Text: Mt 5,2-10
Liebe Gemeinde!
Wer ist eigentlich wirklich ein Christ? Bin ich überhaupt ein Christ? Wie komme ich zu Gott? Der ist doch weit weg, der interessiert sich doch nicht für mich! Das ist mir zu schwer, zu kompliziert, Christ zu sein! Ich glaube zwar an Gott, aber trotzdem lebe ich doch nicht christlich. Fragen, Aussagen von Zehntklässlern in einer Vertretungsstunde in der letzten Woche. Und nicht nur bei Zehntklässlern oder manchmal auch Konfirmanden, auch bei Taufeltern oder älteren Menschen, die ich bei Geburtstagsbesuchen kennen lerne, bei Angehörigen, die im Altenheim zu Besuchen dazu kommen tauchen genau die Fragen und Bemerkungen auf. Menschen, die nicht selbstverständlich regelmäßig in den Gottesdienst kommen, die nicht selbstverständlich in der Bibel lesen oder beten haben oft den Eindruck, dass es ganz schwer ist, Christ zu sein, an Gott zu glauben und auf ihn zu vertrauen. Und wenn ich mich selbst anschaue, dann merke ich, dass auch ich als Pfarrer manchmal ganz ähnliche frage oder denke: Was muss ich eigentlich machen, damit ich ein guter Christ bin? Schaffe ich das überhaupt? Ist das nicht in einer Welt wie heute, in der Leben so vielfältig und kompliziert geworden ist, nicht viel zu schwer?
Ich habe heute ein Bild verteilt. Der Mount Everest ist darauf zu sehen, der höchste Berg der Welt, fast 9000 Meter erhebt sich der Gipfel über den Meeresspiegel. Wer mich kennt und weiß, dass ich Berge mag, findet es vielleicht nicht ganz so merkwürdig, aber es hört sich trotzdem vielleicht komisch an: dieser Berg, der Predigttext von heute und die Erinnerung daran, dass wir heute auch den Reformationstag nachfeiern und uns an Martin Luther erinnern, haben mir dabei geholfen, bei den ganzen Fragen über die Schwierigkeiten, Christ zu sein und als Christ zu leben, etwas klarer zusehen. Zwei, drei Punke gibt es, bei denen ich glaube, dass der Berg, das Gebirge, manches wirklich anschaulich machen kann.
Da ist einmal die Frage: Wie komme ich da hoch? Auf den Mount Everst kommt nicht jeder. Da braucht es jahrelanges Training, Ausdauer, Geschick, und vor allem: viel, viel Geld. Ich muss die Anfahrt bezahlen, Bergführer bezahlen, die Ausrüstung bezahlen. Es ist schwer und teuer. Christsein als Frage des Geldes und der Anstrengung? Das hat schon Martin Luther beschäftigt. Es gab damals Menschen, Tetzel hieß einer von ihnen, die haben den Menschen erzählt, sie müssten nur für ihre Sünden bezahlen und schon hätte Gott sie wieder liebe. Und es gab Menschen, die haben erzählt, dass man sich nur genug Mühe geben müsste und genug gute Taten vollbringen müsste, möglichst perfekt werden müsste, und schon wäre man ein guter Christ und Gott nahe. Martin Luther hat erkannt, dass beides nicht stimmt. Weder Geld noch eigene Anstrengung bringen Menschen auf Dauer Gott nahe. Da bin ich wieder beim Berg, der ja in vielen Religionen als Wohnsitz der Götter angesehen wird und auch im Judentum, zum Beispiel bei den 10 Geboten, und im Christentum, unser Predigttext ist ja Teil der Bergpredigt, ein Bild dafür ist, Gott nahe zu sein. Ich kann mir noch so viel Mühe geben, mich noch so sehr anstrengen, noch so viel Geld ausgeben und noch so viel tun, um das Ziel, am Gipfel anzukommen, zu erreichen: ich werde nie am Gipfel bleiben. Am Ende stehe ich wieder unten. Vielleicht mit dem schönen Gefühl, es mal geschafft zu haben. Aber auf Dauer kann ich nicht oben bleiben. Auf Dauer bringt mich nichts, was ich tun kann, wirklich nahe zu Gott. Immer wieder gibt es im Leben auch Abstiege und die Erfahrung, dass Anstrengungen, gut zu sein, Gutes zu tun, nicht reichen, sondern dass sich auch immer wieder die andere, dunkle Seite im Menschen, das Aufgeben, nach unten gehen, bemerkbar macht. Wer aus der Bergpredigt den Schluss zieht, er müsse alle Anstrengungen unternehmen, um immer friedfertig, barmherzig, sanftmütig, reinen Herzens und gerecht zu sein, wird scheitern. Jesus sagt in der Bergpredigt nicht: Ihr müsst euch anstrengen, dass ihr sanftmütig, friedfertig, reinen Herzens seid und wenn ihr das geschafft habt, seid ihr selig, seid ihr besonders nahe bei Gott. Sondern er stellt ganz einfach fest: dort, wo das jetzt da ist, wo Menschen an Unrecht leiden, wo Menschen friedfertig sind und barmherzig sind, also vergebungsbereit und bereit, auf den eigenen Vorteil zu verzichten, da ist jetzt schon ein Stück Himmel auf der Erde. Die, von denen man vielleicht sagt: Das sind doch die Opfer, die am Boden liegen, das sind die, die eigentlich auf dem Gipfel stehen.
Und da bin ich beim zweiten Punkt, der mir diesen Berg für die Bergpredigt so wichtig gemacht hat. Das, was unten liegt, wird ins Licht gestellt und nach oben geholt. Die größten Berge der Welt sind so ähnlich entstanden. Da sind zwei Kontinente, zwei Welten aufeinander geprallt und das, was ganz unten, unsichtbar, war ist nicht nur ans Licht gekommen, sondern hat sich zu beeindruckenden, majestätischen Gebirgen aufgetürmt. Da stoßen zwei Wirklichkeiten zusammen. Die Welt, die Erfolge sehen und messen will. Die Welt, in der Opfer nichts gelten, die Opfer, Schwache braucht, damit andere oben stehen können. Die Welt, die das Unrecht feiert, weil der Stärkere es nutzen kann, um sich vom Schwächeren zu nehmen. Die Welt, in der nicht Barmherzigkeit, Vergebung, Verzicht auf den eigenen Vorteil, sondern das oft genug rücksichtslose Durchsetzen der eigenen Interessen, das Aufrechnen und Gegenrechnen von Schuld wichtig ist. Diese Welt stößt zusammen mit der Welt Gottes. In Jesus greifbar geworden. Mit der Welt Gottes, der auf der Seite der Opfer steht. Mit der Welt Gottes, der Liebe und Vergebung und nicht Rache und Gewalt will. Mit der Welt Gottes, in der Liebe stärker als der Tod ist. Da stoßen zwei Welten zusammen - und erstmal wird nichts vernichtet, aber eine neue Wirklichkeit wird sichtbar. Eine Wirklichkeit, die größer und schöner ist als das, was bisher für normal und richtig und unverrückbar gehalten wurde. Die Opfer der alten Welt kommen nicht nur ans Licht, sondern ihnen wird eine besondere Würde und Wertschätzung zugesprochen. Die alte Welt ist noch da. Aber die Zeichen für das neue, für die große Wirklichkeit der Liebe Gottes werden unübersehbar. Wie beim Entstehen der Gebirge geschieht dieses Auffalten der neuen Wirklichkeit nicht ohne Brüche und Schmerzen, nicht ohne Widerstände. Und so, wie die Gebirge auch heute noch wachsen, wächst die neue Wirklichkeit weiter. Sie ist noch nicht fertig. Aber wir können sie sehen und staunend davor stehen.
Und da ist das dritte, was mir am Bild des Berges wichtig geworden ist, das ist das, was ein Mensch sehen kann, wenn er tatsächlich vor einem Berg steht. Wenn ich hoch schaue, erkenne ich, wie klein ich eigentlich bin, wie schutzbedürftig, manchmal auch schwach, wie arm angesichts dieser Größe. „Selig sind, die geistlich arm sind“ - für mich heißt das nicht nur: Gott hat ein besonders Auge auf die, die mit nicht so viel Intelligenz ausgestattet sind, Gott hat ein Auge auf die in ihrem Geist und ihrer Seele Kranken, auf die mit geistigen Einschränkungen. Das heißt es für mich sicher auch. Aber es heißt auch, gerade im Blick auf die mit weniger solchen Einschränkungen: Gott ist denen besonders nahe, die sich ihrer eigenen Armut, ihrer eigenen Fehlbarkeit und ihrer eigenen Schwäche bewusst sind. Denen, die sich trauen, das ehrlich einzugestehen. Denen, die wissen, dass sie sich oft genug schwer tun mit dem Glauben, mit der Liebe, mit der Hoffnung, die aber nicht aufgeben wollen. Denen, die anderen keine geistige oder moralische Größe vormachen, die sich nicht aufblasen, sondern die als Arme und Bedürftige unter Armen und Bedürftigen leben. Für mich ist dieses Dastehen vor dem Berg aber nichts, was mich hoffnungslos macht. Als Christ muss ich weder mir noch anderen ständig sagen, wie schlecht die Welt im Ganzen ist und ich im Besonderen bin. Nein, ich darf staunend dastehen: obwohl ich so klein bin, so arm, ist diese große andere, neue Wirklichkeit auch Teil meiner Wirklichkeit. Ich darf mich am Berg, an der Güte Gottes freuen. Ich darf staunen, wie anders die Welt sein kann.