Text: 1. Mose 22,1-13
Liebe Gemeinde!
Nein, mit diesem Vater kann ich nicht mehr leben. Nein, mit einem Vater, der bereit ist, mich umzubringen, der nicht bereit ist, um mein Leben zu kämpfen, kann ich nicht zurückgehen. Mit einem Vater, der meiner Mutter ihr einziges, lang ersehntes und heißgeliebtes Kind wegnehmen will, weil er Stimmen hört. Mit einem Vater, der mich das Holz, auf dem er mich verbrennen will, tragen lässt. Nein, mit diesem Vater kann ich nicht mehr gehen.
Ob Isaak wohl so etwas durch den Kopf gegangen sein könnte? Die Bibel lässt es offen. Als Abraham die Knechte zurücklässt, vielleicht, weil er sich schämt, sie bei seiner Untat zusehen zu lassen, sagt er noch: „Wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch zurückkehren“. Aber als alles vorbei ist, heißt es nur noch, das habe ich eben nicht vorgelesen: „Und Abraham kehrte zu seinen Knechten zurück und sie machten sich auf.“ Und Isaak? Vielleicht hat Abraham seinen Sohn verloren. Und vielleicht hat er auch ein Stück weit Gott verloren. Als die Geschichte mit Abraham beginnt, sagt Gott zu ihm „Du sollst ein Segen sein!“ Nachdem Abraham nicht davor zurückgeschreckt hat, seinen eigenen Sohn opfern zu wollen, sagt Gott: „Deine Nachkommen sollen gesegnet sein“. Vielleicht hat das wenig Bedeutung. Es fällt aber auf, dass Ab-raham nicht mehr direkt angesprochen ist.
Verstörend. Traurig. Unglaublich. Mir fällt es schwer, diese Geschichte aus der Bibel einzuordnen oder sie einfach nur zu beschreiben.
Das war nicht immer so. Als Kind hat mich die Geschichte nicht verstört. Ich hatte, Gott sei Dank, eine weitgehend glückliche Kindheit. Und als ich in meiner Kinderbibel die Geschichte gelesen hatte, da dachte ich, dass Abraham und Issak schon vorher wussten: da kann ja nichts passieren, weil Gott auf sie aufpasst. In meiner Welt als Kind kamen Erwachsene, Eltern, die das Vertrauen ihrer Kinder missbrauchen, nicht vor. Für mich war es als Kind unvorstellbar, dass im Namen des lebendigen Gottes getötet wird.
Heute verstört mich diese Geschichte. Mich macht sie heute traurig und wütend, weil mir viel zu viele Bilder aus der Wirklichkeit einfallen. Von Vätern und Müttern, die ihre Kinder schlagen, missbrauchen oder einfach nur vernachlässigen, weil andere Dinge wichtiger sind. Manchmal sind Suchtkrankheiten die Ursache. Das kann mühevoll, aber immerhin, vielleicht geheilt werden. Manchmal ist es aber einfach auch nur so, dass andere Dinge wichtiger als die Kinder sind. Beruf oder Disco, der neue Liebhaber oder das dicke Auto, dem die Liebe geschenkt wird. Und trotzdem erlebe ich diese Kinder manchmal so, dass sie auch bittere Wege mitgehen und nicht wahrhaben wollen, dass die Eltern ihr Vertrauen missbrauchen. Wie bei Isaak. Der geht mit. Auch als ihm dämmert, das irgendwas nicht stimmt, läuft er nicht weg sondern behält das Vertrauen zu seinem Vater. Sol-che Bilder machen sich heute in mir breit, wenn ich diese Geschichte höre.
Und Bilder von Fanatikern, die meinen, auf Gottes Stimme zu hören, wenn sie anderen das Leben nehmen wollen. Im Namen Gottes wird getötet. Nicht nur bei islamistischen Terroristen. Auch bei Menschen, die sich auf den Gott Israels, auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, auf den Vater Jesu Christi berufen. Nicht nur zu Zeiten der Kreuzzüge in einer finsteren Vergangenheit. Bis heute gibt es Fanatiker, die glauben, es sei Gottes Wille, dass Menschen getötet werden müssten. Wie weit darf man gehen, wenn man an Gott glaubt?
Ich glaube, dass Abraham hier eindeutig zu weit geht. Kurz bevor diese Geschichte erzählt wird, berichtet die Bibel davon, wie Abraham lange und zäh mit Gott verhandelt, damit wenigstens nicht alle Einwohner von Sodom und Gomorrha durch Gottes Zorn zu Tode kommen. Und jetzt, wo es um seinen eigenen Sohn geht, da schweigt er. Innerlich zerrissen wird er gewesen sein. Die Arbeit, die sonst die Knechte machen: Holz hacken, Lasttier vorbereiten, die macht er selber. Vielleicht, weil er mit niemandem auch nur andeutungsweise über das Schreckliche, das von ihm gefordert wird, reden will. Vielleicht, weil er merkt, dass er die Verantwortung mit niemandem teilen kann.
„Führe uns nicht in Versuchung!“ Für mich ist diese Ge-schichte von Abraham und Isaak eine Auslegung dieser Bitte aus dem Vaterunser. Führe uns nicht in Versuchung, Stimmen zu trauen, die den Tod fordern, wo du doch ein Gott des Lebens bist. Führe uns nicht in Versuchung, blind zu folgen, wo wir dich, Gott, doch auch auf deine Liebe, auf dein Erbarmen, auf deine Lebensfreundlichkeit ansprechen dürfen.
Es ist eine düstere Geschichte. Eine Geschichte, die ganz deutlich macht, dass auch der Glauben an Gott nicht vor Versuchungen, nicht vor Fehlentscheidungen, nicht vor dunklen Erfahrungen schützt. Natürlich zeigt die Ge-schichte auch, dass Gott eingreift und Leben rettet. Aber wie? Es ist fast eine Art Zeitlupe, in der erzählt wird, wie Abraham den Altar baut, das Holz aufschichtet, Isaak fesselt, auf das Holz legt, das Messer nimmt, aus-holt, bereit, seinen eigenen Sohn zu schlachten. Ich mag mir nicht vorstellen, was in Isaak vorgegangen ist, als er erkennt, dass sein eigener Vater bereit ist, ihn grausam umzubringen. Isaak bleibt diese Erkenntnis, dieser Schock nicht erspart. Der Eingriff erfolgt rechtzeitig vor dem Schlachten, das Leben bleibt erhalten. Aber es bleibt der Riss, die Verletzung. Wie ich am Anfang schon erzählt habe: Abraham verliert seinen Sohn. Er geht allein nach Hause. Gott greift ein – ein Bote von ihm, ein Engel stoppt Abraham im letzten Moment. Eine Jugendliche, mit der ich mich über diese Geschichte un-terhalten habe, hat sinngemäß gesagt: Es ist so, als ob Gott von seiner Verantwortung ablenken wollte. Am Anfang gibt er selbst den Befehl und dann lässt er den Engel sprechen. Es ist so, als ob aus dieser Geschichte keiner ungeschoren heraus käme. Abraham nicht. Isaak nicht. Und Gott auch nicht. Zumindest dann nicht, wenn wir das Bild von einem immer nur lieben Gott haben, den wir prima verstehen und der das macht, was wir uns an Gutem wünschen. Gott hat dunkle Seiten. Seiten, die wir nicht verstehen. Seiten, die uns ganz fremd sind. Wenn wir sagen: Gott ist der liebe Gott, dann sind wir mit unseren Erfahrungen ganz schnell da, wo wir nicht mehr weiterkommen. Weil nicht alles, was Menschen widerfährt, einfach nur lieb ist und schön ist. Weiter kommen wir dann, wenn wir sagen: Gott ist die Liebe. Und die Liebe hat eben auch die andere Seite, den Schmerz. Wer schon mal wirklich geliebt hat, kann viel-leicht ein Lied davon singen.
Zurück zu unserer Geschichte. Ich kann sie nicht perfekt erklären und alle Widersprüche, die sie auch bei mir aus-löst, aufklären. Ich kann ihnen und euch nur manches von dem sagen, was mich nachdenklich macht und was vielleicht zu einer Antwort führen könnte. Da ist der Widder, den Abraham findet und opfert. In der alten israelitischen Tradition ist der Widder ein Schuldopfer. Zur Sühnung eigener Schuld. Abraham dankt Gott also nicht durch das Opfer, sondern er bittet um Vergebung der Schuld. So kann man es vielleicht verstehen. Um Vergebung der Schuld, blind gehorchen zu wollen und so das von Gott geschenkte Leben aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht, ich weiß es nicht, kann man es auch noch viel radikaler interpretieren. Vielleicht ist der Widder, den Gott bereit stellt, auch ein Schuldopfer dafür, dass Abraham ja nicht aus eigenem Antrieb sich auf den Weg zu der grausamen Tat gemacht hat. Ein Versöhnungsangebot Gottes an Isaak und Abraham. Wie gesagt, vielleicht ist dieser Gedanke auch zu radikal. Was mich gar nicht weiterbringt, was aber diese Geschichte in die Reihe der Predigttexte kurz vor Ostern gebracht hat, ist der Vergleich von Isaak und Jesus. Auch Jesus musste sein Todesholz, das Kreuz, auf seinen Schultern tragen. Auch hier hat der Vater seinen Sohn in den Tod gegeben. Aber anders. Jesus und Gott sind unauflöslich eins. In Jesus hat Gott sich auf die Seite des Leidens gestellt. Freiwillig, nicht hinten rum. Es waren Menschen, die ungerechte Anklage erhoben und ungerechtes Urteil vollzogen haben. Hier opfert kein Vater seinen Sohn um Gottes Willen, sondern hier geht Gott selbst in den Tod um der Menschen willen. Hier stellt sich Gott, und da liegt für mich vielleicht ein Berührungspunkt, auf die Seite Isaaks, des unschuldigen Opfers. auf die Seite Isaaks, von dem Gott ja weiß, dass Abraham ihn liebt. „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebst“ – vielleicht soll die Geschichte von Abraham und Issak uns daran erinnern, wie schnell Menschen, wir, die Liebe vergessen oder nach hinten stellen, wenn wir meinen, von Höherem oder zu Höherem berufen zu sein. Ich weiß es nicht. Die Geschichte hinterlässt mich ein Stück weit ratlos, fassungslos, traurig. Aber sie zeigt mir auch, wie gut die Bibel für uns Menschen ist: sie ist kein Märchenbuch, das uns was über das Leben vormacht, was nicht stimmt. Sondern sie erzählt offen, ehrlich und ohne etwas wegzulassen vom Leben, vom Glauben. Von den guten und den dunklen Seiten. Von der Liebe, die manchmal auch schmerzt und manchmal ganz weit weg zu sein scheint. Von Gott, der die Liebe ist.
Amen.
Predigten und Gedanken aus der Thomaskirche auf dem Richtsberg in Marburg
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