Text: 2. Samuel 12,1-10+13-15a
Liebe Gemeinde!
Wer sagt einem eigentlich, was richtig und was falsch ist? Weiß man nicht selbst oft ziemlich genau, was richtig und was falsch ist? Natürlich! Es ist doch vernünftig und für jemanden, der nicht krank ist, ganz einfach einzusehen. Es ist falsch, Schwachen etwas wegzunehmen, nur weil der Starke keine Lust hat, von seinem Reichtum etwas abzugeben. Die Geschichte, über die König David hier urteilen soll, mit dem geschlachteten Schaf, die hätten wir wohl alle genauso entschieden. Das geht ja wohl gar nicht, dass der Reiche sich einfach vom Armen nimmt, was er gerade will! Aber ist es wirklich so natürlich und vernünftig? König David, eben noch empört über die Bosheit und Frechheit des Reichen, den er am liebsten zum Tode verurteilen würde, spricht das Urteil über sich selbst. Er, der hier so vernünftig und menschlich denkt, hatte keine Skrupel, als er eine schöne Frau beim Baden sah. Er wusste, dass sie verheiratet war und er hatte mehr als nur eine Frau. Aber warum soll er nicht die Gelegenheit nutzen? Er ist ja der König, er lässt sich die Frau bringen, schwängert sie und als der Versuch scheitert, dem betrogenen Ehemann, der noch dazu einer seiner treusten Soldaten war, das Kind unterzujubeln, lässt er ihn einfach umbringen. Er hatte die Macht dazu. Was bringt einen dazu, die Macht, die man hat, nicht einfach auszunutzen? Die Angst vor Strafe? König David soll von Gott seine Strafe bekommen. So wird es ihm von Nathan, dem weisen Propheten, gesagt. Aber ist das nicht unbefriedigend und traurig, wenn nur die Angst vor Strafe regiert? Uria, der im Auftrag Davids ermordete Mann seiner Geliebten, der bleibt tot, egal wie hart David bestraft wird. Und die Angst vor Strafe, die heißt ja nicht, dass jemand das Verhalten, das zur Strafe führt, falsch findet. Man verzichtet halt drauf, weil man keine Lust auf Scherereien und Strafe hat. Man klaut halt nicht bei Edeka, wenn zu viele Leute rundum stehen und die Videokamera es vielleicht aufnimmt. Man will ja nicht erwischt werden. Aber wenn’s keiner merkt: Warum nicht?
Brauchen wir überhaupt Strafe? Eigentlich weiß doch König David, dass er falsch gehandelt hat. Und ein Ladendieb weiß das genauso wie jemand, der andere betrügt. Muss der Mensch nicht nur einfach mal seine Vernunft gebrauchen? Aber, und da bin ich wieder ganz am Anfang: wer sagt denn der Vernunft, was richtig und was falsch ist? Gott? Oder: die Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer? Aber woher wissen die es? Die Gesellschaft, die Kultur, in der man aufwächst? Aber woher weiß die es? Oder ist so was ganz natürlich einfach im Menschen drin? David beruft sich ja gar nicht auf irgendwelche göttlichen Regeln und Gebote, als er den Reichen in der Geschichte, die Nathan ihm erzählt, verurteilt. Er weiß scheinbar von allein, was gut und richtig ist. Aber nicht nur König David aus der Bibel, sondern wir Menschen überhaupt sind ziemlich schnell überfordert, wenn wir nur mit unserer Vernunft sagen sollten, was gut und böse, richtig und falsch ist und dann danach handeln sollten.
Es war kein böser Wille und keine Unmenschlichkeit, die vor fast 100 Jahren Kommunisten dazu getrieben hat, in Russland den Zaren zu stürzen. Bauern, die als Leibeigene unter unwürdigsten Bedingungen lebten, sollten befreit werden. Menschen sollten frei werden - mit Hilfe der Vernunft, die sie dazu führen sollte, gut zu werden. Ganz schnell wurde daraus eine menschenverachtende und vernichtende Diktatur.
Andere sagen, man soll es doch dem freien Markt von Angebot und Nachfrage überlassen, was aus dem Menschen wird. Je weniger der Staat, die Kirche oder andere Institutionen, je weniger Gott oder Ideologien etwas regeln, desto besser wird sich die menschliche Freiheit entfalten. Hört sich vielleicht gar nicht so unvernünftig an, aber den Preis für Freiheit und Wohlstand weniger Starker zahlen in einem solchen System Millionen Menschen, die schwächer sind, sich nicht durchsetzen können, die in die falschen Gegenden der Welt hineingeboren wurden, die alt, krank, behindert sind oder die einfach die falsche Schule besuchen.
Wir kommen nicht weiter mit unserer Vernunft. Auch nicht mit so schönen Sätzen wie „was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu.“ Was ist, wenn ich es mag, dass mir Schmerzen zugefügt werden oder wenn ich für mich Blutspenden und Organtransplantationen ablehne? Soll mein Wille dann auch noch Gesetz sein? Selbst wenn ich es in Anlehnung an den Philosophen Kant mit dem Satz halte „Handle so, dass dein Tun für jeden Menschen zu jeder Zeit an jedem Ort Handlungsanleitung sein kann“ - was hätte ich gewonnen? Nicht so viel, weil ich doch gar nicht den Überblick habe und zu allen Zeiten an allen Orten das Richtige kenne und weiß.
Also: was können wir tun? Gar nichts und die Hände in den Schoß legen? Machen, was wir wollen? Oder uns einfach Gesetzbücher als Autorität holen und sagen: da steht es drin und so mache ich es. Und dann ist es gut. Aber wer beschließt Gesetze? Auf jeden Fall gab - und gibt - es Gesetze, die wirklich unmoralisch waren oder sind. Die Gesetze zum Beispiel, die im Nationalsozialismus dazu geführt haben, dass Juden, politische Gegner, engagierte Christen und noch viel mehr Menschen vernichtet wurden. Oder ein neues Gesetz in Italien, das besagt, dass der Regierungschef selbst dann nicht angeklagt werden darf, wenn er eine Straftat begangen hat. Ich will das nicht auf eine Stufe stellen. Das erste ist unvergleichlich viel schlimmer. Mir geht es darum, dass das Problem unmoralischer Gesetze nicht durch freie Wahlen gelöst wird. Der Mensch ist in seiner Vernunft begrenzt.
Also doch göttliches Gesetz und tun, was in der Bibel steht? Es wundert sicher nicht, dass ich als Pfarrer in der Kirche da schon eine gute Richtung sehe. Aber ganz so einfach ist es nicht. Leider. Schon Jesus wurde auch als Gesetzesbrecher gesehen und angeklagt, weil er die Regeln in der Bibel auslegte. Er hat am Ruhetag Menschen geheilt und Hunger gestillt - für viele fromme undenkbar! Und wir finden heute auch nichts dabei, Schweinefleisch zu essen, Milchprodukte und Fleisch zusammen zu essen - alles Dinge, die in der Bibel verboten werden. Dafür finden wir, dass es gegen Gottes Gebote verstößt, mehr als eine Frau zu haben, obwohl das zu Zeiten von König David erlaubt war. Was gilt nun? Wir sehen, dass manche Gott zugeschriebenen Anweisungen zum guten und richtigen Leben scheinbar überholt sind. Und für viele Lebenssituationen heutzutage steht einfach nichts direkt in der Bibel. Damals gab`s keine Autos und Flugzeuge, nicht die Möglichkeit per Fernsehen und Internet sich zu informieren. Es gab keine Massenvernichtungswaffen und keine Chemieindustrie. Keine Gentechnik und keine Intensivmedizin. Wenn ich Jesus ernst nehme, dann gibt es kein starres Konzept von Handlungen, die richtig sind, sondern es muss immer wieder gefragt werden: Was ist in diesem Moment, für diesen Menschen das Richtige, durch welches Tun und Lassen werden Menschen untereinander und mit Gott in diesem Moment ins richtige Verhältnis gesetzt?
Dafür sind ein paar Einsichten ganz wichtig:
1. Kein Mensch verdankt sein Leben sich selbst. Und kein Mensch hat sein Leben vollkommen in der Hand.
2. Gott ist ein Gott des Lebens. Das ist von Anfang an klar. Er will Menschen immer wieder auf den Weg zum Leben führen und dazu hat er sich in Jesus offenbart.
3. Die Zehn Gebote und alle anderen Regeln in der Bibel, die gutes Zusammenleben betreffen, dienen immer dem Schutz des schwachen Lebens vor dem Starken, setzen der Macht und der Stärke Grenzen, damit das Recht des Schwächeren gewahrt bleibt.
Richtig ist deshalb ein Tun und Lassen - manchmal kommt’s ja nicht drauf an, etwas zu machen, sondern etwas bleiben zu lassen - das darauf ausgerichtet ist, dem Leben zu dienen. Gott ist nicht der Gesetzgeber, der die einzelne Verhaltensregel aufstellt, sondern der Schöpfer des Lebens. Als solcher steht er hinter der Forderung nach richtigem Tun und Lassen. Beim praktischen Handeln, da sind wir durchaus auf unsere Vernunft angewiesen. Auf unsere Fähigkeit, nachzudenken, sich einzufühlen. Deshalb kann David ja so klar sagen, was falsch ist, ohne gleich Gebote zu zitieren. Weder das Verhalten des reichen Mannes noch sein eigenes Verhalten haben dem Leben gedient. Aber nicht nur David und der reiche Mann aus der Geschichte sind schuldig geworden. Wir merken ja selbst immer wieder, dass wir oft genug weder uns selbst noch andere wirklich zum guten Leben bringen, geschweige denn, dass wir dabei an Gott dächten. Wir sind immer wieder auf Vergebung angewiesen, auf Gottes Gnade vor allem Recht. Weil wir uns und vor allem anderen nicht wirklich gerecht werden können. Denn weil ich im anderen Menschen nicht ganz und gar aufgehe, seine Gedanken und Bedürfnisse nicht genau kennen kann, kann ich ihm auch nie 100% gerecht werden. Und er mir auch nicht. Versöhnung mit Gott und den Menschen, das brauchen wir. Damit wir nicht zerbrechen, sondern in unserem Tun und Lassen dem Leben dienen können. Es geht nicht um Moral. Moral ändert sich. Wir leben heute anders als vor 100 Jahren, ganz anders als zur Zeit von König David. Es geht um das Leben. Damals wie heute. Es geht nicht um vorgefertigte Muster von richtigem Tun, nicht darum, Gott einen Gefallen zu tun, sondern Leben zu gewinnen und zu behalten. Amen.
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