. Es ist manchmal gut, als Ventil für sich selbst, um keine Magengeschwüre zu kriegen, die eigene Wut und den eigenen Zorn nicht herunterzuschlucken, sondern raus zu lassen. Aber ob Schimpftiraden bei dem, der Auslöser meines Zorns ist, wirklich was ändern oder ob der Angeschrieene nicht vielmehr die Ohren auf Durchzug stellt, je mehr ich mich in diese Wut hineinbegebe? Ich weiß es nicht. Aber, wie gesagt, mein eigenes Beispiel macht mich skeptisch, ob Zorn wirklich viel ändert. Deshalb finde ich es auch schade, dass der Predigttext für den Buß- und Bettag heute so aufhört. Er besteht nur aus Anklagen. Klar, wenn das Motto für den Buß- und Bettag 2008 „Ehrlich“ ist, dann gehört auch das mit dazu. Es gehört mit dazu, dass wir als einzelne Christen, als Kirchengemeinde und als Kirche überhaupt nicht die Augen davor zu machen, dass sicher ganz vieles bei uns nicht in Ordnung ist. Der Prophet Jesaja beklagte sich vor langer Zeit darüber, dass viele ihren Glauben nur noch sozusagen äußerlich leben, dass er sich in schönen, aufwendigen Gottesdiensten und Feiern erschöpft, dass aber niemand danach schaut, wie es den Armen im Lande geht. Gottes Willen, so sagt es Jesaja hier, ist soziale Gerechtigkeit, ein Glauben, der auf der Seite der Armen ist und nicht eine Schauveranstaltung. Jetzt ist es heutzutage sicher leicht, viele Beispiele dafür zu finden, wo es armen Menschen nicht gut geht. Ich habe fast jeden Tag mit Menschen zu tun, deren Geld hinten und vorne nicht reicht. Durch die weltweite Berichterstattung im Fernsehen und in anderen Medien sind wir mit Armen und Rechtlosen weltweit verknüpft. Es gibt mehr Armut und Elend auf der Welt, als wir hier mit unseren Kräften lösen könnten. Und wenn wir mal ehrlich sind: so schlecht, dass wir als Kirche uns den Schuh anziehen müssten, bei uns hätten die Armen keinen Platz und wir würden nur eine christliche Festfassade aufrecht erhalten, sind wir als Kirche nicht. Kirchliche Werke, Diakonie oder Caritas, Brot für die Welt oder Misereor und ganz viele Einzelinitiativen helfen ganz entscheidend mit dabei, die Rechte der Armen und Unterdrückten nicht aus dem Blick zu verlieren. Gerade wir als Kirche, und damit meine ich wirklich wir, denn Kirche besteht ja aus ganz vielen einzelnen Christen in Marburg, in Omsk, weltweit, haben viel Grund, nicht in die billige Anklage einzustimmen: „Wir sind ja alle so schlecht und tun nichts!“ Natürlich kann man immer noch mehr tun und wird nie fertig werden. Wenn „ehrlich“ das Motto des Buß- und Bettags ist, dann heißt das auch, Mut zur Ehrlichkeit im positiven Sinn zu haben und sich nicht jeden Schuh anzuziehen, der einem hingehalten wird.
Der Sinn des Buß- und Bettags und auch der Sinn des Predigttextes für heute ist nicht, sich ständig klein und schlecht und vom Untergang bedroht zu fühlen. Im Gegenteil. Der Sinn ist es für mich, die Kraft zu haben oder zu bekommen, Stachel im Fleisch einer Gesellschaft, einer Weltordnung zu sein, in der Neid und gier als positive Antriebskräfte viel zu oft und viel zu lang hingenommen wurden. Stachel im Fleisch einer Weltordnung zu sein und zu bleiben, die Korruption für ein Kavaliersdelikt hält, die nichts dabei findet, dass nicht die Person und ihre Bedürfnisse entscheidend sind, sondern Beziehungen, Herkunft, äußeres Ansehen oft genug die Hauptrolle zu spielen scheinen.
Glaubwürdig können wir als Kirche im Großen, als Gemeinde vor Ort und als einzelner Christ aber nur dann sein, wenn wir tatsächlich auch ehrlich zu uns selbst sind. Wenn wir bereit sind, die Augen nicht vor dem zuzumachen, was auch bei uns nicht gut läuft. Wenn wir bereit sind, auch unsere Schuld zu sehen und einzugestehen. Es ist billig, die Welt anzuklagen, auf die Politiker, die Banker, die Wirtschaftsbosse oder wen auch immer zu verweisen, wenn ich nicht bereit bin, zuallererst mich selber anzuschauen. Erst dann kann es weitergehen. Aus diesem Grund finde ich den Buß- und Bettag und sein Anliegen wichtig und alles andere als überholt. Ich kann nur dann glaubwürdig für andere eintreten und anderen vors Schienbein treten, wenn ich zu mir selbst ehrlich bin und bereit bin, da, wo es nötig ist, mir auch vors Schienbein treten zu lassen, um von falschen Wegen abzukommen. Was gut an unserer christlichen Botschaft ist, was gut auch an der Botschaft Jesajas ist, ist, dass sie nicht beim Schimpfen und beim Aufzeigen von Versagen stehen bleibt. Bei Jesaja heißt es unmittelbar im Anschluss an unseren Predigttext: Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden. 19 Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen. 20 Weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden. Vergebung und Umkehr ist möglich. Im Prinzip richtet ihr euch selber, so verstehe ich hier Gottes Wort bei Jesaja: Wenn ihr umkehrt, wenn die Sache der Armen und Rechtlosen Platz in eurer Gesellschaft hat, dann werdet ihr die Güter eures Landes genießen können. Wenn ihr aber eine Gesellschaft bleibt, die auf Ausgrenzung, Gier und Neid baut, werdet ihr untergehen. Es ist nicht der Kochlöffel, nicht der Zorn, der das letzte Wort behält, sondern das nüchterne Aufzeigen der Möglichkeiten und Konsequenzen. Und das Vertrauen, dass ein ehrliches Anschauen auch der dunklen Seiten zu Veränderungen zum Guten führt. Für uns auch dadurch, dass wir durch Jesus Christus erfahren haben, dass uns auch Schuld nicht mehr endgültig von Gott trennt. Dass Vergebung und Neuanfang kein leeres Gerde, sondern lebendige Möglichkeit sind. Ich wünsche uns, dass wir auf diese Art einladend für die Welt sind. Indem wir vorleben, dass Ehrlichkeit und Umkehr möglich sind und nicht indem wir drohen und schimpfen und zetern. Amen
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