Liebe Gemeinde!
„Der Arzt hat es mir zwar Sahnetorte und Kuchen verboten, aber die Versuchung ist doch zu groß. Die Schwarzwälder sieht so gut aus, ein Stückchen schadet doch nicht.“ - „Ja, ich bin verheiratet. Ja, ich habe einen festen Freund. Aber die Gelegenheit ist doch gerade so günstig. Und einmal knutschen, das ist doch praktisch gar nichts! Das kommt doch auch sowieso nicht raus!“ - „Eigentlich habe ich ja nicht genug Geld, aber der große Flachbildfernseher ist halt gerade im Angebot! Da muss ich doch zuschlagen, die Versuchung ist halt zu groß!“ „Führe uns nicht in Versuchung“ - so beten wir im Vaterunser immer wieder. Aber manchmal scheint das Schöne an Versuchungen doch zu sein, ihnen zu erliegen. Das eine Stück Kuchen, der eine Kuss, die eine zu große Anschaffung - Man gönnt sich ja sonst nichts!
Es geht jetzt gar nicht darum, das alles moralisch zu verurteilen und Menschen, die ein Stück Torte zu viel essen, die den falschen Mann oder die falsche Frau küssen oder die zu viel kaufen, zu durch und durch schlechten Menschen abzustempeln. Es geht um die ganz grundsätzliche Fragen: „Von wem und von was lasse ich mein Leben lenken? Wer und was bestimmt mein Leben?“
Nein sagen zu können, verzichten zu können, in traditioneller kirchlicher Sprache: fasten zu können, das macht einen nicht unbedingt zu einem moralisch besseren Menschen. Aber es kann helfen, den Blick für das Wesentliche wieder frei und scharf zu bekommen. Wo ist die Orientierung? Wo orientiere ich mich an dem, was gut ist, was richtig ist? Wo ist der bequeme Weg der Falsche? Schaffe ich es, mich richtig zu entscheiden?
Auch die Nähe zu Gott bewahrt einen nicht davor, sich entscheiden zu müssen. Auch die Nähe zu Gott macht einen nicht zum unangreifbaren Helden. Darum geht es in der Geschichte aus dem Matthäusevangelium, in der Geschichte, die erzählt, wie Jesus sich in der Wüste mit Versuchungen herumschlägt. Wenn Jesus, so wie wir es bekennen, auch wahrer Mensch war, dann gehört dazu eben auch die Auseinandersetzung mit der Frage: „Welchen Weg kann und soll und muss ich gehen?“ Vierzig Tage, so erzählt es Matthäus, war Jesus in der Wüste. Vierzig - in der Bibel steht diese Zahl dafür, dass ein Zeitraum vollendet ist, dass die Zeit für eine Entscheidung da ist. Und die Wüste ist der Ort, an dem man ganz auf sich zurückgeworfen ist, an dem sich auch das Verhältnis zu Gott klärt - das war auch schon so, als Mose das Volk Israel aus Ägypten führte. Die Wüste ist ein Ort voller auswegloser Situationen - und gerade da offenbart sich Gott im Alten Testament oft genug als der, der Leben schenkt und das Leben weitergehen lässt. Vierzig Tage hat Jesus gehungert - die Zeit ist reif. Kein Wunder, dass die Versuchung groß ist, aus Steinen Brot zu machen. Was wäre nahe liegender und wer wollte es ihm verdenken? Die Frage, vor der Jesus steht, ist die, ob sein Auftrag darin besteht, Wunder zu vollbringen, ob er als Showman in die Geschichte eingehen will, bewundert und geliebt ganz sicher für alles Übernatürliche, ob er das Vertrauen allein in die eigenen Kräfte setzt oder ob er auch in schwieriger, nahezu auswegloser Situation fähig bleibt, Gott zu vertrauen. Gottes Verheißung, dass er ein Gott des Lebens ist. „Immer wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“ - diesen Spruch hatte meine Oma in ihrem Wohnzimmer hängen. Als Kind und vor allem als Jugendlicher fand ich ihn sehr merkwürdig und banal. Aber mittlerweile weiß ich selbst, dass Vertrauen nicht dann nötig ist, wenn sowieso alles leicht ist, sondern dass Vertrauen gerade dann wichtig ist und seine Stärke zeigt, wenn es erstmal unbegründet erscheint. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund ausgeht“ ist Jesu Antwort auf die Versuchung, ein Brotwunder zur eigenen Befriedigung zu vollbringen. Gottes Wort, seine Liebe und Hinwendung zu den Menschen eröffnet Auswege und Lebensmöglichkeiten. Vertrauen allein macht nicht satt - aber ein Leben ohne Vertrauen ist alles andere als lebenswert. Es gibt sicher in dieser Welt vieles, was das Leben wie eine Wüste erscheinen lässt und was es schwer macht, Gott und seinem Leben schaffenden Wort zu vertrauen. Aber die Kraft dieses Wortes werde ich, wie in dieser Geschichte aus der Bibel Jesus, nur dann wirklich entdecken und spüren können, wenn ich mich diesem Wort öffne und ihm Vertrauen schenke. Vertrauen ist immer ein Vorschuss. Ohne Garantie. Misstrauen ist einfacher. Jesus widersteht der Versuchung, den leichten Weg zu gehen, dem Wort Gottes zu misstrauen. Vielleicht ist das ja auch für uns ein erster Vorsatz für die Fastenzeit, die Zeit bis Ostern, in der sich viele Menschen bewusst mit ihrem Leben auseinandersetzen: Misstrauen fasten, auf Misstrauen zu verzichten und Vertrauen zu wagen statt ängstlich Süßigkeiten, Alkohol, Fleisch oder Zigaretten zu verstecken.
Jesus schafft es, trotz schwieriger äußerer Umstände, Vertrauen zu schenken. Und da kommt auch schon die zweite Versuchung: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Wenn du schon vertraust, dann probier doch mal aus, ob das Vertrauen gerechtfertigt ist! Hol dir deine Vertrauensgarantie ab!“ So zeigt sich die Versuchung. Aber die Sucht nach Kontrolle und Garantie macht Vertrauen - und letztlich auch die Liebe - kaputt. Selbst wenn die Kontrolle dieses eine Mal funktioniert: Wie wird es beim nächsten Mal sein? Ich werde immer unsicherer, will immer mehr in der Hand halten - und verliere dabei alles. Die Bibel, Jesus, zeigt hier einen anderen Weg: Spiel nicht mit dem Vertrauen, setz es nicht auf’s Spiel! Bewahre es für die Zeit, in der es nötig ist, aber versuche nicht ständig, Beweise zu finden und dich abzusichern! Für mich ist das auch so ein guter Vorsatz für die Fastenzeit, der in dieser Bibelgeschichte steckt. Vertrauen und Liebe haben da eine Menge gemeinsam. Wenn ich ständig austesten will, wie weit ich gehen kann, ob der andere mich wirklich liebt, wenn ich zum Beispiel auch mal versage, dann mache ich die Liebe mürbe. Liebe und Vertrauen kann ich nicht beweisen, nur schenken und annehmen. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ antwortet Jesus auf diese Herausforderung. Dann, wenn’s nötig ist, wird Gott da sein. Aber nicht dann, wenn ich mal spielen will. Dietrich Bonhoeffer hat mal gesagt: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ Kontrolle ist nicht schlecht - aber im Glauben und in der Liebe ist Vertrauen der bessere Weg.
Und dann kommt die letzte und entscheidende Frage, die geklärt wird: Von wem lässt du dich lenken? Von dem Trieb, über andere zu herrschen, andere als Eigentum anzusehen, Stärke mit Gewalt zu verwechseln? Um den Preis, den grenzenlosen Egoismus, die Gewalt, die Gottferne anzubeten, wird Jesus die ganze Welt als Machtbereich, in dem er seine Macht nur zum eigenen Vorteil gebrauchen kann, angeboten. Hier, das ist dein Eigentum, damit kannst du machen was du willst, mit den Menschen, mit den Vorräten, mit allem! Wer von uns würde wirklich „Nein“ sagen, wenn ihm so etwas angeboten würde? Die Versuchung ist groß, die eigenen Vorstellungen und Wünsche durchzusetzen. Manchmal auch gut gemeint. Immer wieder glaubten und glauben Menschen, Gottes Willen und seine Liebe dadurch umsetzen und durchsetzen zu können, dass sie die, die sie als Feinde Gottes ansehen, unterdrücken, misshandeln, vernichten. Macht ist erstmal aber gar nichts Schlechtes. Jeder hat Macht über andere. Kinder haben durchaus Macht über ihre Eltern. Schüler gegenüber ihren Lehrern. Eine Gemeinde gegenüber dem Pfarrer. So wie auch umgekehrt. In unserem Leben halten wir immer ein Stück des Lebens von anderen in der Hand. Die entscheidende Frage ist nicht, ob ich auf Macht verzichte, sondern ob ich Macht verantwortlich gebrauche. Nichts ist mein Eigentum. Schon gar nicht andere Menschen. Alles ist mir anvertraut. Ich kann es missbrauchen, ganz klar. Ich kann es aber auch gut gebrauchen. Jesus widersteht hier der Möglichkeit, das eigene Ich anzubeten, das andere zu bloßen Objekten macht, die mir und meinem Willen zu dienen haben. „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen“ - Dieser Satz Jesu vertreibt den Teufel endgültig. Weil er in gute, Leben schaffende und Leben ermöglichende Beziehung setzt. Weil er Leben nicht sich selbst überlässt, sondern weil durch den Bezug auf Gott deutlich wird, dass jeder zum Leben kommen soll, dass jeder gut leben soll - und nicht nur der, der seine Macht mit Gewalt durchsetzt.
Die Zeit vor Ostern ist Fastenzeit - wie wäre es denn, tatsächlich mal nicht in erster Linie von Süßigkeiten, Alkohol oder Zigaretten die Finger zu lassen, sondern Misstrauen zu fasten und dadurch Vertrauen neu zu finden. Die Versuchung, Macht zum eigenen Vorteil zu missbrauchen, zu fasten und dabei die Freiheit des Miteinanders und der Liebe Gottes zu allen Menschen neu zu entdecken. Ich wünsche uns eine frohe, Lust aufs Leben machende Fastenzeit, in der wir den Mut haben, behalten oder finden, zu dem zu stehen, der unser Leben auf einen guten Weg lenken will. Man gönnt sich ja sonst nichts!