Noch nicht mal eine Woche später war er tot! Vom umjubelten Popstar bis zum perfekten Sündenbock in 5 Tagen. Dieselben Menschen, die ihm eben noch einen triumphalen Empfang bereitet haben, die in ihm die Erfüllung ihrer Sehnsüchte nach Gottes Nähe und Zuwendung gesehen haben, schreien „Kreuziget ihn!“ Moment mal, hab ich da nicht etwas verwechselt? Wir haben jetzt Advent, Geburtsvorbereitung, Vorfreude auf ein schönes Weihnachtsfest. Gute, besinnliche Stimmung. Nicht kurz vor Ostern, Blick auf Karfreitag! Ja, wir haben Advent! Wir haben „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ gesungen, vom Chor haben wir eine festliche Adventskantate gehört, „Stimmt Hosianna an“. Es ist Advent. Klar. Und was ist in vier Wochen? „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt!“ Das wird wohl kaum passieren. Und von denen, die heute Gottesdienst feiern, werden sicher auch manche am Sonntag nach Weihnachten wieder da sein. Aber ändert sich durch Advent und Weihnachten wirklich etwas, bei mir, bei ihnen und euch, in der Welt? Oder machen wir, auch die, die gern Gottesdienst feiern, nicht weiter wie immer? Lass wir uns stören von dem, von dem wir singen, dass wir ihn als König in unser Herz rein lassen wollen? Oder glauben wir, dass wir ihn schon gut genug kennen? Die Leute, die vor zweitausend Jahren Jesus beim Einzug in Jerusalem bejubelt haben, die waren konsequent. Als sie merkten, dass ihr Superstar gar nicht so war, wie sie ihn haben wollten, haben sie radikal die Meinung geändert. Von „Hosianna“ zu „kreuzigt ihn!“. Nicht, dass ich das vorbildlich finden würde. Aber ich frage mich manchmal schon: Wie wäre das, wenn wir im Advent nicht nur singen würden „Komm, o mein Heiland Jesus Christ“, sondern wenn er tatsächlich kommen würde. Würde wir uns stören lassen, würden wir ihn kennen oder kennen wollen?
Würde Jesus sich in der Adventszeit 2008 auf den Weihnachtsmarkt stellen und einen Glühwein trinken? Würden wir ihn an den Adventssamstagen bei Ahrens oder H&M finden? Ich bin mal so frei und behaupte: Ja, das würden wir. Wir könnten mit Jesus einen Glühwein trinken und ihn auch im Kaufhaus finden. Vielleicht würden wir ihn am Glühweinstand nicht gleich erkennen. Vielleicht wäre er der mit der dicken roten Nase und dem schäbigen Mantel, von dem wir denken: der hat bestimmt schon drei Glühwein zu viel getrunken!
Jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie einige denken: „Wie kann der Pfarrer das nur behaupten! Kennt der Jesus denn? In der Bibel stehen doch ganz andere Sachen, da hat Jesus doch gewaltig dagegen protestiert, dass rund um die Religion Geschäfte gemacht werden!“ Ja, kurz nach dem triumphalen Einzug in Jerusalem hat Jesus die Händler aus dem Tempel geworfen. Und so kann man sich natürlich gut vorstellen, dass Jesus nicht Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken würde, sondern die Buden vor Zorn über den Rummel, der rund um seinen Geburtstag gemacht wird und bei dem es oft gar nicht mehr um diesen Geburtstag und die Vorbereitung darauf zu gehen scheint, kaputt treten würde. Und auch ich kann mir vorstellen, dass Jesus zwar in Kaufhäuser gehen würde, da aber die Lautsprecher mit der Weihnachtsmusik aus den Decken reißen und die Kassen auf die Straße werfen würde um ein für allemal klar zu machen, dass Advent nichts mit Geld und Gewinn zu tun hat.
Was würde Jesus heute tun? Für Martin Niemöller, einen evangelischen Pfarrer im letzten Jahrhundert, war das die wichtigste Frage für einen Christen und für die Kirche. Niemöller war ein sehr wichtiger und interessanter Mensch. Bevor die Nazis 1933 an die Macht kamen, war er selbst von ihren Ideen überzeugt und hat sie bei jeder Wahl gewählt. Sehr schnell ging er dann aber in den Widerstand gegen die Nazis, war ein Mitbegründer der Bekennenden Kirche und saß im KZ ein. Nach dem Krieg hat er viel für die weltweite Ökumene getan und war Präsident der Kirche Hessen-Nassau. Ihm war aus eigener Erfahrung wichtig, dass Christen nicht zuerst fragen: „Was ist weltpolitisch oder für die Wirtschaft wichtig?“ Sondern: „Was würde Jesus tun?“ Und dass sie dann in der Nachfolge Jesu auch versuchen, entsprechend zu handeln.
Ich finde diesen Ansatz gut und richtig, gerade im Advent 2008. Und Martin Niemöller hat ihn glaubwürdig vorgelebt. Und trotzdem hat er einen Haken. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich doch gar nicht, was Jesus wirklich heute tun würde. Wenn ich es genau wüsste, dann wäre ich ja auf einer Stufe mit Jesus. Ich kann mich fragen, klar. Ich kann aus dem, was ich aus der Bibel kenne, nach Antworten suchen. Aber ich muss aufpassen, dass ich meinen Willen, meine Vorstellungen nicht mit dem verwechsele, was Jesu, was Gottes Willen ist. Wenn ich die Bibel lese und gerade auch die Geschichte vom Einzug in Jerusalem, die für den 1. Advent 2008 als Predigttext vorgesehen ist, dann sehe ich: das, was Jesus tut, ist meistens nicht das, was die Leute denken oder von ihm erwarten. Er, von dem alle Heldentaten erwarten, kommt nicht heldisch und kriegerisch auf einem Pferd oder wenigstens einem ausgewachsenen Esel daher. Auf einem Eselsfüllen, das auch noch von seiner Mutter begleitet werden muss, eher armselig, zeigt er sich den Menschen. Man stelle sich mal vor, ein Regierungschef oder ein Superstar, der nicht im großen Benz oder BMW oder so daherkommt, sondern mit einem 10 Jahre alten Golf vorfährt. Und Jesus hat sich nicht auf dem Beifall ausgeruht. Er erfüllt nicht die Erwartungen der Frommen, dass er die, die bisher von Gott nichts wissen wollten, links liegen lässt. Er erfüllt nicht die Erwartungen von denen, die meinen, mit Gewalt für ihren Glauben kämpfen. Wohin ihn das alles führt, habe ich ja am Anfang schon gesagt: Vom Superstar zum Todeskandidaten in 5 Tagen.
Wie gesagt, ich weiß nicht wirklich, was Jesus heute tun würde. Aber gerade weil er einer ist, der die überrascht, die von sich denken, sie wüssten, was im Glauben an Gott richtig und was falsch ist, kann ich mir vorstellen, dass er heute sich durchaus auf den Weihnachtsmarkt stellen würde und wir ihn an der Glühweinbude treffen könnten. Oder in der Schlange vor der Umkleidekabine bei H&M oder an der Kassenschlange im Ahrens. Ich glaube aber nicht, weil er resigniert hätte und sagen würde: So muss man halt heute Advent feiern, ist schon in Ordnung, dass der Inhalt nicht mehr so eine Rolle spielt. Und ich glaube auch nicht deshalb, weil er sagen würde: Ist doch toll, endlich mal was los, so viele bunte Lichter gab’s früher nicht. Nein, ich glaube, er wäre aus einem einzigen Grund da: Weil da die Menschen sind. Wenn’s gut läuft sind heute vielleicht 600, 700 Menschen in den evangelischen Gottesdiensten in Marburg - Auf dem Weihnachtsmarkt werden heute mehr sein. Und im Ahrens oder im H&M sind an den Adventssamstagen auch deutlich mehr. Jesus drückt sich nicht vor den Menschen, er läuft nicht vor denen weg, die nichts von ihm wissen wollen, er lässt sich auch nicht vom Jubel blenden. Jesus sieht die Menschen, sieht uns, wie wir sind. Und so will er in unser Leben kommen. Ich glaube wirklich, er wäre heute auch auf dem Weihnachtsmarkt, auch am Glühweinstand, auch im Kaufhaus. Aber er würde, denke ich, dort nicht bleiben. Er würde die Menschen, die er dort trifft, vielleicht an die Hand nehmen und ihnen die Augen öffnen für das, was auch zum Leben gehört. Für die Opfer einer Welt, in der oft genug jeder nur sich selbst der Nächste zu sein scheint. Für die Leere, für die Traurigkeit, für die Trauer, die so oft Teil des Lebens ist. Für alles das, was nicht festlich beleuchtet, sondern versteckt und unter den Teppich gekehrt wird. Auch für die eigene Schuld und eigenes Versagen. Und er würde die Menschen damit nicht allein lassen. Sondern er würde den Menschen die Augen auch öffnen für das Schöne, für die Liebe, für Vergebung, Mitmenschlichkeit und Hilfe, die ja auch da sind. Was würde Jesus heute tun? Menschen stark machen, damit sie sich freuen können. Uns alle zur Vernunft bringen. Und ich glaube, dass er auch in die Thomaskirche kommen würde. Und vielleicht würde ER UNS sagen: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit: Igelt euch nicht ein, geht raus, lasst die von draußen zu euch kommen. Aber ich glaube auch, dass er dabei helfen würde, vor lauter Offenheit nicht die Besinnung zu verlieren. Ja, Jesus bringt Menschen zur Besinnung. Hoffentlich auch uns. Damit wir alle nicht nur besinnlich, sondern besonnen feiern. leben, da sein können. Wenn Jesus kommt, dann ist nichts und niemand vor Überraschungen sicher. Dann werden auch Pläne und falsche Wege durchkreuzt. Aus dem Nazi Niemöller wurde der Widerstandskämpfer und KZ-Insasse. Aus dem umjubelten Superstar der Sündenbock. Aus dem Kind in der Krippe der Mann am Kreuz. Aus dem Mann am Kreuz das Heil der Welt, die Liebe, die größer ist als alle Vernunft. Und was wird aus uns? Aus dem Kirchenbesucher? Aus der Zweiflerin? Aus dem gelangweilten Konfi? Aus dem Glühweintrinker? Aus dem Kaufhausbesucher? Wenn Jesus in die Welt kommt, ändert sich was. Sind wir dazu bereit? Aber Gott sei Dank gibt es ja den Advent, die Zeit sich vorzubereiten. Und was ist in vier Wochen?