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Montag, 11. Juli 2011

Wie verloren bin ich eigentlich? - 3. nach Trinitatis, 10.07.11, Reihe III

Text: Lukas 15,1-7

Interview von Hit-Radio Israel mit dem verlorenen Schaf, Teil 1


Hallo Schaf, schön, dass du wieder da bist!

Schön? Was ist denn daran schön?

Na, freust du dich nicht, dass dich dein Hirte, der Schäfer, aus dem gefährlichen Gebirge gerettet und zurück zur Herde gebracht hat?

Freuen? Ich bin doch extra weggelaufen! Ich wollte doch gar nicht mehr zur Herde gehören! Eins von Hundert, da geht man doch unter! Nein, sollen die neunundneunzig doch blöd dastehen und fressen. Ich wollte das Leben sehen! Ich wollte ich sein. Machen was ich wollte. Frei sein! Und dann kommt dieser Hirte einfach hinter mir her!

Ja, das ist doch das Gute!

Gut? Was war denn mit den neunundneunzig? Auf die hätte er aufpassen sollen! Was wäre denn, wenn ein Wolfsrudel gekommen wäre? Mich hätte er doch gehen lassen können! Als ich ihn bemerkte, bin ich immer weiter. Ich habe gedacht, ich kann ihn in dem unwegsamen Gelände abschütteln. Aber er hat sich nicht abschütteln lassen. Am Ende hat er mich heimgeholt und sogar noch gefeiert! Dabei wollte ich doch bloß meine Freiheit!

Oh, das wird unsere Hörer aber überrasche! Danke, Schaf – und jetzt zurück ins Studio

Und dann…

Ich glaube, unsere Sendezeit ist um, die Hörer wissen jetzt Bescheid!



Liebe Gemeinde!

So ein undankbares Schaf! Da setzt sich der Hirte allen möglichen Gefahren aus, er kraxelt hinterher, droht, sel-ber abzustürzen, überlässt wegen diesem einen neugieri-gen Schaf die anderen den Gefahren der Wüste – und dann will dieses Schaf nicht einmal gerettet werden! Undank ist der Welten Lohn! Mal sehen, was dieses undankbare Schaf gesagt hat, nachdem die Sendezeit um war. In den Archiven von Hit-Radio Israel hat sich noch ein weiterer Teil des Interviews gefunden.

Und dann…

Ich glaube, unsere Sendezeit ist um, die Hörer wissen jetzt Bescheid!

Nein, das wissen sie nicht! Ja, ich wollte meine Freiheit. Und ich hätte sie ganz bestimmt auch genossen. Und ich war ziemlich sauer, dass der Hirte mich dann auf den Schultern zu den anderen geschleppt hat.

Und was haben die anderen dann gemacht?

Können sie sich das nicht denken? Die waren nicht ge-rade freundlich zu mir, dem Ausreißer. Aber dann wur-den sie neugierig und haben sich von mir erzählen las-sen, wie das so außerhalb der Herde ist. Und ich habe gemerkt, wie schön es doch ist, nicht allein zu sein, son-dern vor allem einen Hirten zu haben, der mir nachläuft, obwohl ich das nicht wollte und nicht verdient habe. Der Hirte hat sich Sorgen gemacht, dass ich abstürzen, mich verletzten könnte. Und hat dabei in Kauf genommen, dass die anderen einen Moment allein blieben. So was habe ich noch nie erlebt.

Schade, dass das jetzt nicht mehr mitgesendet wurde.



Ein Schaf, das die Freiheit will, ein Schaf, das die Ge-fahr der Sicherheit in der Herde vorzieht – kaum vor-stellbar. Bei Schafen. Bei Menschen ist das vermutlich doch etwas anders. Der Drang nach Freiheit, der Wunsch, eigene Wege zu gehen und nicht teil einer Masse zu sein, der ist nicht nur bei pubertierenden Ju-gendlichen da. Und der ist ja auch erst einmal gar nichts Schlechtes. Wenn ich als Christ sage, dass jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit von Gott gewollt ist, dann kann ich ja gar nicht anders, als zu akzeptieren, dass Menschen eigene Wege gehen. Und dabei gehen sie auch Wege, die mir vielleicht gar nicht gefallen. Ich muss nicht jeden Weg gut finden. Ich kann vor Wegen, die ich für falsch halte, warnen. Aber letztlich wird jede und jeder nicht meinen, sondern seinen oder ihren Weg gehen. Wenn wir dieses Gleichnis, das Jesus erzählt, hören und für uns, für unsere Welt und unsere Zeit über-setzen wollen, dann müssen wir das im Hinterkopf behalten: Sinn des Gleichnisses kann es nicht einfach sein, einzelne, die aus der Gemeinschaft ausgeschert sind, einfach wieder einnorden und kritiklos an die Gemeinschaft anpassen zu wollen. Vielleicht ist es ja wirklich ein wenig so wie in dem nicht gesendeten Teil des erfundenen Interviews mit dem verlorenen Schaf. Durch die Rückkehr des einen verlorengegangenen Schafs verändern sich alle. Zum einen das Schaf, weil es, bei allem Drang nach Freiheit und Einzigartigkeit spürt, dass es weder dem Hirten noch den anderen Schafen egal ist. Zum anderen aber auch die anderen neunundneunzig Schafe. Weil sie bei aller Zufriedenheit mit ihrer Welt in der Herde eine Ahnung von dem Leben außerhalb bekommen.

Wem erzählt Jesus eigentlich dieses Gleichnis? Lukas erzählt, dass eine Menge Zöllner und Sünder Jesus zu-gehört haben. Aber auch viele kluge und fromme Men-schen. Pharisäer und Schriftgelehrte. Menschen, die sich in der Heiligen Schrift auskannten und die ihren Glauben im Alltag wirklich gelebt haben. Und die sich darüber beschwert haben, dass Jesus nicht nur den Zöllnern und Sündern was erzählt, sondern zu ihnen hingeht und mit isst und trinkt.

Zöllner und Sünder. Damals Menschen mit einem Beruf, in dem sie andere Menschen betrogen haben und davon nicht schlecht lebten. Menschen, die aus der Gemein-schaft der Menschen, die an Gott glaubten, ausgeschlos-sen waren. Frauen, die für Geld mit fremden Männern ins Bett gegangen sind. Jede Menge Menschen, denen es bis dahin egal war, was in den Zehn Geboten stand, Menschen, die von Gott wenig wissen wollten, bis sie Jesus trafen. Menschen, die aber auch von denen, die es ernst meinten mit Gott, ausgeschlossen wurden. Mit de-nen durfte man nichts zu tun haben, sonst wird man sel-ber unrein, so war deren Überzeugung.

Pharisäer und Schriftgelehrte. Menschen, die ihren glau-ben ernst genommen haben. Keine bösen Menschen, be-stimmt nicht. Menschen, die auch im Alltag leben woll-ten, was in der Heiligen Schrift steht. Menschen, die da-von träumten, dass eines Tages alle das machen. Und die Angst davor hatten, dabei was falsch zu machen.

Und heute? Für wen ist dieses Gleichnis heute gedacht? Die Zöllner sind in der Regel ehrenwerte Beamte. Und Pharisäer gibt es heute ja auch nicht mehr. Ich finde es mühsam und es führt auch nicht weiter, wenn wir jetzt aufteilen und jeder seine Lieblingsrandgruppe nennt, die heute zu den Zöllnern und Sündern gehören könnte oder seine Lieblingsgruppe, der er vielleicht eine gewisse Überheblichkeit, möglicherweise sogar Verlogenheit im Glauben unterstellt. Viel spannender finde ich die Frage: Wer sind wir, heute Morgen im Gottesdienst? Zöllner und Sünder? Schriftgelehrte und Pharisäer? Es ist eine tolle Erfahrung, wenn einer sich für mich total einsetzt, bis zur Erschöpfung, andere vernachlässigt, nur um mich zu retten. Deshalb wäre mancher vielleicht gern so ein bisschen Zöllner und Sünder, verlorenes Schaf, um das Gott kämpft. Aber wir sind hier, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern und weil, so denke ich wenigstens, den meisten von uns der Glauben nicht egal ist. sonntags nicht und im Alltag auch nicht. Sind wir dann die Neunundneunzig, die allein gelassen werden, fromme Leute, Schriftgelehrte und Pharisäer? Aber so fromm sind wir doch nicht, wir werden doch selber immer wieder schuldig! Ja, wie denn nun? Mich irritiert dieses einfach Gleichnis. Weil ich nicht weiß, wo ich bin. Aber vielleicht ist gerade das das Gute daran. Das Ge-fühl verloren zu sein, Unsicherheit, das ist keinem von uns fremd. Wenn wir es nötig haben, dann läuft Gott mit seiner großen Liebe auch uns nach. Der Hirte begibt sich in Gefahr – abzustürzen, sich lächerlich zu machen – Gott begibt sich in Gefahr: abgelehnt zu werden, missverstanden zu werden, für seine Liebe nicht wieder geliebt zu werden. Aber die Liebe, die Sehnsucht danach, dass keiner verloren gehen soll, ist stärker. Aber ich bin eben auch eins von den neunundneunzig Schafen. Manchmal von Gott zurückgelassen, weil er darauf vertraut, dass wir es schaffen, durchzuhalten, während irgendwo einer wirklich allein ist. Manchmal sauer auf den, der dazukommt, der anders ist, denkt, seinen neu entdeckten Glauben lebt. Die Erfahrung, dass der Hirte sich auch um andere kümmert, verändert die Herde. Die Erfahrung, dass Gottes Liebe auch denen gilt, die anders sind, die andere Erfahrungen gemacht haben, die sich auch von ihm entfernt haben und die Erfahrung, die diese Menschen mitbringen, verändert auch Gemeinde, verändert mich. Vielleicht ist es das, was uns dieses Gleichnis auch heute noch erzählen kann: Seid bereit, euch zu verändern, zu vergrößern. Seid bereit, um der Liebe Gottes Willen, auch Momente der Gottesferne auszuhalten. Seid bereit, euch zu verändern, wenn andere neu hinzukommen. Ich denke auch an unsere Gemeinde. viele sind in den letzten Jahren neu hinzugekommen, andere weggegangen, weggeblieben. Es ist ein Grund zu feiern, wenn Menschen entdecken, dass Gottes Liebe auch ihnen gilt und sie ihr Leben ändern. Und feiern heißt auch: ihnen Platz zum Leben in der Gemeinschaft zu geben. Raum, mit ihren Erfahrungen da sein zu dürfen. Und so auch das, was bisher war, zu verändern. Gottes Liebe macht Menschen, macht Gemeinschaft, macht Gemeinde neu.

Amen.

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