Predigt 19. n. Tr. 08, 28.09.08, Reihe VI
Liebe Gemeinde!
Mehr Schein als Sein! Vielleicht ist das ein Motto unserer Zeit, nach dem sich immer mehr Menschen richten. Die Welt des schönen Scheins, in der Falten, Narben, Risse keinen Platz mehr haben. Spuren, die das Leben in Gesichter schreibt, graue Haare, früher ein Zeichen von Würde, werden wegoperiert, weggefärbt, weich gezeichnet, so dass man auch mit über 40 noch auf den ersten Blick für gut 20 durchgeht oder aber hoffnungslos verloren und von Gestern ist. Sicher, manchmal ist es auch ein Schutz für die eigene Seele, wenn man sich die Risse im Leben nicht ansehen lässt. Mich hat in der letzten Woche eine lange E-Mail von einer jungen Frau berührt, die ich in Fulda vor ungefähr fünf, sechs Jahren kennengelernt habe, die mal mit Konfer dort anfing, dann immer wieder schwänzte und alles hinwarf. In der Schule hielt sie damals auch nichts durch. Ich fand sie nicht unsympathisch, aber irgendwie leichtlebig. Bei „wer-kennt-wen“, einer Seite im Internet, auf der man andere treffen kann, habe ich auf der Seite einer gemeinsamen Bekannten ein Bild von ihr gesehen. Aus dem irgendwie ganz niedlichen, aber ziemlich rotzigen Mädchen ist eine hübsche junge Frau geworden. Ich habe ihr eine kurze Mail geschrieben, einen Gruß mit einem Kompliment für ihr Äußeres, das ihr gut steht. Sie hat mir ganz lang geantwortet. Sie hat davon erzählt, dass sie seit über zwei Jahren ihre schwerkranken Großeltern pflegt, um die sich sonst niemand kümmert, dass sie dadurch keine Zeit hatte, sich um Ausbildung zu kümmern und ihr Schulabschluss auch nicht so brillant war, dass sie anfängt, sich nicht nur Sorgen um die Großeltern, sondern auch um ihre eigene Zukunft zu machen. Sie hat einen Freund, der ihr Halt gibt, und für den lohne es sich, auch aufs Äußere zu achten. Das mache ihr einfach Spaß. So einfach, wie ich es mir machen wollte, konnte ich es mir nach dieser Mail nicht machen. Manchmal ist ein Schutz nötig, damit man auch mal abschalten kann. Damit man nicht kaputtgeht. Auf Dauer bringt das natürlich keinen Riss weg, ebnet keine Sorgenfalte ein. Es ist aber trotzdem ein Unterschied, ob ich aus meinen Alltagssorgen auch mal ausbrechen kann oder ob ich so tue, als gäbe es das alles nicht. Wenn ich so tue, als gäbe es keine Risse, wenn ich die Oberfläche immer glatt poliere, dann wird die Oberfläche immer dünner und bricht irgendwann mal ein. Wenn ich Risse wahrnehme, zulasse, dann weiß ich, wo ich dran bin, dann kann ich neue Wege finden, Stärken entdecken, Spalten und Spaltungen im Leben überwinden.
Vielleicht fragen sich jetzt manche, was das mit dem Stück aus der Bibel zu tun hat, das ich eben vorgelesen habe. Aber genau darum geht es auch in dieser Geschichte: Um einen Riss, der sich aufgetan hat, der nicht wegdiskutiert wird. Um eine Wunde, die heilt - aber auch eine Narbe, die bleibt.
Bei denen, die sich in der Bibel ein bisschen auskennen, klingelt es wahrscheinlich gleich beim Namen Moses. Das ist doch der, der im Auftrag Gottes das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei durch die Wüste ins gelobte Land führen soll. Moses bekam unterwegs die Zehn Gebote - aber weil den Menschen die Warterei darauf zu lange wurde, haben sie gesagt: „Wir wollen keinen Gott, den man nicht sehen kann, wir wollen was Handfestes.“ Sie ließen Aaron, den Bruder von Mose, aus dem Schmuck, den sie hatten, ein goldenes Kalb machen und beteten es als Gott an. Als Mose kam, wurde er natürlich sauer und es sah so aus, als ob die Geschichte Gottes mit diesen Menschen aus und vorbei wäre. So ein Riss ist nicht zu flicken, so ein Bruch ist nicht wieder gut zu machen. Aber die Geschichte ging anders weiter. Der Bruch hat sich als etwas Heilsames herausgestellt. Es geht weiter - nicht so, als ob nichts gewesen wäre, sondern so, dass man merkt, dass da was war, was wehgetan hat, dass das aber einer neuen, guten Beziehung nicht im Weg steht. Genau da setzt der Schnipsel aus der großen Geschichte, der heute Predigttext ist, ein. Gott lässt die Regelübertretung nicht das Ende sein, sondern die Chance für einen Neuanfang. Gott teilt Mose etwas ganz wichtiges über sein Wesen mit. Er ist barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied. Je nachdem, wie man das hört, kann man das ganz schön fies finden. Kinder und Enkel müssen unter dem leiden, was Eltern und Großeltern falsch gemacht haben! Nein, gerecht ist das nicht! Aber die Wahrheit über das Leben. Kinder, nachfolgende Generationen sind kein unbeschriebenes Blatt. Nicht nur genetisch bekommen sie einiges von den Generationen, die vor ihnen gelebt haben, mit auf ihren Weg. Und vor allem ist die Strafe ja gar nicht die Hauptsache in dem, was Gott hier über sich selbst sagt. Barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde. Das ist der entscheidende Punkt. Gottes Wesen ist Gnade, Treue, Vergebung - auch da, wo Menschen Schuld auf sich geladen haben, auch da, wo Menschen untreu werden. Gott hält die Treue. Aber keinen faulen Frieden, der so tut, als wäre nie etwas gewesen, keinen schön geschminkten Scheinfrieden, bei dem alles in Ordnung ist. Die Risse und Brüche werden klar benannt. Und erst dadurch wird deutlich, dass die Liebe Gottes, seine Gnade und Treue nicht nur billige Schminke um des guten Effektes wegen ist, sondern echte Liebe, die eben auch die Risse und Brüche aushält und deren Stärke sich genau daran zeigt. Nicht „vergeben und vergessen“, sondern „vergeben ja, vergessen nein!“ Vielleicht kann man das mit diesen einfachen Worten ausdrücken. Wer vergisst, wie weh Treuebrüche tun, wie weh es tut und wie lange es dauert, verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen, der wird den gleichen Fehler wieder und wieder machen. Dort, wo der Bruch, wo der Riss nicht zugekleistert wird, dort ist auch die Möglichkeit da, ihn als Warnsignal zu verstehen, als Erinnerungsmarke: so etwas soll nie wieder geschehen. Das geht aber auch nur dann, wenn das Vertrauen da ist, dass diese Offenheit nicht ausgenutzt wird. So wie Gott hier sagt, dass sein Wesen die Vergebung ist, die die Folgen des bösen Verhaltens nicht ausblendet, so brauchen wir im Alltag auch die Gewissheit, dass Offenheit und Reue nicht ausgenutzt werden. Manchmal müssen Menschen auch vor zu viel Offenheit geschützt werden. Ich finde es unglaublich, wie viele Menschen sich im Fernsehen öffentlich lächerlich machen oder lächerlich machen lassen durch Eingeständnisse, die besser im privaten Bereich geblieben wären. Ob es ums Fremdgehen oder um andere Dinge geht -Offenheit ist gut, aber nicht um jeden Preis, sondern alles braucht seinen Rahmen - und seine Vertrautheit. Bei Gott können wir sicher sein, dass er Schwächen nicht gegen uns ausnutzt, im Gegenteil. So, wie sich das ja auch hier in der Geschichte zeigt.
Mose, der Mensch, hat da wenig Vertrauen zu seinen Leuten. Er bittet Gott, dass er, Gott, selbst mitten unter den Menschen sein müsse, weil sie sonst doch nichts kapieren. Aber Gott geht einen anderen Weg. Durch dich, Mose, durch einen Menschen, will ich unter ihnen sein, sagt er ihm. Das Wunderbare der Liebe Gottes, die trotz aller Schuld einen Neuanfang schenkt, durch die Begegnung mit einem Menschen sehen - diesen Weg ist Gott in Jesus Christus ganz konsequent zu Ende gegangen. Nicht „mehr Schein als Sein“, sondern „mehr Sein als Schein“ ist sein Weg. Gott macht uns Menschen nichts vor. Er begibt sich mit uns Menschen sozusagen auf Augenhöhe, damit wir die Wahrheit über unser Leben sehen und aushalten können, damit wir an Schuld nicht zerbrechen, sondern einen Neuanfang sehen und schaffen können. Dass ich als Mensch trotz allem, was schwer und manchmal kaum auszuhalten ist, was wert bin, das ist die Botschaft, die uns mitgegeben wird. Und diesen Wert, diesen Spaß am Leben trotz manchem Schweren, den können wir ja auch ausdrücken. Manchmal vielleicht auch wie die junge Frau aus Fulda dadurch, dass man äußerlich zeigt: ich bin mir was wert, es ist nicht alles furchtbar, auch wenn vieles schwer ist. Vielleicht steckt ja öfter als auch ich manchmal denke, hinter dem, was andere als eine zurechtgemachte Partytussi aus dem Funpark wahrnehmen, ganz viel menschliche Tiefe. Risse können heilsam sein, nicht nur in der Schminke und der Fassade von anderen, sondern auch im eigenen Denken.
Gebe Gott, dass wir uns nicht zu schnell mit dem Schein zufrieden geben, sondern bei anderen und uns nach dem Schauen, was wirklich ist, was Leben erhält und neues Leben schenkt.
Amen.