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Donnerstag, 27. November 2008

Jesus am Glühweinstand? - 1. Advent, 30.11. 2008, Reihe I

Text: Mt 21,1-9
Liebe Gemeinde!
Noch nicht mal eine Woche später war er tot! Vom umjubelten Popstar bis zum perfekten Sündenbock in 5 Tagen. Dieselben Menschen, die ihm eben noch einen triumphalen Empfang bereitet haben, die in ihm die Erfüllung ihrer Sehnsüchte nach Gottes Nähe und Zuwendung gesehen haben, schreien „Kreuziget ihn!“ Moment mal, hab ich da nicht etwas verwechselt? Wir haben jetzt Advent, Geburtsvorbereitung, Vorfreude auf ein schönes Weihnachtsfest. Gute, besinnliche Stimmung. Nicht kurz vor Ostern, Blick auf Karfreitag! Ja, wir haben Advent! Wir haben „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ gesungen, vom Chor haben wir eine festliche Adventskantate gehört, „Stimmt Hosianna an“. Es ist Advent. Klar. Und was ist in vier Wochen? „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt!“ Das wird wohl kaum passieren. Und von denen, die heute Gottesdienst feiern, werden sicher auch manche am Sonntag nach Weihnachten wieder da sein. Aber ändert sich durch Advent und Weihnachten wirklich etwas, bei mir, bei ihnen und euch, in der Welt? Oder machen wir, auch die, die gern Gottesdienst feiern, nicht weiter wie immer? Lass wir uns stören von dem, von dem wir singen, dass wir ihn als König in unser Herz rein lassen wollen? Oder glauben wir, dass wir ihn schon gut genug kennen? Die Leute, die vor zweitausend Jahren Jesus beim Einzug in Jerusalem bejubelt haben, die waren konsequent. Als sie merkten, dass ihr Superstar gar nicht so war, wie sie ihn haben wollten, haben sie radikal die Meinung geändert. Von „Hosianna“ zu „kreuzigt ihn!“. Nicht, dass ich das vorbildlich finden würde. Aber ich frage mich manchmal schon: Wie wäre das, wenn wir im Advent nicht nur singen würden „Komm, o mein Heiland Jesus Christ“, sondern wenn er tatsächlich kommen würde. Würde wir uns stören lassen, würden wir ihn kennen oder kennen wollen?

Würde Jesus sich in der Adventszeit 2008 auf den Weihnachtsmarkt stellen und einen Glühwein trinken? Würden wir ihn an den Adventssamstagen bei Ahrens oder H&M finden? Ich bin mal so frei und behaupte: Ja, das würden wir. Wir könnten mit Jesus einen Glühwein trinken und ihn auch im Kaufhaus finden. Vielleicht würden wir ihn am Glühweinstand nicht gleich erkennen. Vielleicht wäre er der mit der dicken roten Nase und dem schäbigen Mantel, von dem wir denken: der hat bestimmt schon drei Glühwein zu viel getrunken!

Jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie einige denken: „Wie kann der Pfarrer das nur behaupten! Kennt der Jesus denn? In der Bibel stehen doch ganz andere Sachen, da hat Jesus doch gewaltig dagegen protestiert, dass rund um die Religion Geschäfte gemacht werden!“ Ja, kurz nach dem triumphalen Einzug in Jerusalem hat Jesus die Händler aus dem Tempel geworfen. Und so kann man sich natürlich gut vorstellen, dass Jesus nicht Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken würde, sondern die Buden vor Zorn über den Rummel, der rund um seinen Geburtstag gemacht wird und bei dem es oft gar nicht mehr um diesen Geburtstag und die Vorbereitung darauf zu gehen scheint, kaputt treten würde. Und auch ich kann mir vorstellen, dass Jesus zwar in Kaufhäuser gehen würde, da aber die Lautsprecher mit der Weihnachtsmusik aus den Decken reißen und die Kassen auf die Straße werfen würde um ein für allemal klar zu machen, dass Advent nichts mit Geld und Gewinn zu tun hat.

Was würde Jesus heute tun? Für Martin Niemöller, einen evangelischen Pfarrer im letzten Jahrhundert, war das die wichtigste Frage für einen Christen und für die Kirche. Niemöller war ein sehr wichtiger und interessanter Mensch. Bevor die Nazis 1933 an die Macht kamen, war er selbst von ihren Ideen überzeugt und hat sie bei jeder Wahl gewählt. Sehr schnell ging er dann aber in den Widerstand gegen die Nazis, war ein Mitbegründer der Bekennenden Kirche und saß im KZ ein. Nach dem Krieg hat er viel für die weltweite Ökumene getan und war Präsident der Kirche Hessen-Nassau. Ihm war aus eigener Erfahrung wichtig, dass Christen nicht zuerst fragen: „Was ist weltpolitisch oder für die Wirtschaft wichtig?“ Sondern: „Was würde Jesus tun?“ Und dass sie dann in der Nachfolge Jesu auch versuchen, entsprechend zu handeln.

Ich finde diesen Ansatz gut und richtig, gerade im Advent 2008. Und Martin Niemöller hat ihn glaubwürdig vorgelebt. Und trotzdem hat er einen Haken. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich doch gar nicht, was Jesus wirklich heute tun würde. Wenn ich es genau wüsste, dann wäre ich ja auf einer Stufe mit Jesus. Ich kann mich fragen, klar. Ich kann aus dem, was ich aus der Bibel kenne, nach Antworten suchen. Aber ich muss aufpassen, dass ich meinen Willen, meine Vorstellungen nicht mit dem verwechsele, was Jesu, was Gottes Willen ist. Wenn ich die Bibel lese und gerade auch die Geschichte vom Einzug in Jerusalem, die für den 1. Advent 2008 als Predigttext vorgesehen ist, dann sehe ich: das, was Jesus tut, ist meistens nicht das, was die Leute denken oder von ihm erwarten. Er, von dem alle Heldentaten erwarten, kommt nicht heldisch und kriegerisch auf einem Pferd oder wenigstens einem ausgewachsenen Esel daher. Auf einem Eselsfüllen, das auch noch von seiner Mutter begleitet werden muss, eher armselig, zeigt er sich den Menschen. Man stelle sich mal vor, ein Regierungschef oder ein Superstar, der nicht im großen Benz oder BMW oder so daherkommt, sondern mit einem 10 Jahre alten Golf vorfährt. Und Jesus hat sich nicht auf dem Beifall ausgeruht. Er erfüllt nicht die Erwartungen der Frommen, dass er die, die bisher von Gott nichts wissen wollten, links liegen lässt. Er erfüllt nicht die Erwartungen von denen, die meinen, mit Gewalt für ihren Glauben kämpfen. Wohin ihn das alles führt, habe ich ja am Anfang schon gesagt: Vom Superstar zum Todeskandidaten in 5 Tagen.

Wie gesagt, ich weiß nicht wirklich, was Jesus heute tun würde. Aber gerade weil er einer ist, der die überrascht, die von sich denken, sie wüssten, was im Glauben an Gott richtig und was falsch ist, kann ich mir vorstellen, dass er heute sich durchaus auf den Weihnachtsmarkt stellen würde und wir ihn an der Glühweinbude treffen könnten. Oder in der Schlange vor der Umkleidekabine bei H&M oder an der Kassenschlange im Ahrens. Ich glaube aber nicht, weil er resigniert hätte und sagen würde: So muss man halt heute Advent feiern, ist schon in Ordnung, dass der Inhalt nicht mehr so eine Rolle spielt. Und ich glaube auch nicht deshalb, weil er sagen würde: Ist doch toll, endlich mal was los, so viele bunte Lichter gab’s früher nicht. Nein, ich glaube, er wäre aus einem einzigen Grund da: Weil da die Menschen sind. Wenn’s gut läuft sind heute vielleicht 600, 700 Menschen in den evangelischen Gottesdiensten in Marburg - Auf dem Weihnachtsmarkt werden heute mehr sein. Und im Ahrens oder im H&M sind an den Adventssamstagen auch deutlich mehr. Jesus drückt sich nicht vor den Menschen, er läuft nicht vor denen weg, die nichts von ihm wissen wollen, er lässt sich auch nicht vom Jubel blenden. Jesus sieht die Menschen, sieht uns, wie wir sind. Und so will er in unser Leben kommen. Ich glaube wirklich, er wäre heute auch auf dem Weihnachtsmarkt, auch am Glühweinstand, auch im Kaufhaus. Aber er würde, denke ich, dort nicht bleiben. Er würde die Menschen, die er dort trifft, vielleicht an die Hand nehmen und ihnen die Augen öffnen für das, was auch zum Leben gehört. Für die Opfer einer Welt, in der oft genug jeder nur sich selbst der Nächste zu sein scheint. Für die Leere, für die Traurigkeit, für die Trauer, die so oft Teil des Lebens ist. Für alles das, was nicht festlich beleuchtet, sondern versteckt und unter den Teppich gekehrt wird. Auch für die eigene Schuld und eigenes Versagen. Und er würde die Menschen damit nicht allein lassen. Sondern er würde den Menschen die Augen auch öffnen für das Schöne, für die Liebe, für Vergebung, Mitmenschlichkeit und Hilfe, die ja auch da sind. Was würde Jesus heute tun? Menschen stark machen, damit sie sich freuen können. Uns alle zur Vernunft bringen. Und ich glaube, dass er auch in die Thomaskirche kommen würde. Und vielleicht würde ER UNS sagen: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit: Igelt euch nicht ein, geht raus, lasst die von draußen zu euch kommen. Aber ich glaube auch, dass er dabei helfen würde, vor lauter Offenheit nicht die Besinnung zu verlieren. Ja, Jesus bringt Menschen zur Besinnung. Hoffentlich auch uns. Damit wir alle nicht nur besinnlich, sondern besonnen feiern. leben, da sein können. Wenn Jesus kommt, dann ist nichts und niemand vor Überraschungen sicher. Dann werden auch Pläne und falsche Wege durchkreuzt. Aus dem Nazi Niemöller wurde der Widerstandskämpfer und KZ-Insasse. Aus dem umjubelten Superstar der Sündenbock. Aus dem Kind in der Krippe der Mann am Kreuz. Aus dem Mann am Kreuz das Heil der Welt, die Liebe, die größer ist als alle Vernunft. Und was wird aus uns? Aus dem Kirchenbesucher? Aus der Zweiflerin? Aus dem gelangweilten Konfi? Aus dem Glühweintrinker? Aus dem Kaufhausbesucher? Wenn Jesus in die Welt kommt, ändert sich was. Sind wir dazu bereit? Aber Gott sei Dank gibt es ja den Advent, die Zeit sich vorzubereiten. Und was ist in vier Wochen?
Amen.

Freitag, 21. November 2008

Wird alles anders? - Ewigkeitssonntag 2008, Reihe VI

Predigttext: 2. Petrus 3,3-13

Liebe Gemeinde!

Ein Tag, der einem vorkommt, als wären es 1000 Jahre und 1000 Jahre, die einem vorkommen, als hätten sie gestern erst angefangen - wir müssen gar nicht bis zum Ende aller Zeiten warten um festzustellen, dass in diesem Vers aus dem 2. Petrusbrief ganz viel Wahres steckt. Es gibt Tage und Nächte, die scheinen endlos zu sein. Die Gedanken an den Ehemann, der jetzt fehlt, an das Kind, das gestorben ist, an einen lieben Menschen, der weit weg ist, an eine Beziehung, die kaputt gegangen ist, lassen jeden Gedanken, jede Sekunde zur Qual werden und die Zeit scheint nicht vorbeizugehen. Dagegen geht der schöne Urlaub immer viel zu schnell vorbei, die Stunden, Tage, Jahre, die man mit einem geliebten Menschen verbringt, scheinen wie im Flug zu vergehen. Wenn Zeit nur zäh vergeht, dann ist der Wunsch, manchmal sogar die Hoffnung da und vielleicht auch groß, dass ganz schnell hoffentlich alles ganz anders wird. Aber wenn man vor Glück oder Liebe oder beidem das Gefühl hat, dass alles viel zu schnell geht, dann möchte man am liebsten jede Sekunde für die Ewigkeit festhalten, nie mehr loslassen und die Hoffnung oder zumindest der Wunsch ist da, dass sich nie etwas ändert.

Alles wird anders! Für die, bei denen im Moment alles gut und glücklich läuft, eine schreckliche Vorstellung. Für die, deren Leben aus den Fugen geraten ist und bei denen gerade nichts zusammenzupassen scheint, oft eine gute Hoffnung. Alles wird anders - alles wird gut! Ja, nicht weniger verspricht die Bibel, nicht weniger verspricht das Stück aus dem 2. Petrusbrief. „Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt!“ Alles wird anders - alles wird gut?! Im Alltag ist das nicht unbedingt die Erfahrung, die so leicht gemacht wird. Es wird nicht wieder gut, wenn nach vielen Jahren einer glücklichen Ehe oder einer guten Beziehung der Mann oder die Frau nicht mehr ist. Das Gefühl, jetzt allein zu sein, das Gefühl, eine Lücke im Leben zu haben, das wird vielleicht im Lauf der Zeit weniger schmerzhaft - aber gut? Und schon ganz und gar das Gefühl, wenn das eigene Kind stirbt oder der Tod als Unfalltod oder aus anderen Gründen ganz plötzlich und unnötig kam oder erst nach einem langen, grausamen Kampf - alles wird gut? Vielleicht im Laufe der Zeit erträglich. Aber gut?

Vielleicht kennen diejenigen, die mühsam das letzte bisschen Hoffnung zusammenkratzen und vielleicht auch Gott bei dem anfragen wollen, was er von sich sagt, nämlich dass er die Liebe ist, trotz allem, was in ihrem Leben traurig und hart und ungerecht gelaufen ist, auch die Spötter, von denen der Brief aus der Bibel erzählt. Menschen, die sagen: „Was willst du denn mit deiner Hoffnung? Lass es sein! Wo bleibt denn dein Gott? Der kommt nicht mehr, der macht nichts neu! Du musst mit dem Elend leben und am besten lebst du so egoistisch wie es nur geht, alles andere hat sowieso keinen Sinn!“ Und manchmal sind das auch gar keine Menschen von außen, die Hoffnung oder Liebe in Frage stellen. Manchmal sitzt das, was der erste Petrusbrief verächtlich „Spötter“ nennt, ganz tief auch in dem Menschen, der eigentlich glaubt, Hoffnung zu haben. In mir. Wenn ich mir die Welt ansehe, wäre es doch der einfachere Weg, die Hoffnung aufzugeben. Unrecht, Ungerechtigkeit, Dummheit, Leid, Tod, Gewalt, Hass, Neid, die Unfähigkeit, friedlich miteinander zu leben, Kriege und immer wieder die Erfahrung von traurigem, sinnlosen Tod, von Kindern, die von Erwachsenen misshandelt, missbraucht, umgebracht werden: es gibt viel zu viel, das mich manchmal schon daran zweifeln lässt, dass Menschen wirklich gut sein können. Und wo ist Gott? Und warum tut er nichts dagegen? Man muss kein bösartiger Mensch, kein Ignorant sein, um diese Fragen zu stellen.

Es ist leichter, aufzugeben, einfach so vor sich hin zu leben, als zu hoffen und zu glauben. Hoffnung und Glauben braucht Kraft. Es ist wie beim Schwimmen. Es kostet keine Kraft, sich von der Strömung mitreißen zu lassen, nichts zu tun. Das ist bequem. Die andere Richtung einzuschlagen, Widerstände zu spüren, auszuhalten, gegen Widerstände anzugehen: das ist es, was jede Menge Kraft kostet. Aber woher soll man die Kraft nehmen, wenn man gerade ganz unten ist? Es gibt nur eine Antwort. Aus der Liebe. Natürlich kann man als Zweifler, als Spötter, als Enttäuschter sagen: das ist ja mal wieder typisch Kirche. So ein allgemeines Gerede! Von der Liebe sehe ich nichts, spüre ich nichts, schon gar nicht von einem lieben Gott, wenn er mir den Mann, die Frau, das Kind, die Eltern weggenommen hat! Von der Liebe spüre ich nichts, wenn ich in die Welt schaue. Aber vielleicht kann es ja auch hier helfen, sich einfach mal umzudrehen und den Blickwinkel zu ändern. Kann, nicht muss. Gott ist kein lieber Gott in dem Sinn, dass er immer brav macht, was Menschen sich von ihm wünschen, dass er allen wohl und keinem weh tun würde. Aber Gott ist ein liebender Gott. Einer, der nicht wegläuft, wenn es hart wird. Einer, der es aushält, wenn man ihn zornig anschreit, wenn man vor lauter Angst oder Trauer oder Resignation nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Einer, der in seiner Liebe immer wieder den Weg zu den Menschen sucht. Liebe heißt ja nicht, dass man immer nur schöne und gute Erfahrungen miteinander macht. Liebe heißt, dass auch Schweres ausgehalten und geteilt werden kann. Für das alles steht Jesus Christus. Er ist nicht in eine perfekte Welt gekommen und hat keine perfekte Welt hinterlassen. Tod und Leid, Schuld und Trauer, das alles gibt es immer noch, das kann man nicht wegglauben und nicht wegdiskutieren. Aber Jesus steht dafür, dass Liebe und Veränderung zum Guten nicht erst dann möglich ist, wenn alles perfekt wird und der neue Himmel und die neue Erde da sind, sondern dafür, dass schon jetzt, unter diesem Himmel, auf dieser Erde, Liebe, Güte, Vergebung möglich und da sind. Ansatzweise, natürlich. Aber da.

Jetzt können welche hier im Gottesdienst sagen: Jetzt sag mal klipp und klar, was du meinst, wo es das gibt. Aber Liebe ist nun mal ein Beziehungsgeschehen. Das kann man nur schlecht allgemein sagen. Ich, mit meiner Person, spiele da immer mit. Deshalb kann ich schlecht erzählen, wo andere Liebe sehen sollen, die der Hoffnung neue Kraft gibt. Ich kann nur von mir erzählen. Zwei Beispiele, die auf den ersten Blick wenig mit dem, was man sich so allgemein unter Liebe vorstellt, zu tun haben. Eine junge Frau, Mitte 20, die ich vor gut 10 Jahren konfirmiert habe. Sie rief mich vor ein paar Wochen an, nachdem sie, die mit ihrem Mann lang auf ein Kind gewartet hat, eine Fehlgeburt hatte. Wir haben lang telefoniert, am Ende sagte sie so etwas wie „Jetzt geht’s mir wieder besser“. Eine andere junge Frau, die ich vor vielen Jahren in der Hauptschule in Reli hatte. Sie saß da, sagte nie was. Die ganze Klasse hat eigentlich nie was gesagt, ich hatte den Eindruck, bei denen ist alles sinnlos. Jahre später, ich hatte sie seit dem Abschluss nicht mehr gesehen, kam sie, wollte bei mir heiraten und erzählte mir, dass sie nach der Hauptschule immer weiter Schule gemacht hat, bis zum Abi, und jetzt selber Relilehrerin für Haupt- und Realschule werden will, auch, weil ihr der Reliunterricht in der Hauptschule so wichtig war und gut gefallen hat. Was das mit Liebe zu tun hat? Es zeigt erstens, dass Liebe mehr ist als irgendwelche romantischen Gefühle füreinander zu hegen. Das kann dazu gehören, aber muss nicht. Es zeigt zweitens, dass Liebe sehr viel damit zu tun hat, Lebensmut und Lebensperspektiven zu öffnen. Und drittens, und das ist der Grund, warum ich das eigentlich erzähle, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Es ist ja nicht so, dass ich der große, allwissende Könner bin, der anderen zu einem guten Leben verhilft. Die beiden haben mir ganz viel geholfen, gerade wenn ich denke: „Ist das nicht sinnlos, was ich hier mache?“ Es gibt ja genug Schüler, für die Reli, auch Reli bei mir, schrecklich ist und Konfis, die sagen: das ist blöd und langweilig“ Und ja auch Erwachsene, die mir sehr deutlich machen, dass sie von Kirche und von mir als Pfarrer wenig halten. Aber selbst wenn es nur für zwei Leute gut war, ist es nicht sinnlos gewesen und die Hoffnung ist da, dass es auch in Zukunft nicht sinnlos ist. Liebe ist nichts, was ich herstellen kann, sondern ein Geschenk, ein Geschenk Gottes, das auch offene Augen und Herzen braucht. Wie gesagt, ich hab nur meine Augen. Jeder von uns muss in seinem Leben die eigenen Augen aufmachen und vielleicht auch mal die Perspektive und den Blickwinkel ändern.

Alles wird anders, alles wird gut. Aber nicht jetzt sofort, wir haben nur einen Zipfel davon in der Hand, ein kleines bisschen Liebe hoffentlich, das die Hoffnung wach hält. Gott steht zu seinen Verheißungen. Und wenn die Bibel hier so viel von Einsturz und von Feuer erzählt, dann heißt das nicht, dass irgendwann mal der große Katastrophefilm abläuft, der alles, was Hollywood sich je ausgedacht hat, in den Schatten stellt. Gemeint ist, dass sich wirklich alles ändert - und nur das übrig bleibt, was überlebenswert ist. Gerechtigkeit. Liebe. Und alles andere wird endgültig vernichtet. Das ist die Hoffnung, die wir haben können. Schon jetzt, und auch angesichts der Erfahrung, dass Menschen, die für das eigenen Leben wichtig waren, nicht mehr sind. Was bleibt ist die Liebe. Die Kraft gibt, Hoffnung wachsen zu lassen. Amen

Dienstag, 18. November 2008

Schlagende Argumente - Predigt Buß- und Bettag 08, 19.11.08, Reihe VI

Text: Jes 1,10-17

Liebe Gemeinde!

Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind von meinen Eltern zur Strafe wirklich geschlagen worden zu sein. Gott sei Dank! Bis auf eine einzige Ausnahme, an die ich mich noch gut erinnere. Was der Anlass war, weiß ich gar nicht mehr so genau, aber meine Mutter schimpfte mich nach allen Regeln der Kunst aus. Es war ein Vormittag, kurz vor dem Mittagessen, wohl in den Schulferien. Sie schimpfte und steigerte sich immer mehr hinein und ich fing an zu lachen. Je mehr sie schimpfte, desto mehr musste ich lachen. Sie konnte sich dann nicht mehr anders helfen, als den Kochlöffel zu nehmen. Mein Hinterteil war stabiler als der Löffel.

Dieses Erlebnis, das schon mehr als dreißig Jahre zurückliegt, hat in mir Skepsis geweckt. Die Skepsis, dass Wut und Zorn, und wenn sie auch noch so berechtigt sind, wirklich etwas ändern. Es ist manchmal gut, als Ventil für sich selbst, um keine Magengeschwüre zu kriegen, die eigene Wut und den eigenen Zorn nicht herunterzuschlucken, sondern raus zu lassen. Aber ob Schimpftiraden bei dem, der Auslöser meines Zorns ist, wirklich was ändern oder ob der Angeschrieene nicht vielmehr die Ohren auf Durchzug stellt, je mehr ich mich in diese Wut hineinbegebe? Ich weiß es nicht. Aber, wie gesagt, mein eigenes Beispiel macht mich skeptisch, ob Zorn wirklich viel ändert. Deshalb finde ich es auch schade, dass der Predigttext für den Buß- und Bettag heute so aufhört. Er besteht nur aus Anklagen. Klar, wenn das Motto für den Buß- und Bettag 2008 „Ehrlich“ ist, dann gehört auch das mit dazu. Es gehört mit dazu, dass wir als einzelne Christen, als Kirchengemeinde und als Kirche überhaupt nicht die Augen davor zu machen, dass sicher ganz vieles bei uns nicht in Ordnung ist. Der Prophet Jesaja beklagte sich vor langer Zeit darüber, dass viele ihren Glauben nur noch sozusagen äußerlich leben, dass er sich in schönen, aufwendigen Gottesdiensten und Feiern erschöpft, dass aber niemand danach schaut, wie es den Armen im Lande geht. Gottes Willen, so sagt es Jesaja hier, ist soziale Gerechtigkeit, ein Glauben, der auf der Seite der Armen ist und nicht eine Schauveranstaltung. Jetzt ist es heutzutage sicher leicht, viele Beispiele dafür zu finden, wo es armen Menschen nicht gut geht. Ich habe fast jeden Tag mit Menschen zu tun, deren Geld hinten und vorne nicht reicht. Durch die weltweite Berichterstattung im Fernsehen und in anderen Medien sind wir mit Armen und Rechtlosen weltweit verknüpft. Es gibt mehr Armut und Elend auf der Welt, als wir hier mit unseren Kräften lösen könnten. Und wenn wir mal ehrlich sind: so schlecht, dass wir als Kirche uns den Schuh anziehen müssten, bei uns hätten die Armen keinen Platz und wir würden nur eine christliche Festfassade aufrecht erhalten, sind wir als Kirche nicht. Kirchliche Werke, Diakonie oder Caritas, Brot für die Welt oder Misereor und ganz viele Einzelinitiativen helfen ganz entscheidend mit dabei, die Rechte der Armen und Unterdrückten nicht aus dem Blick zu verlieren. Gerade wir als Kirche, und damit meine ich wirklich wir, denn Kirche besteht ja aus ganz vielen einzelnen Christen in Marburg, in Omsk, weltweit, haben viel Grund, nicht in die billige Anklage einzustimmen: „Wir sind ja alle so schlecht und tun nichts!“ Natürlich kann man immer noch mehr tun und wird nie fertig werden. Wenn „ehrlich“ das Motto des Buß- und Bettags ist, dann heißt das auch, Mut zur Ehrlichkeit im positiven Sinn zu haben und sich nicht jeden Schuh anzuziehen, der einem hingehalten wird.

Der Sinn des Buß- und Bettags und auch der Sinn des Predigttextes für heute ist nicht, sich ständig klein und schlecht und vom Untergang bedroht zu fühlen. Im Gegenteil. Der Sinn ist es für mich, die Kraft zu haben oder zu bekommen, Stachel im Fleisch einer Gesellschaft, einer Weltordnung zu sein, in der Neid und gier als positive Antriebskräfte viel zu oft und viel zu lang hingenommen wurden. Stachel im Fleisch einer Weltordnung zu sein und zu bleiben, die Korruption für ein Kavaliersdelikt hält, die nichts dabei findet, dass nicht die Person und ihre Bedürfnisse entscheidend sind, sondern Beziehungen, Herkunft, äußeres Ansehen oft genug die Hauptrolle zu spielen scheinen.

Glaubwürdig können wir als Kirche im Großen, als Gemeinde vor Ort und als einzelner Christ aber nur dann sein, wenn wir tatsächlich auch ehrlich zu uns selbst sind. Wenn wir bereit sind, die Augen nicht vor dem zuzumachen, was auch bei uns nicht gut läuft. Wenn wir bereit sind, auch unsere Schuld zu sehen und einzugestehen. Es ist billig, die Welt anzuklagen, auf die Politiker, die Banker, die Wirtschaftsbosse oder wen auch immer zu verweisen, wenn ich nicht bereit bin, zuallererst mich selber anzuschauen. Erst dann kann es weitergehen. Aus diesem Grund finde ich den Buß- und Bettag und sein Anliegen wichtig und alles andere als überholt. Ich kann nur dann glaubwürdig für andere eintreten und anderen vors Schienbein treten, wenn ich zu mir selbst ehrlich bin und bereit bin, da, wo es nötig ist, mir auch vors Schienbein treten zu lassen, um von falschen Wegen abzukommen. Was gut an unserer christlichen Botschaft ist, was gut auch an der Botschaft Jesajas ist, ist, dass sie nicht beim Schimpfen und beim Aufzeigen von Versagen stehen bleibt. Bei Jesaja heißt es unmittelbar im Anschluss an unseren Predigttext: Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden. 19 Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen. 20 Weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden. Vergebung und Umkehr ist möglich. Im Prinzip richtet ihr euch selber, so verstehe ich hier Gottes Wort bei Jesaja: Wenn ihr umkehrt, wenn die Sache der Armen und Rechtlosen Platz in eurer Gesellschaft hat, dann werdet ihr die Güter eures Landes genießen können. Wenn ihr aber eine Gesellschaft bleibt, die auf Ausgrenzung, Gier und Neid baut, werdet ihr untergehen. Es ist nicht der Kochlöffel, nicht der Zorn, der das letzte Wort behält, sondern das nüchterne Aufzeigen der Möglichkeiten und Konsequenzen. Und das Vertrauen, dass ein ehrliches Anschauen auch der dunklen Seiten zu Veränderungen zum Guten führt. Für uns auch dadurch, dass wir durch Jesus Christus erfahren haben, dass uns auch Schuld nicht mehr endgültig von Gott trennt. Dass Vergebung und Neuanfang kein leeres Gerde, sondern lebendige Möglichkeit sind. Ich wünsche uns, dass wir auf diese Art einladend für die Welt sind. Indem wir vorleben, dass Ehrlichkeit und Umkehr möglich sind und nicht indem wir drohen und schimpfen und zetern. Amen

Donnerstag, 13. November 2008

Zum Wegwerfen zu schade - Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, Reihe VI

Predigttext: 2. Korinther 5,1-10

Liebe Gemeinde!

„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land?“ „Herr Pfarrer, sie sind der Schönste hier!“ Nein, so geht’s nicht zu, morgens bei mir im Bad, wenn ich zum Rasieren in den Spiegel schaue. Ich bin mal mehr, mal weniger zufrieden mit dem, was mir da entgegenschaut. Der Schönste war ich nie und werde ich nie sein, aber das Gefühl, dass mein Körper eine Hütte sei, die möglichst bald abgebrochen werden müsste, wie Paulus es hier in der Bibel schreibt, habe ich auch sehr selten. Und Sie? Und Ihr? Wahrscheinlich geht es den meisten wie mir. Es gibt Tage, da fühle ich mich in meiner Haut richtig wohl, aber es gibt auch Tage, da kann ich Paulus gut verstehen, wenn er schreibt, dass unser Leib, unser Leben hier auf der Welt bestenfalls eine Hütte ist, die doch bald mal abgebrochen werden müsste um etwas Schönerem, Besseren Platz zu machen. Wie kommt Paulus eigentlich dazu, so negativ über dieses Leben zu schreiben? Wahrscheinlich war er, als er diesen Brief geschrieben hat, ziemlich krank. Er spürte, dass das alles nicht mehr so klappt. Das, was er will und vorhat, macht sein Körper nicht mehr so mit. Er ist sich sicher, dass Gott noch viel mehr und viel Größeres für ihn hat als diesen kranken Körper und deshalb hofft er, dass Gott ihn endlich von diesem abbruchreifen Äußeren befreit und zu sich nach Hause holt. Ich frage mich manchmal, ob das nicht gefährlich ist, wenn ich Paulus hier Recht gebe. Immer wieder in meinem Leben bin ich Menschen begegnet, die ihren Körper nicht leiden konnten und dadurch krank wurden. Menschen, die sich selbst deshalb vernichten wollten. Ich denke an mehrere sehr gute Bekannte, die durch Magersucht oder Ess-Brech-Sucht aus dieser, wie sie dachten, abbruchreifen Hütte raus wollten und auch an welche, die durch Schmerzen, durch Ritzen ihren Körper bestrafen und manchmal auch vernichten wollten. Was kann ich da sagen, was nicht billig oder falsch oder verantwortungslos wäre? Und dann denke ich an Menschen wie meine Patentante, die mehr als 25 Jahre unvorstellbare Schmerzen durch eine Krankheit hatte, die sich immer weniger bewegen konnte, die in ihren letzten Lebensjahren, bei klarem Verstand, praktisch nichts mehr allein machen konnte. Mehr als nur einmal hatte sie den Wunsch geäußert, dass sie diesen kranken Körper und damit ihr Leben endlich loswerden möchte. Was kann ich da sagen, was nicht billig oder falsch oder verantwortungslos wäre? Und ich denke auch an die vielen Gespräche, mit Menschen, die in Krankenhäusern und Altersheimen andere betreuen und pflegen, mit Gesunden und Kranken in jedem Alter, nicht zuletzt auch mit meinen Eltern, wie krank ein Körper sein darf oder sein muss, damit man ihn nicht mehr am Leben erhält und sterben lässt. Unser Körper ist sterblich. Darf man daran Lust haben? Darf man Lust haben, den Körper einfach aufzugeben, zu sterben?

Paulus macht in seinem Brief etwas ganz Wichtiges. Er redet nicht alles schlecht, sagt nicht: „Ich nehme jetzt Gift oder bringe mich auf andere Weise um, hat ja sowieso alles keinen Zweck mehr“. So eine Haltung zieht einen tatsächlich immer weiter runter, so dass am Ende das Wegwerfen von Leben als sogar christlich gebotene Haltung erscheint. Paulus redet nichts schön. Aber er lässt sich auch nicht immer tiefer ziehen. Für ihn spielt die Hoffnung eine wichtige Rolle. Die Hoffnung, dass die Einschränkungen und Krankheiten und Schwierigkeiten nicht alles sind, sondern dass sie zeitlich begrenzt sind. Und dass schon jetzt Grund da ist, sich auf das zu freuen, was Gott an Leben bereithält, wenn unser Leben, und damit auch unser Verstand und unsere Vorstellungskraft, an ein Ende gekommen sind. Was mir dabei wichtig ist, dass Paulus weder dazu aufruft, sein Leben einfach so wegzuwerfen, weil es ja nichts wert sei, noch einfach so vor sich hin zu leben und sich um nichts zu kümmern, weil angesichts der Heimat, die Gott den Menschen bei sich schenkt, alles jetzt in dieser Welt egal wäre.

Paulus sagt, so verstehe ich ihn, dass wir Menschen bei aller berechtigten Vorfreude auf das, was mal sein wird, nun mal hier und jetzt leben und für genau dieses Leben hier und jetzt Verantwortung haben. Egal, ob wir daheim, das heißt bei Gott, oder in der Fremde, das heißt hier in dieser Welt, sind: es geht darum verantwortungsvoll und richtig zu leben. „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.“ Gott entlässt uns Menschen nicht aus der Verantwortung für unser Leben. Lebe jetzt und lebe verantwortlich, es ist nicht egal, was du machst, wie du lebst.

Wie passt das denn zu der Botschaft von Jesus, dass er gerade für die Menschen gekommen ist, die Schuld auf sich geladen haben? Wie passt das denn zu dem, was Paulus selber im Römerbrief schreibt, dass kein Mensch durch seien Taten gut und gerecht wird? Wie passt das denn zu der, wie ich finde, richtigen Einsicht von Martin Luther, dass nicht die Werke, sondern der Glauben und Gottes Gnade allein zählen?

Es passt dadurch dazu, dass Liebe, Vergebung und Gnade keine Einbahnstrasse sind. Es sind Angebote, die Gott für ein gutes Leben macht. Angebote, zu denen ich mich verhalten kann und verhalten muss. Liebe, Vergebung, beides entlässt mich nicht aus meiner Verantwortung für das Leben, auch für mein Leben. Im Gegenteil, es stellt mich auch vor die Zeiten und Gegebenheiten in meinem Leben, wo ich lieblos war und vielleicht auch bin, wo ich Vergebung nötig habe, wo ich anderen nicht vergeben konnte.

Gott hat uns nicht ein billiges Rundum-Sorglos-Paket für unser Leben gepackt, einmal erhalten und ausgepackt, schon ist immer für alle Zeiten alles gut. Nein, Gott traut uns Menschen eine Menge zu. Er traut uns zu, dass wir die Kraft haben, Verantwortung zu übernehmen.

Gerade in diesen Tagen wird das für mich noch einmal deutlich. Vor 90 Jahren ging der erste Weltkrieg zu Ende, vor 70 Jahren haben in Deutschland, auch hier in Marburg, die Synagogen gebrannt. Nur sehr, sehr wenige Christen haben unter Gefahr für ihr eigenes Leben Partei ergriffen und denen, die allein wegen ihres Glaubens verfolgt und vernichtet wurden, geholfen. Und heute, am Volkstrauertag, wird überall an die Opfer des Krieges und des Nationalsozialismus erinnert. Jetzt kann natürlich der Einwand kommen: Was sollen die ganzen alten Geschichten? Viele, die heute hier Gottesdienst mitfeiern, waren in dieser Zeit noch gar nicht auf der Welt als Juden in Deutschland verfolgt wurden oder der 2. Weltkrieg ausbrach, andere waren Kinder oder Jugendliche. Und viele unter uns lebten in dieser Zeit in Russland und haben selbst unter lebensbedrohlicher Verfolgung gelitten. Praktisch niemand, der heute hier Gottesdienst feiert, könnte auch nur theoretisch persönlich verantwortlich sein.

Verantwortung für das Leben zu haben, im Sinne der Liebe Gottes zu uns, das heißt auch, sich der Frage zu stellen, wie ich mit dem umgehe, was ich weiß. Sage ich „Was soll’s, geht mich nichts an! Ich war zu jung, hab nicht hier gelebt, war noch nicht auf der Welt, also muss mich das gar nicht berühren!“? Oder kann ich sagen: „Dafür bin ich zwar nicht verantwortlich. Aber ich kann da, wo ich hier und heute bin, Verantwortung dafür übernehmen, dass Menschen nicht mehr wegen ihrer Religion ihr Menschsein abgesprochen wird. Ich kann mich dafür einsetzen, dass Menschen nicht mehr wegen ihres Glaubens, der anders ist als der der Mehrheit, lächerlich gemacht werden, abgestempelt werden, dass ihnen ihr Menschsein abgesprochen wird.“ Es geht nicht darum, Schuld auf sich zu laden für eine Vergangenheit, für die ich nichts kann. Es geht darum, Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen und nicht so zu tun, als ginge mich alles nichts an. Ich habe Verantwortung - aber ich kann sie tragen, weil Gott mir immer wieder mit Liebe begegnet, auch da, wo ich der Verantwortung nicht gerecht werde. Ich kann und darf umkehren, neu anfangen. Ich kann und darf Fehler und Schuld bereuen und den Versuch starten, Dinge in meinem Leben, mein Leben überhaupt anders und besser zu machen. Für mich gehört dazu auch, dass ich mit dem, was Paulus über sein krankes Leben sagt, nämlich dass er den Wunsch hat, diese armselige Hütte Körper zu verlassen, vorsichtig umgehe. Wenn ich mich dazu verleiten lasse, den Schluss zu ziehen, dass dann das Leben hier in dieser Welt sowieso nichts wert ist, dann muss ich aufpassen, dass ich nicht anfange, Leben in lebenswertes und vor allem lebensunwertes Leben einzuteilen. Es gibt kein Leben, dass es nicht wert wäre, gelebt zu werden. Auch mein eigenes Leben ist es wert, gelebt und nicht weggeworfen zu werden. Mir darf dabei auch manches schwer sein, gerade wenn ich Einschränkungen durch Krankheit erfahre, wenn ich mit anderen Menschen traurige Erfahrungen mache. Ich darf Angst und Zweifel haben, und eben gerade die Hoffnung, dass Gott nicht meine Zweifel auslacht, sondern mir helfen will, sie zu überwinden. Ich darf sterben wollen, wenn’s dran ist - und muss nicht sinnlos aus Forscherdrang weiterleben müssen. Ich muss nicht alles tun, damit mein Körper äußerlich nach den Maßstäben von - ja, von wem denn, von den Machern von Playboy oder Men’s Health?, durch Operationen oder so super wird. Aber ich darf mich drauf freuen und hoffen, dass noch was anderes kommt. „Wir werden auch an dieses Ziel gelangen, denn Gott selbst hat in uns die Voraussetzung dafür geschaffen: Er hat uns ja schon als Anzahlung auf das ewige Leben seinen Geist gegeben. Deshalb bin ich in jeder Lage zuversichtlich. Ich weiß zwar: Solange ich in diesem Körper lebe, bin ich vom Herrn getrennt. Wir leben ja noch in der Zeit des Glaubens, noch nicht in der Zeit des Schauens. So schreibt Paulus. Diese Zeit wird kommen. Freuen wir uns drauf. Amen.