Micha 6,6-8 und Lukas 24,13-35
Predigt Mi 6,6-8 / Lk 24,13-35
Liebe Gemeinde!
Wo laufen sie denn? Ja, wo laufen sie denn? Wo laufen wir denn? Ja, wo laufen wir denn? Beim Nachdenken über Kirche und Gemeinde, über Christsein und Ökumene kommen mir manchmal die beiden Herren an einer Pferderennbahn in den Sinn, die Loriot vor vielen Jahren bildlich zum Leben erweckt hat. Vor lauter Missverständnissen, Unkenntnis, Ignoranz, gepaart mit einem Schuss Besserwisserei, wird das Wesentliche verpasst und am Ende bleiben beide frustriert zurück, während sich das Publikum lachend an dem scheiternden Dialog ergötzt. Wo laufen wir denn? Immer im Kreis herum, wie auf einer Rennbahn, mit dem Ziel, am Ende den Großen Preis gegen die Konkurrenz zu gewinnen? Und wer wäre die Konkurrenz? Andere Religionen und Weltanschauungen oder doch die Brüder und Schwestern in anderen Kirchen und Gemeinschaften? Oder sind wir eher die beiden gesetzten Herren, deren Dialog völlig scheitert und die dadurch Wesentliches verpassen? Lacht dann wenigstens noch ein Publikum von draußen über uns oder hat sich dieses Publikum schon längst von uns verabschiedet, so wie Loriot und sein Humor heute für die unter 35-jährigen, vielleicht auch unter 40- oder 45-jährigen doch auch recht altbacken wirkt?
Die Fragen, ob wir laufen, wo wir laufen, wohin wir unterwegs sind und was dabei geschieht, sind für mich keine nebensächlichen Fragen. Eine Grundwahrheit des Glaubens, der uns verbindet, und zwar nicht nur Christen verschiedener Konfessionen, Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften, sondern auch Christen und Juden, eine Grundwahrheit dieses Glauben ist es, dass er in Bewegung bringt. Glauben an den EINEN Gott bewegt. Als Lesung aus dem ersten Testament haben wir Verse aus dem Buch Micha gehört, die weltweit das Motto der diesjährigen Gebetswoche für die Einheit der Christen bilden. Wie so oft ist diese biblische Lesung etwas beschnitten. Die Stoßrichtung des Prophetenwortes ist es nicht, den Menschen die Freude an schönen Glaubensfesten und gut gestalteten Ritualen nehmen zu wollen. Unmittelbar vor der Kritik erinnert der Prophet an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, an den Weg, den Gottes Volk in die Freiheit gegangen ist und daran, dass diese Freiheit immer gefährdet war und sie, mit Gottes Hilfe, immer wieder gesucht und erkämpft werden musste. Gott bringt in Bewegung – und deshalb kann eine rituelle Erstarrung nicht
die einzige angemessene Antwort auf dieses Befreiungshandeln Gottes sein. Nicht das Ritual, das Fest an sich ist schlecht, sondern die Erstarrung, die sich selbst genügt und die die Bewegung und die Unfreiheit und Ungerechtigkeit im Umfeld ausblendet. Es ist gut, dass die weltweiten Vorbereiter dieses Gebetswochengottesdienstes, die Indische Christliche Studentenbewegung, durchaus selbstkritisch an diesen bewegenden Aspekt des Glaubens erinnern. Viele Christen in Indien gehören zu den Dalits, den sogenannten „Unberührbaren“, die außerhalb des Kastensystems stehen. Auch in den Kirchen sorgt das für Spannungen und auch in vielen christlichen Gemeinden wird die Not dieser Geschwister nur am Rande wahrgenommen, wird die gesellschaftliche Benachteiligung und Nichtbeachtung fortgesetzt. Wo laufen wir denn? Sind wir noch auf dem Weg mit Gott in unserer Gemeinde, in unserer Gemeinschaft? Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott. Diese Wahrheit ist nicht nur eine zeitliche. Sie ist mehr als ein an das Volk Israel an der Schwelle vom 8. zum 7. vorchristlichen Jahrhundert ergangenes Wort. Diese Wahrheit ist, in Verbundenheit mit dem Volk Gottes, eine Wahrheit, die auch uns gilt. Weltweit. Wo Unterdrückung, Unfreiheit, Unrecht herrschen, wo, vielleicht sogar noch unter Inanspruchnahme des Namens Gottes, die angebliche Überlegenheit von Rassen, Klassen, Kasten, Berufen gepredigt und gelebt wird, da wird der Weg, den Gott mit uns geht und auf den uns der Prophet eindringlich einlädt, meilenweit verlassen. Die bequemste Lösung für uns wäre es, jetzt laut aufzuschreien, das indische Unrecht anzuprangern und von hier aus für die Rechte der Dalits einzutreten. Natürlich kann das wichtig und geboten sein. Und natürlich ist es wichtig, den Blick über den Marburger, über den deutschen, über den westlichen Tellerrand hinaus zu weiten. Aber manchmal dient dieser Blick als bequeme Ablenkung und Beruhigung, und er hilft dabei, die Augen vor dem zu verschließen, was es in unserem Lebens- und Glaubenszusammenhang heißen kann, Recht zu tun, Güte und Treue zu lieben, in Ehrfurcht den Weg zu gehen mit unserem Gott. Wo verhelfen wir, die wir uns in der Nachfolge Jesu glauben, einander zu Recht? Wo lassen wir Güte walten? Wo ist in unserem Miteinander die Ehrfurcht nicht nur vor Gott, sondern auch vor dem Bruder und der Schwester mit deren Anderssein zu entdecken? Wo sind wir bereit, Wege zu gehen und wo erstarrt im Blick auf unsere eigenen geleibten Formen und Rituale, wo gelähmt im Blick auf allzu Vertrautes? Wo werden wir unfähig, Wege zu gehen, weil wir uns in unseren eigenen Systemen nicht nur eingenistet, sondern manchmal auch eingemauert haben? Lähmt uns in allen innerkirchlichen System-, Spar-, Streich-, Prozessdiskussionen der Wille, Vertrautes verteidigen zu wollen oder zu müssen oder haben wir die Freiheit, mit Gott und Miteinander aufzubrechen? Diese Fragen stellen mir der prophetische Text und der selbstkritische Umgang der indischen Studierenden mit ihm. Fertige Antworten habe ich nicht. Ich glaube, dass sie sich auch nicht einfach und bequem aussprechen lassen, sondern dass sie auch nur im Beten, im Nach-Denken, im Gehen, in der Bewegung zu finden sind. Gottes Wort bewegt. Aber wenn wir uns nicht bewegen lassen, wenn wir uns der Erstarrung hingeben, dann wird unser Weg ins Nichts führen.
Dafür steht für mich auch das Evangelium. Wir haben gehört, wie zwei Jünger so dem Vergangenen verhaftet waren, dass sie den Auferstandenen, den Lebendigen, der ihren Weg mitging, nicht erkennen konnten. Erst im Nachhinein und erst in seinem Tun erkennen sie ihn - und dieses Erkennen setzt eine neue Bewegung in Gang. Der lebendige Christus begegnet dort, wo Menschen unterwegs sind. Ein erster, mir wichtiger Gesichtspunkt der Geschichte. Er lässt sich nicht an Orte und Häuser binden. Römisch-katholischen, evangelischen und manchen Christen aus freien Kirchen und Gemeinden ist es wichtig, dass er in der Mahlfeier gegenwärtig ist – dort, wo ihn auch die beiden Jünger erkennen. Aber wenn diese Erzählung ernst gemeint ist, gilt auch hier: sobald wir glauben, ihn zu haben, zu kennen, identifizieren zu können, ist er schon wieder weg und nötigt zum Aufbruch in den Alltag. ein zweiter wichtiger Punkt aus diesem Evangelium. Gestärkt von der Feier der Gegenwart des Auferstandenen verwirklicht sich Glauben auf dem Weg im Leben – nämlich dort, wo Recht getan wird, Güte und Treue geliebt werden und in Ehrfurcht der Weg mit unserem Gott gegangen wird.
Wo laufen wir denn? Sind wir unsichtbar, weil wir uns schon längst hingesetzt haben und mit unserem Mit- und Nebeneinander es uns zufrieden bequem gemacht haben? Wo laufen wir denn? Haben wir noch ein Ziel? Rechnen wir noch mit überraschenden Begegnungen mit dem Auferstandenen, die Wirklichkeit verändern? Oder laufen wir nur im Kreis in der Hoffnung, irgendwann andere abzuhängen und für einen Moment als Sieger dazustehen – bevor der Kreisverkehr weitergeht, ohne dass wir wirklich von der Stelle kommen?
Unterwegs mit Gott – als Mensch mit Menschen, als Bruder und Schwester, mit offenen Ohren, Augen und Herzen. Über Grenzen hinweg. Mit überraschenden Einsichten und Ausblicken. Mit glühender Leidenschaft für die Freiheit der Kinder Gottes, für die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, für die Güte, mit der er uns liebt. Laufen wir so? Gott gebe es. Amen
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